Menü

Zwischenruf: Corona und ich

Ist es jetzt vorbei? Allein die Tatsache, dass ein Text mit dieser Frage beginnen kann, ist ein großer Schritt in die erhoffte Richtung. Es ist mir (und nicht nur mir) ein großer Wunsch, sie mit einem »JA« in Großbuchstaben, vielleicht noch von einem Ausrufezeichen gefolgt, zu beantworten. Da besteht jedoch die bedauernswerte Gefahr, Wunschdenken zu betreiben.

Zum Trost recherchiere ich einige Zitate zum Thema. Der griechische Philosoph Heraklit war der unbegründeten Meinung, dass es nicht gut sei, »wenn den Menschen alle ihre Wünsche erfüllt werden«. Der pragmatischere römische Realist Terenz hingegen sagte: »Da ja nicht geschehen kann, was ihr euch wünscht, so wünscht euch, was möglich ist.«

Heutzutage ist das offensichtlich leichter gesagt als getan. Ich erinnere mich an Joschka Fischers Antwort auf eine Journalistenfrage: »Alles ist möglich. Selbst dämliche Fragen wie Ihre.« Möglich ist also, dass Universitäten, Schulen, Kinos und Museen im neuen Jahr weiterhin offenbleiben. Möglich ist aber auch, dass Zoom-Konferenzen, inklusive Verbindungsstörungen und schlecht funktionierender Mikrofone bald ihr Comeback feiern. Es ist derzeit alles andere als einfach, Prognosen zu wagen, die ferner als bis übermorgen zu blicken versuchen.

Seitdem die bayerische Hauptstadt im Kontext des Oktoberfestes schlagartig die Inzidenz 1.500 erreichte, ist jedenfalls klar: Es ist weder vorbei noch unter Kontrolle. Gleichzeitig sind die bundesweiten Inzidenzen im Vergleich zu den beiden vergangenen Herbstsaisonen kontinuierlich auf dem Abstieg, das Gesundheitssystem ist diesmal kaum überlastet.

Durchblick behalten

Darüber, wie nun also zu handeln sei, wird gestritten. Einzelne Bundesländer, etwa Bayern und Baden-Württemberg, haben sich für den föderalen Sonderweg entschieden und heben nun die Isolationspflicht bei Infizierten endgültig auf. Berlin reagiert mit klaren Worten: Das sei »verantwortungslos« und »verfrüht«. Eine neue, gefährlichere Variante könnte jederzeit hinter der Ecke lauern. Darauf muss man vorbereitet sein. Auf der anderen Seite folgt man ausländischen Beispielen und erklärt die Pandemie de facto für beendet. Aufgabe der Bürger/innen ist es, den Durchblick zu behalten.

Bei der Maskenpflicht ist es nicht anders. Nach den gescheiterten Pflichtversuchen, wird nun der Weg der Eigenverantwortung eingeschlagen. Ob das zu größeren Erfolgen führt, werden wir sehen. Doch dafür müsste dem Begriff zunächst eine möglichst klare Definition beigelegt werden. Denn so wie die Realität derzeit aussieht, ist die Situation zum Scheitern verurteilt. Die noch bestehende Maskenpflicht in Bus und Bahn wird die Infektionszahlen der vollen Konzerthallen wohl kaum ausbalancieren können. Allein deswegen nicht, weil sie ohnehin nur von der Hälfte der Passagiere eingehalten wird.

Manche Expert/innen sagen plötzlich, das wäre ja in Ordnung. Wer möchte, könne sich weiterhin selbst schützen. Und ich dachte die ganze Zeit, die Maske wäre vor allem zum Schutz der Anderen nützlich. So wurde es zumindest irgendwann irgendwo behauptet. Was mich schon zum nächsten Thema bringt: Die Vergesslichkeit.

Zwei Jahre lang wurde die Pandemie von Intellektuellen, Journalist/innen, Virolog/innen und Politiker/innen aus unzähligen Perspektiven durchdekliniert. Doch als sie Ende Februar 2022 bei Lanz, Illner und Co. von Militärstrateg/innen abgelöst wurden, geriet das Thema in den Hintergrund oder zumindest in die zweite Reihe. Somit bekam auch ich das Gefühl, selbst das hartnäckige Coronavirus hätte vor Putin Angst bekommen und sich daraufhin respektvoll zurückgezogen.

Der kaum zu beneidende Bundesgesundheitsminister bleibt auf Twitter einer der Wenigen, die uns konsequent daran erinnern, dass die pandemische Lage weiterhin besteht, mit oder ohne mediale Aufmerksamkeit. In den Kommentarspalten lassen sich noch die letzten Scharmützel beobachten, allerdings zeugen auch diese von einer gewissen Resignation. Müde Rücktrittsaufforderungen, halbherzige Wutausbrüche und Lobeshymnen, pseudoromantische Danksagungen und unpassende Vergleiche mit Jens Spahn: alles mit dabei, nur keine ernstzunehmenden Inhalte.

