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Neue Bücher über Naturerfahrung Zwischen Wildnis und Zivilisation

Natur ist gefragt. Zwischen den Abenteuer- und Reiseberichten des Malik Verlags und dem Thema Naturschutz bei Oekom tut sich auf dem Sachbuchmarkt seit Langem ein weites und vielfältig bestelltes Feld auf. Seit fünf Jahren gibt Judith Schalansky bei Matthes & Seitz Berlin die Reihe »Naturkunden« heraus, die neben sachkundigen Monografien etwa über Schafe und Brennnesseln auch allgemeinere Werke umfasst, die in der von Henry David Thoreau inspirierten Tradition des »Nature Writing« stehen, in dem sich Anschauung und Philosophieren miteinander verbinden. Und so wie Thoreau nicht nur der Naturfreund vom Walden-See war, sondern auch ein Begründer des Konzepts vom »zivilen Ungehorsam«, so hat auch die Hinwendung zur Natur etwas eminent Politisches – als Absage an Zivilisation und Politik wie als Bekenntnis, als Maßstab wie als Ideal.

Für den zivilisationsflüchtigen Geistesmenschen Arno Schmidt und seine Tagebuch führende Frau Alice war die Natur 1948/49 nach Krieg und Vertreibung ein Rückzugsort, der zugleich manche Ergänzung zum kargen Leben und Speiseplan des angehenden Schriftstellerehepaars bot. Für die Gestalten aus Emily Ruskovichs Debütroman Idaho wird ein Berg in diesem US-Bundesstaat zum selbst gewählten Mittelpunkt einer tragisch kulminierenden Familiengeschichte. Eher am Rande wird vermerkt, wer sich alles dorthin zurückgezogen hat, als ein alter Nachbar den Familienvater in seinem Truck mitnimmt. Er ist freundlich und hilfsbereit, tier- und kinderlieb und trägt ein tätowiertes Hakenkreuz auf dem Handrücken. Nicht nur in den abgelegenen Bundesstaaten der USA gibt es eine Verbindung zwischen Naturnähe und politischem Extremismus.

Besonders die Deutschen haben zur Natur als solcher stets ein besonderes Verhältnis gehabt – oder glauben das zumindest. Das liegt nicht zuletzt daran, dass andere Völker diese Natur schon weitgehend unter sich aufgeteilt hatten, als sich in Deutschland erste und zaghafte Ansätze zu einer Art von Überseepolitik regten. So krankte die Kolonialpolitik, die Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, der »Große Kurfürst«, gegen Mitte des 17. Jahrhunderts an der indischen Koromandel- und der westafrikanischen Küste zu betreiben suchte, an einer augenfälligen Asymmetrie der Kapazitäten. Um das Jahr 1669 dürfte es in Europa etwa 25.000 seetüchtige Schiffe gegeben haben, von denen allein den Niederländern mit ihren großen Fischerei- und Handelsflotten rund 16.000 gehörten. Das waren deutlich mehr als die zwei Dutzend Segler Kurbrandenburgs.

Verlorene Paradiese

Aber was heißt das schon? »Wohl haben die großen altseefahrenden Nationen der atlantischen und Mittelmeerwelt vor dem zusammengepressten Bewohner Binneneuropas einen ungemeinen Vorsprung in Entdeckung und Bereisung fremder Länder«, schrieb Rudolf Borchardt im Nachwort zu seiner Anthologie Der Deutsche in der Landschaft und im Hinblick auf diese. Allein: »Aber was will das gegen die Fülle besagen, die wir haben zusammenbringen und vorlegen können? Was haben die alten Reiseliteraturen der beglücktern Völker zur Begründung plastischer Erdansicht, naturwissenschaftlicher Durcharbeitung der Voraussetzungen zu geographischer Begriffsbildung, zu geistiger Geographie, zur Zusammendenkung von Struktur des anorganischen und Decke des organischen Stoffes, und zu all dem unzähligen beigetragen, worin dies Buch, das zwar auch Reisestücke enthält, zwar auch unvergeßliche Tropenbilder, aber daneben die Seiten Goethes und Heinses, Träume neben Vesten, Gedichte neben erhabenen Verallgemeinerungen, – worin also es allerdings den ganzen Kreis der Schöpfung ausschreitet?«

