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Kiran Klaus Patels Bestandsaufnahme Europas Zwischen Utopie und Bodenhaftung

Seit jeher ist Europa ein Fluchtpunkt für Projektionen. Dem Mythos zufolge hatte der Göttervater Zeus höchstselbst ein Auge auf Europa, die Tochter des phönizischen Königs Agenor, geworfen, bevor er das Objekt seiner Begierde mit einer List gewann. Täuschung und Raub erfüllten gewissermaßen die Funktion der Taufpaten für einen inzwischen zum Kontinent erklärten Erdteil. Der Mythos verlöre seinen Reiz, wenn er nicht mehrdeutig wäre, offen für alle Zeit. So haben sich an Europa die unterschiedlichsten Deutungen entzündet, es dient als Metapher für Geschlechterkampf und Landnahme, für Zweifel und letzte Gewissheiten, für die Spannung von Orient und Okzident.

Fern kulturgeschichtlicher Widersprüche gilt das Europa unserer Tage als politische Realität. Während ehedem das Orakel von Delphi den Verbleib der Königstochter klären sollte, sind nunmehr Brüssel, Luxemburg, Straßburg und Frankfurt am Main die Orte europäischer Richtlinienkompetenz. Zwar ist die politische Union nicht mit Europa gleichzusetzen, aber die Sachwalter der europäischen Integration halten diesem überschaubaren Einwand entgegen, dass er so alt ist wie das Projekt selbst. Habe doch Europa nach den apokalyptischen Erfahrungen zweier Weltkriege die historisch einmalige Chance auf politische Vereinigung ergriffen und nunmehr Frieden und Sicherheit, Wohlstand und Werte auf dem Kontinent verankert.

Genau an diesem Punkt setzt der deutsch-britische Historiker Kiran Klaus Patel in seinem Buch Projekt Europa an. Er möchte klären, »warum eine recht spezialisierte Organisation, die zunächst lediglich sechs westeuropäische Staaten umfasste, heute so häufig mit Europa als Ganzem gleichgesetzt wird«. Zudem räumt er gleich zu Beginn ein, dass »das überzogene Selbstbild der EU das heutige Krisenempfinden verschärft, weil für neu und bedrohlich gehalten wird, was es in ähnlicher Form schon zuvor gegeben hat«. Als zeitlichen Rahmen wählt Patel die Jahre von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) bis zum Vertrag von Maastricht, also die Zeit von 1951 bis 1992/1993. Beabsichtigt ist »eine kritische Geschichte«, so der Untertitel der Studie, die nicht in der Organisationsgeschichte verharrt, sondern die vermeintlich großen Erfolge hinterfragt.

Das Hauptargument Patels lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die großen Errungenschaften, die dem europäischen Einigungsprozess gemeinhin zugeschrieben werden, verdanken sich weniger der EU als vielmehr historischen Zufällen. So erwuchs die EU als Organisation aus der besonderen Konstellation des Kalten Krieges und stieg erst in den 70er und 80er Jahren zum »zentralen Forum internationaler Zusammenarbeit in Westeuropa« auf. Dabei spielte die europäische Agrarpolitik schon früh eine wichtige Rolle für den Frieden und die Sicherheit in Europa. Zugleich jedoch wird die Beschreibung der EU als Wertegemeinschaft durch den Befund gestört, dass sie früh mit Spanien unter General Francisco Franco, Griechenland unter den Obristen oder den sogenannten AKP-Ländern, also einer Gruppe zumeist undemokratischer afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten kooperierte. Der Luxemburgische Außenminister Jacques Poos sah die Stunde Europas 1991 anbrechen, als sich der Zerfall Jugoslawiens abzuzeichnen begann. Das überzogene Selbstbild, so arbeitet Patel überzeugend heraus, ist selbst Teil der europäischen Geschichte.

So einleuchtend Patel auch zeigen kann, dass die mit der EU verbundenen Errungenschaften nicht vorschnell mit dem Einigungsprozess in Verbindung gebracht werden können, so sehr verliert sich seine Argumentation vielfach in bloßem Abwägen oder sogar im Nebel der Verallgemeinerung. So sei etwa der Frieden in Westeuropa nicht »ursächlich« der EU zu verdanken, sondern habe sich im Rahmen des Einigungsprozesses »realisiert«. Eine wichtige Nuance, gewiss, allerdings weiß jeder Historiker, wie es um Ursachen in der Geschichte bestellt ist. So trübt sich die Differenzierung sogleich wieder ein. Zudem wird der Leser mehrfach belehrt, dass der Einigungsprozess »ein Projekt der Eliten mit einer stark technokratischen Dimension« gewesen sei, während er an anderer Stelle liest, die europäische Einigung stelle »keineswegs nur das Ergebnis von Verhandlungen zwischen Politikern und Spitzenbeamten« dar. In dieser Allgemeinheit wird man den Aussagen ebenso zustimmen können wie der Erkenntnis, dass sich »die europäische Integration der Nachkriegszeit aus vielen Quellen« speiste.

Insgesamt hebt sich Patels nüchterner Stil angenehm ab von den Elogen glühender Europa-Verfechter wie den polemischen Kritiken an der europäischen Integration. Bedauerlicherweise nähert sich seine »kritische Geschichte« vielfach eben doch einer nicht beabsichtigten Organisationsgeschichte und wartet neben einigen Stilblüten mit einem merkwürdigen Unwillen zu klarer Positionsbestimmung auf. Somit bleibt Europa weiterhin ein Mythos und Fluchtpunkt unserer Projektionen.

Kiran Klaus Patel: Projekt Europa. Eine kritische Geschichte. C.H.Beck, München 2018, 463 S., 29,95 €.

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