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SPD-Parteitag und Koalitionsvertrag Zwischenruf: Ende offen

Die Zitterpartie der SPD zwischen Hoffen und Bangen, die den letzten Parteitag auf so einmalige Weise prägte, setzt sich auch nach dem dort mühsam errungenen knappen Abstimmungssieg für Martin Schulz, dem vorgelegten Verhandlungsergebnis für eine abermalige Große Koalition und dem inzwischen erfolgten Wechsel in der Parteiführung fast ungemindert fort. Gegenwärtig ist noch offen, ob der Mitgliederentscheid die quälende Unsicherheit beenden oder verlängern wird. Vielleicht wächst ja auch diesmal in der Gefahr das Rettende mit. Dazu gehören gewiss die ebenso leidenschaftlichen wie gründlichen Debatten dieses Parteitags mit so erfreulich vielen jungen Parteimitgliedern, die ihren Widerspruch zugleich sachlich und leidenschaftlich vortrugen. Eine mit Prädikat bestandene Bewährungsprobe in Sachen Demokratie – für die SPD selbst in ihrem Binnenverhältnis und in ihrer öffentlichen Rolle für die Gesellschaft. Seit das postmoderne »Team Lindner« mit witternder Ausschau nach ganz rechts das neue innerbürgerliche Projekt einer Jamaika-Koalition leichthändig entsorgt hatte, um sich ohne die Bürde staatspolitischer Verantwortung alle Möglichkeiten offenzuhalten, befand sich die SPD objektiv in einer Zwickmühle, in der sie sich dann durch subjektive Fehler vollends verfangen hat. All die trotz des gründlichen Wandels der Verhältnisse wiederholten Festlegungen gegen eine Regierungsbeteiligung unter der gefürchteten Überkanzlerin Angela Merkel haben ironischerweise dazu beigetragen, dass es schließlich keine wirkliche Alternative zu der verschmähten Großen Koalition mehr gibt – obwohl keiner der gewichtigen Einwände gegen sie entkräftet ist.

Kein Zweifel, die Absage an eine Neuauflage der GroKo nach der verheerenden Wahlniederlage war zwingend. Alles andere hätte den Eindruck vertieft, die SPD klebe auf unheilvolle Weise an der Macht, sogar in einer Lage, in der sie mit der Fortsetzung des bisherigen Weges ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzt. Die Argumente, die damals vom Parteivorsitzenden und von vielen anderen für den Gang in die Opposition ins Feld geführt wurden, sind alle noch stichhaltig. Das gilt vor allem für die Frage, ob der AfD das Feld dafür überlassen werden sollte, als größte Oppositionspartei im Parlament selbst und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ihr Profil zu schärfen, den politischen Ton in der Republik vorzugeben und sich als selbstverständlicher Teil des Parteiensystems zu etablieren. Es gilt für die glaubhafte Vermittlung des sozialdemokratischen Anspruchs, Regierungsteilhabe (also »Macht«) nicht um ihrer selbst willen anzustreben. Und es gilt vor allem für den vielfach zum Ausdruck gebrachten Willen, nach der historischen Wahlniederlage nun eine Erneuerung »des eigenen Ladens« vom Keller bis zum Dachboden in Angriff zu nehmen.

Nichts davon hat sich durch das Scheitern eines Koalitionsversuchs zwischen den bürgerlichen Parteien, zu denen sich nun offenbar mehr und mehr auch DIE GRÜNEN gesellen wollen, erledigt.

Der Verzicht der SPD-Führung, das ganze, teilweise groteske Geschehen um diesen halbherzigen Versuch herum durch eine angemessene Kommentierung zur Verbesserung ihrer Position zu nutzen und der zunehmend dominanten medialen Deutung entgegenzuwirken, nun sei sie allein in der Pflicht, die von den anderen verursachte Scharte umgehend wieder auszuwetzen, ist im Nachhinein nicht wieder gutzumachen. Diese grob falschen Deutungen gänzlich zu Lasten der SPD haben sich nun festgesetzt – bis hinein in die Reihen der eigenen Mitglieder. In dieser von ihr selbst mit geschaffenen Zwangslage sind die Karten inzwischen neu gemischt. Mittlerweile erscheinen Neuwahlen für sie als die bei Weitem riskanteste der noch verfügbaren Varianten. Dafür sprechen auch nach dem Wechsel im Parteivorsitz zu Andrea Nahles immer noch zwei gewichtige Gründe: Die SPD erscheint einmal als eine der Hauptverursacher der momentanen Misere und die verfügbare Zeit reichte selbst für einen ersten Ansatz zur Neuaufstellung der Partei in keiner Weise aus. Neuwahlen können jetzt keine sozialdemokratische Option sein – sie könnten zum Höllensturz werden. Das ist übrigens einer der Gründe, die bei allem Zähneknirschen jetzt doch für eine Große Koalition sprechen, denn in zwei Jahren, wenn die in den Verhandlungen vereinbarte Bilanz zwischen den Koalitionspartnern gezogen wird – mitsamt dem vertagten Thema der Zweiklassenmedizin – sind die Chancen ganz anders verteilt.

Für die CDU hingegen wäre die Aussicht auf Neuwahlen, wenn die SPD am Ende doch nicht mit ihr will oder kann, kein allzu großer Schrecken. Selbst weitere Stimmenverluste weisen in ihrem Falle ja nicht in Richtung Abgrund, sie bliebe immer noch die bei Weitem größte und damit das Spiel der Regierungsbildung bestimmende Partei. Da sie das weiß (und nach den Regeln der Spieltheorie auch weiß, dass alle anderen das ebenfalls wissen), hat sie keinen Grund, sich auf eine Minderheitsregierung einzulassen, bei der sie im Grunde ja nur verlieren kann. Sie könnte es beim Scheitern einer Großen Koalition notfalls auch auf Neuwahlen ankommen lassen. Für die SPD ergibt daher in der gegebenen Lage die Spekulation auf eine Minderheitsregierung der CDU/CSU keinen Sinn, ganz besonders auch deshalb nicht, weil die Hoffnung auf Sand gebaut ist, sie könnte in diesem eindeutig rechts geprägten Parlament an der CDU vorbei irgendetwas Sozialdemokratisches erreichen, das mit ihr aber nicht zu erlangen ist.