»Zusammendenkung« der Natur als nationale, als spezifisch deutsche Leistung, das war schon zum Zeitpunkt des ersten Erscheinens 1927 ein problematischer Anspruch. Er ließ sich zwar innerhalb von Borchardts konservativer Kulturtheorie und Ästhetik erheben, doch nicht mehr vor dem Hintergrund der Erkenntnisse eines Charles Darwin oder Gregor Mendel, eines Albert Einstein oder einer Marie Curie. Was Borchardts Anthologie aus den Schriften Georg Forsters oder der Brüder Humboldt überliefert, hätte zum Beispiel in den Naturbetrachtungen, die der junge Weltreisende Charles Darwin als empirische Grundlagen seiner Evolutionstheorie zu Papier brachte, ein durchaus würdiges Gegenstück gefunden. Und die »erhabenen Verallgemeinerungen« eines Johann Wolfgang von Goethe hätten wohl kaum Schaden genommen, wenn man sie mit dem Stoßseufzer konfrontiert hätte, den Heinrich Heine einem deutschen Harzreisenden in den staunenden Mund legte: »Wie ist die Natur doch im allgemeinen so schön!«

Entzauberern und Ironisierern hat Borchardt den Zutritt zu seiner Sammlung verwehrt. Die Natur ist darin per e erhaben über alle Versuche, sie zu relativieren oder zu überbieten: »Ein Morgen war es«, so schreibt der junge Forster, »schöner hat ihn schwerlich je ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel Tahiti zwei Meilen vor uns sahen.« Wer wollte das infrage stellen? Allein schon deshalb nicht, um die beglückende Annahme nicht in Zweifel zu ziehen, dass es einen solchen Morgen einmal hat geben können.

Eben noch für die Feder eines Dichters kaum fassbar und jetzt bereits entdeckt, steht Tahiti seither als Sinnbild für das Paradiesische der Natur, das mit ihrer Entdeckung verloren geht. Der Vertrag, der Georg Forster an Kapitän Cook und dessen erdumspannende Explorationsreise band, ließ sich nicht kündigen, aber Borchardts Anthologie erweckt zumindest die Vorstellung, es wäre möglich gewesen, den »ganzen Kreis der Schöpfung« auszuschreiten, ohne andere dadurch zu ermutigen, Hand an dieselbe zu legen.

Dem modernen Lamento über die Entzauberung der Welt und den Verlust einer »unberührten« Natur liegt freilich ein religiöser Fehlschluss zugrunde. Natur ist nicht Ergebnis eines einmaligen Schöpfungsaktes, sondern ein fortwährender Schöpfungs- und Wandlungsprozess: »Wurzeln vervielfachen sich, Maiskolben schwellen am Stiel, Gras schießt in Saat, von Häuten geschützte Triebe brechen prall aus der Erde hervor; nasse Bisamratten, Kaninchen und Eichhörnchen gleiten wimmernd und blind ans Licht der Sonne«, schrieb Annie Dillard 1974 in ihrem Buch Pilger am Tinker Creek über ihre Beobachtungen an der Schwelle zwischen Wildnis und Zivilisation. Als junge Frau hatte sie sich für einige Zeit in eine Einsiedelei zwischen dem Fluss und den Blue Ridge Mountains Virginias zurückgezogen, um dem »Rätsel der fortwährenden Schöpfung und der Vorsehung« auf den Grund zu gehen. Das Ergebnis war ein Buch wie ein Fluss, dem niemand als die-/derselbe entsteigt.

Eines Tages beobachtet sie dort einen sehr kleinen Frosch, der plötzlich faltig zu werden beginnt und in sich zusammensackt: »Aus seinen Augen schwand das Lebenslicht wie ausgelöscht. Seine Haut wurde leer und schlaff; selbst sein Schädel schien einzufallen und sich flachzulegen wie ein umgetretenes Zelt.« Bald schwebt ein Teil seiner Haut auf dem Wasser, »formlos wie ein geplatzter Luftballon, bloß noch heller, treibender Glibber«. Dahinter gleitet langsam ein ovaler Schatten davon. Der Frosch ist Opfer einer Riesenwanze geworden, die ihm buchstäblich das Leben ausgesogen hat. Der Tod hat seinen Stachel gezeigt.

