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Zwischenruf: Donnernde Gewissheit 

»Das Vergangene ist nicht tot«, konstatiert Christa Wolf in Kindheitsmuster. »Es ist nicht einmal vergangen«. In der aktuellen Diskussionslage möchte man diese Einsicht all jenen entgegenhalten, die angesichts der Klarheit des Unrechts und der legitimen Empörung Hinweise auf Vorgeschichte, Kontext und Ursachen komplexer politischer Konflikte als entweder unwesentlich oder unmoralisch abtun. Nicht erst in diesen Tagen.

Ja: Ein Massaker ist ein Massaker ist ein Massaker und ein Zivilisationsbruch – sowie der ihn tragende Hass – brauchen klare Antworten statt Herumgedruckse. Anders als Leopold von Ranke meinte, ist schließlich nicht jedes historische Ereignis »unmittelbar zu Gott«. Auf die eigene klare Haltung dazu kommt es an. Doch selbst moralisch abscheuliche Taten – wie zuletzt der terroristische Gewaltausbruch aus Gaza – finden nicht in einem geschichtslosen Raum statt.

Gleiches gilt für den völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine und unerwartete politische Schocks wie das Brexit-Votum oder jüngere disruptive Wahlergebnisse europaweit. Bei jedem Ereignis gibt es eine Genese, die nichts entschuldigt, aber manches erklärt. Diesen Kontext sichtbar zu machen, ist analytisch entscheidend, wenn es um positive Perspektiven geht. Aber ist es nicht befremdlich, dass die Debatte einerseits allenthalben historische Verantwortlichkeiten beschwört – etwa bezogen auf kommende Generationen und den Klimawandel – aber sich im gleichen Atemzug an anderer Stelle immer wieder Analysen zeigen, bei denen Ereignisse ausschließlich als gewissermaßen frei im Raum schwebend hingenommen und nur aus der Gegenwart heraus betrachtet werden? Das Ausblenden von Zusammenhängen gilt immer häufiger nicht mehr als Manko, sondern als Beleg für besondere moralische Klarsicht – jedenfalls all den Kräften gegenüber, die im Diskurs ohnehin als »problematisch« markiert sind. 

»Ein Plädoyer für Verhältnismäßigkeit erscheint geradezu als Ungeheuerlichkeit.«

Dabei gerät das einst gerade auf der Linken gepflegte Bekenntnis zu einem »donnernden Sowohl-als-auch« aus dem Blick, zu dem sich nicht zuletzt Willy Brandt einst ganz bewusst bekannte. Statt »donnerndes Sowohl-als-auch« bleibt heute oft nur noch donnernde Selbstgewissheit – oder zumindest deren Zurschaustellung. Je kategorischer diese daherkommt, desto größer die Aussicht auf Beifall zumal im digitalen Resonanzraum. Gleich ob in der wichtigen Solidarität mit der Ukraine, mit Israel oder etwa mit den Leidtragenden der globalen Migrationsbewegungen: Angesichts schrecklicher Bilder erscheint ein Plädoyer für Verhältnismäßigkeit und strategisches Denken geradezu als Ungeheuerlichkeit. Die Dominanz des Moments befördert mittelbar immer wieder besonders drastische Reaktionen.

Ausblenden von Zusammenhängen

Auf politische Entscheidungssituationen bezogen gilt unter den Bedingungen der totalen Vernetzung mittlerweile zunehmend: Für das Ausscheren aus der Eindeutigkeit ist ein Preis zu entrichten. Nicht aber für das Mitziehen – und das Hinnehmen vermeintlicher Unausweichlichkeiten. »Nun sind sie halt da«, kommentierte die Bundeskanzlerin bekanntlich die Konsequenzen ihrer Migrationspolitik. Lässt sich das Ausblenden von Zusammenhängen besser auf den Punkt bringen? Zumal nicht zuletzt der Fall COVID zeigt: Als Rückversicherung bleibt immer noch die Aussicht auf eine nachträgliche gegenseitige Absolution, in der man sich mit Jens Spahn gesprochen »viel verzeiht«.

Sicher: Die Sehnsucht nach Haltung pur ist verständlich. Manche Diskussionen sind unerträglich. Empörung ist gerechtfertigt – und manchmal wäre geradezu ihr Ausbleiben ein Skandal. Das Problem ist, dass der Fokus auf eine vom Kontext entkoppelte Moral kaum noch Raum lässt für differenziertes Erklären. Auch so aber werden Nullsummen-Kalkulationen auf beiden Seiten der Konfrontation begünstigt. Denn Undifferenziertheit auf der einen kann der Radikalität der anderen Seite durchaus Vorschub leisten. Verlässliche Analyse muss deshalb mehr sein als Affekt und Verantwortung mehr als Verurteilung – so legitim und häufig wichtig beide auch sind. Der Versuch, das Unverständliche zu begreifen, ist ja eben kein Versagen, sondern die notwendige Ergänzung des moralischen Kompasses. 

Ist Kausalität schon Relativierung?

Galt nicht einst als ausgemacht, dass selbst abwegige Einwände den Prozess der Wahrheitsannäherung stärken, statt ihn zu schwächen? Ohne sie verwandeln sich Debatten rasant in die immer gleichen Umdrehungen der Echauffierungsspirale mit den immer gleichen Forderungen nach immer mehr vom Gleichen. Ist das Relativierung? Vielleicht. Doch das Gegenteil von Relativierung ist Absolutismus. Heute gilt streckenweise schon der Verweis auf Gründe, die andere anführen, als Legitimation des Unlegitimierbaren. In einer Weltsicht ohne Kausalität aber droht ein Begriff von politischem Konflikt, der in den Bereich des Mystischen entschwebt. Der Gegner gerät zum unerklärlich Bösen. »Why do they hate us«? 

»Historie gerät zur rein moralischen Instanz, vor derem eindeutigen Urteil es zu bestehen gilt.«

Die Folge ist ein Diskurs, in dem die Entrüstung des Augenblicks und die eigene Gewissheit konstant bleiben und sich nurmehr die Anlässe wandeln. Das Vergangene ist in dieser Auseinandersetzung zwar einerseits dauerpräsent, aber andererseits eben nicht mehr Herleitung einer komplexen Gegenwart. Die Historie gerät zur rein moralischen Instanz, vor derem eindeutigen Urteil es zu bestehen gilt, um »auf der richtigen Seite der Geschichte« zu stehen. Anstatt noch zu erinnern, dass auch die moralischen Maßstäbe westlicher Demokratien – und ihrer Verbündeten – immer wieder reichlich selektiv an- und ausgelegt wurden: Existiert nicht mittlerweile ein ganzes Arsenal von abwertenden Begriffen, mit denen je nach Krisenanlass im Gestus des Widerstandes gegen die abweichende Minderheit vorgegangen wird?

Im Getriebe der Eindeutigkeit wird übersehen, dass Erklären eben nicht gleichbedeutend ist mit Entschuldigen und dass Beschuldigungen manchmal nur wenig erklären. Denn wie ist sie denn tatsächlich, die Bilanz westlicher politischer Reaktionsmuster aus dem Affekt? In Wahrheit führte gerade die Gewissheit vergangener Krisenfälle häufig eher in eine Sackgasse als in eine Problemlösung. Die Debattenkultur würde deshalb von weniger Selbstgerechtigkeit und mehr Selbstkritik profitieren – und zwar auf allen Seiten.

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