Jetzt gibt es keine ernsthafte Alternative zur Großen Koalition mehr. Aber es gibt eine andere Alternative, auf die in nächster Zeit alles ankommt, nämlich die Frage, ob der bisherige Weg eines Aufgehens der SPD in der gewählten Regierungskoalition fortgesetzt wird, bei dem sie für sich selbst nach innen wie für die Gesellschaft nach außen gar nicht mehr sichtbar ist; oder ob eine andere Strategie gewählt wird, die beides wirksam zusammenbringt: die verlässliche Kooperation mit dem Regierungspartner und die Selbstbehauptung der eigenen Identität im Inneren und nach außen: eine Art neue »Doppelstrategie«.

Die Risiken einer neuen GroKo werden also durch die Chancen ausbalanciert, die der Zeitfaktor bietet, wenn er denn entschieden zu etwas Neuem genutzt wird. Die Voraussetzungen dafür sind nicht schlecht. Der erzielte Koalitionskompromiss ist in seinem sozialen Gehalt für Sozialdemokraten gut vertretbar, weist aber an markanten Stellen wie von selbst über sich hinaus. Das ist ganz auffällig bei der offenen Wunde Zweiklassenmedizin. Er enthält Dutzende von kleinen sozialen und gesellschaftspolitischen Fortschritten, in denen das Große der sozialdemokratischen Grundwerte durchaus sichtbar wird. Er könnte in seiner europapolitischen Perspektive die gebeutelte EU wieder auf die Füße bringen und die Rolle der Bundesrepublik in ihr rehabilitieren. Und er enthält anders als bei der letzten Großen Koalition mit der unsinnigen Maut-Idee der CSU keine Zumutungen – außer natürlich durch seine vielen Lücken. Unter Normalbedingungen wäre dies eine anständige Basis für einige Jahre gedeihlichen Mitregierens der SPD. Aber die Messlatte für die Partei ist diesmal durch die Versäumnisse und Widersprüche in den letzten Monaten sowie die geschärfte Wahrnehmung von Großen Koalitionen als nahezu tödliche Bedrohung kräftig in die Höhe gerutscht. Darum wird die Kritik an dem respektablen Verhandlungsergebnis trotz der fehlenden Alternative wohl nicht verstummen. Warum sollte es nicht möglich sein, diese Kritik, wenn denn die neue Koalition wie zu erwarten ins Leben tritt, als produktive Kraft zur Schärfung und Vermittlung der Identität der Partei auch als Regierungspartner zu nutzen?

Schon die Debatte auf dem Parteitag hat ja drei Dinge zutage treten lassen. Erstens: Das Dilemma der Sozialdemokratie ist objektiv – es gibt in der momentanen Lage nur noch problematische Auswege. Zweitens: In der Partei meldet sich eine sehr engagierte junge Generation entschieden und kompetent zu Wort, die im Gegensatz zu früheren Zeiten nicht ideologisch selbstfixiert ist, sondern loyal mit guten Argumenten zu streiten versteht – ein Glück für die SPD und eine Ermutigung für die Zukunft. Und drittens: Nahezu die Hälfte der Parteimitglieder glaubt gegenwärtig nicht, dass selbst ein in achtbarem Ausmaß sozialdemokratisch profiliertes Regierungsprogramm in einer Koalition unter Angela Merkel der Königsweg für die Partei aus der absoluten Gefahrenzone ist. Die Debatte wird also weitergehen. Sie sollte nun als ein Beitrag zur Gesundung der Partei und Klärung ihres politischen Selbstverständnisses angenommen und weitergeführt werden. Schon allein dies, also der Neuaufbau einer loyalen Streitkultur, die in der SPD seit Längerem eingeschlafen war, könnte ein wichtiges Stück ihrer angestrebten Erneuerung sein.

Das Schicksal der Partei, wenn sie denn das Mandat ihrer Mitglieder für eine Regierungsbeteiligung unter den gegenwärtig erreichbaren Bedingungen noch einmal erlangt, hängt davon ab, ob es ihr diesmal gelingt, ihre Rolle als Junior an der Macht anders zu bestimmen als beim letzten Mal. Das zeigt ein historischer Rückblick auf den SPD-Erfolg in der ersten Großen Koalition. Der damalige Parteichef und Vizekanzler Willy Brandt wirkte in den Jahren des Mitregierens seiner Partei unter einem CDU-Kanzler sowohl durch seine Strahlkraft wie durch die von ihm vorangetriebene neue Politik in Inhalt und Stil wie ein Versprechen auf die Vorzüge einer sozialdemokratisch geführten neuen Regierung. Seine weiter weisenden Signale in der Friedens- und Gesellschaftspolitik konnten nicht als Bruch der Loyalität mit dem führenden Regierungspartner gebrandmarkt werden. Er hatte damit großen Erfolg. Es war die Fähigkeit, die politische Identität der eigenen Partei auch in einer Großen Koalition auf attraktive Weise im öffentlichen Bewusstsein lebendig zu halten, die sie für die Sozialdemokratie zum Sprungbrett in Richtung Mehrheitspartei werden ließ. Das ist für die SPD die eigentliche Alternative, um die es jetzt geht: die Brandtsche Strategie.

 

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