Die Natur kehrt zurück

Der Atheist Arno Schmidt hätte dies dem Leviathan zugeschrieben, jenem in seinem gleichnamigen Debütwerk von 1949 beschriebenem Schöpfer-Dämon, dessen perfide Grausamkeit jeder Theodizee spottet. Und doch erschienen ihm Wald und Wiesen weit angenehmer als die menschliche Gesellschaft der frühen Nachkriegsjahre. Die Wälder sind voller Pilze, aber wachsen Pilze nicht auf toten Bäumen? Und so naturnah das Leben der Schmidts rund um ihr Notquartier auf dem Cordinger Mühlenhof zunächst auch anmutet, hängt es doch an der Nabelschnur des transkontinentalen Postverkehrs. Es sind Carepakete oder »Meerkapete« – so die Familiensprache der Schmidts für Pakete aus Amerika – der Schwester Lucy, die ihnen das Leben als Schriftstellerehepaar und eine bescheidene Teilnahme am Schwarzhandel ermöglichen. Zigaretten und Kaffee werden verkauft, auch gebrauchte Kleidung, und all das hatte eine Reise hinter sich, von der ein Goethe nur träumen konnte.

Die Tagebücher der Alice Schmidt zeigen auch auf andere Weise die Absurditäten der Nachkriegszeit. Um dem Hunger zu trotzen, stehen die Schmidts nicht nur spät auf, sondern halten auch langen kaloriensparenden Nachmittagsschlaf – und betreiben gleichzeitig fern von Telefon und Postamt eine Korrespondenz im Dienst einer Biografie des Barons Friedrich de la Motte-Fouqué, bei der zuweilen Autografen verschickt werden, deren Versicherungswert ihr Jahreseinkommen um ein Vielfaches übersteigt.

Ähnlich absurd erscheint bisweilen das Bergleben der Helden von Emily Ruskovich. Ihr Waldgrundstück hatten sie von einem Mann erworben, der ihnen versicherte, die Straßen würden auch im Winter geräumt, weil dort ein Schulbus verkehre. Das aber war einmal, und als seine Frau schwanger wird, ist der Protagonist froh, eine Hubschrauberversicherung abgeschlossen zu haben, die ihren Transport in eine Klinik garantiert. So erlebt man ihn dabei, wie er den Wald, in den beide sich zurückgezogen haben, abholzt, um Raum für die Landung des Helikopters zu schaffen. In der Natur leben zu wollen, heißt eben auch, dort überleben zu müssen. Nirgendwo erlebt man die Nutzung bloßer Transporttechniken auf so brutale Weise, wie in jenen Teilen des amerikanischen Hinterlandes, die nur mit dem Allradfahrzeug oder dem Wasserflugzeug erreichbar sind.

Freilich herrscht auch hier ein Fehlschluss: dass nämlich Natur etwas ist, das jenseits der Stadtgrenzen und Gartenzäune liegt und dort liegen bleibt. Alexander von Humboldt begab sich bei seinem Aufstieg zum Chimborazo in akute Lebensgefahr, Georg Forster auf seiner Weltumseglung in eine permanente. Um es ihnen gleichzutun, sind selbst für den zusammengepressten Bewohner Binneneuropas weite Reisen heute nicht mehr nötig. Die lange Zeit ausgesperrte Natur kehrt zurück, bisweilen in extremer Weise. Verloren ist die Erhabenheit, die Riesenwanze bleibt.

Rudolf Borchardt: Der Deutsche in der Landschaft. Matthes & Seitz Berlin, 2018, Naturkunden No. 42, 552 S., 25 €. Annie Dillard: Pilger am Tinker Creek. Matthes & Seitz Berlin, 2016, Naturkunden No. 28, 347 S., 22 €. Alice Schmidt: Tagebücher der Jahre 1948/49. Suhrkamp, Berlin 2018, 210 S., 32 €. Emily Ruskovich: Idaho. Hanser, Berlin 2018, 384 S., 24 €.

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