Augen zu und durch

Das Interesse der großen Mehrheit, zu der ich mich übrigens dazuzähle, scheint hingegen verschwunden zu sein. In der Hoffnung, dass es sich irgendwie von allein lösen wird, drücken wir nun die Augen fest genug zu, um so gut es geht nach Status quo ante morbus zu handeln. Und wir vergessen zum Schutz der eigenen Psyche.

Noch vor einem Jahr redeten wir bis in den engsten Familienkern hinein über nichts anderes als Impfungen, »Weihnachten zusammen feiern oder nicht«, Lockdowns, »Wann ist der Albtraum endlich vorbei« und dergleichen. Sollte all das jetzt tatsächlich Geschichte sein, müssen wir uns wohl eingestehen, dass wahrscheinlich der Abwehrmechanismus der Verdrängung eingetreten ist. Das ist auch verständlich, hängen uns all die – ich sage es: todlangweiligen! – Debatten, diese viel zu vielen, redundanten, sich ständig wiederholenden Argumentationen, die wir als Nicht-Experten sowieso nur zum Teil einordnen können, doch längst zu den Ohren raus.

Eigentlich würde ein Rückblick in der Regel helfen, einige Zusammenhänge klarer zu erkennen. Doch die bisherige Pandemieerfahrung war, soweit ich mich erinnern kann, eher von Ambivalenzen, schnellen oder langsamen Dynamiken und Unklarheiten geprägt. Und einer durchaus fragwürdigen, überforderten, manchmal verzweifelten, reagierenden, nicht vorausschauenden, Wählerstimmen im Kopf habenden, bahnbrechenden Politik.

Daraus nun ein ausgewogenes Gesamtbild zu zeichnen ist eine Herausforderung. Nicht, weil sich die überwältigende Datenmenge schwer einordnen lässt. Auch dass COVID-19 nur schwierig mit anderen historischen Ereignissen vergleichbar ist, dürfte nicht der Grund sein und die Unvollständigkeit an Informationen schon gar nicht. Das Problem liegt auf einer ganz anderen Ebene. Einer, die uns auch lange nach der Pandemie begleiten wird. Nämlich, dass das gemeinsame Fundament über die letzten zwei Jahre hinweg gerade aufgrund der zu vielen Informationen, Interpretationen und Fake News abhandengekommen ist.

Helmut Schmidts Mantra, dass eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, keine sei, würden die meisten von uns vermutlich ohne zu zögern unterschreiben. Aber es kommt halt darauf an, worüber man streitet. Die Migrationskrise 2015 beispielsweise hatte bereits einen spaltenden Effekt. Es wurde viel gestritten, gab es doch zahlreiche Positionen dazu. Manche fand ich besser, andere nahezu abscheulich. Aber niemand stellte die Zahlen, die Tatsache, dass Migrant/innen ertrinken oder gar die Existenz des Mittelmeers fundamental infrage.

Der Anbruch der 20er Jahre, gepaart mit einem unsichtbaren Virus, brachte hingegen jenes grundlegende Novum mit sich: Corona war eine Kostprobe dafür, was im Jahrhundert der Postmoderne möglich ist. Alles nämlich. Eine gemeinsame Realität, die die simpelsten Tatsachen voraussetzt, wird zunehmend schwieriger erkennbar.

Obwohl Caesar bereits in De Bello Gallico schrieb, dass Menschen lieber das hören wollen, woran sie glauben, als die Wahrheit, sind die technischen Mittel für unzählige Paralleluniversen in ein und derselben Gesellschaft nun erstmal konkret gegeben. Dieses historische Phänomen wird auch nach der Pandemie ein Problem bleiben. Denn die Art und Weise, wie Politik und Wissenschaft in jüngster Vergangenheit kommuniziert wurden, zeigt offensichtliche Mängel auf. Die Konsequenzen davon kennen wir inzwischen alle.

Der Bestseller-Historiker Yuval Noah Harari ist der Meinung, 2050 wird sich kein Mensch mehr an die Coronapandemie erinnern. 2020 würde viel mehr als das Aufbruchsjahr der digitalen Ära gelten. Dem würde ich den Beginn postmoderner Fehlinformationen, oder eben paralleler Realitäten hinzufügen. Wenn es noch nicht zu spät ist, dann ist genau jetzt der Zeitpunkt, auf die lauten Warnsignale zu reagieren: Politik und Wissenschaft müssen in den schwierigen Zeiten, die vor uns liegen, einen gemeinsamen Weg finden, um niemanden zurückzulassen. Dafür muss sich ihre Kommunikationsstrategie so verändern, dass die Infragestellung ihrer Legitimation im Interesse von niemandem sein kann. Nur so können wir wieder zu einer gesunden Streitkultur gelangen.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben