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Zwischenruf I: Brief an die Älteren

Liebe Alte,

nichts liegt mir ferner, als Euch dafür verantwortlich zu machen, dass wir immer noch in einem System leben müssen, das auf massive Ungleichheit, Ausbeutung und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen aufgebaut ist. Ihr wart genauso wenig von den systemischen Sachzwängen ausgenommen, wie wir es heute sind. Aber eine Frage habe ich dennoch: Warum wehrt Ihr Euch so oft gegen Veränderung? Kaum etwas trennt mich und Euch so sehr wie Euer Bestreben, den Status quo zu verteidigen.

Bei vielen politisch-kulturellen Themen vor allem, sei es die sexuelle Orientierung und die Genderidentität, Klimaaktivismus, Antirassismus und Dekolonisierung oder die soziale Umverteilung, sind es vor allem ältere Menschen, die konservative Positionen vertreten. Was ich damit meine? Es sind Meinungen, die vielleicht vor einigen Jahrzehnten sogar mal progressiv gewesen sein mögen. Aber zu viele von Euch wenden sich jetzt doch ab, wenn wir Jüngeren versuchen, den Weg zu einer freien, selbstbestimmten Gesellschaft radikaler und weiter zu gehen, als Ihr ihn gegangen seid. Und wenn wir dann auch einfordern, dass die Gesellschaft sich konsequenter zu ändern bereit ist, als sie es bisher war.

Es stimmt, das ist als Generationenthema an sich nicht neu. Ronald Inglehart beschrieb schon 1977 in The Silent Revolution das Phänomen eines Wandels von Werten in industrialisierten westlichen Gesellschaften vor dem Hintergrund eines umfassenden kulturellen Wandels. Während schon damals für ältere Generationen materialistische Werte wie ein gutes Einkommen und allgemeine Sicherheit besonders wichtig waren, priorisierten Jüngere postmaterialistische Werte wie Selbstverwirklichung, Freundschaften und zunehmend auch eine gesunde Umwelt, selbst wenn es zulasten des eigenen Lebensstandards geht.

Auch die meisten von Euch gerieten irgendwann vermutlich auf die eine oder andere Weise in Konflikt mit der Generation der Eltern. Manche waren Teil der 68er-Generation und rebellierten selbst gegen eine Gesellschaft, in der ehemalige Nazis nach dem Krieg weiter Karriere machen konnten. In den 70ern ließet Ihr Euch die Haare lang wachsen und wurdet dafür als Gammler beschimpft. Manche unter Euch waren vielleicht Punker oder Rocker und wandten sich gegen Konservativismus und paternalistische Autorität. Und doch erlebe ich Euch heute eher als Bremsende, wenn nicht gar als Blockierende.

Auch wenn so tiefe moralische Gräben wie zwischen den Generationen des Nachkriegsdeutschlands wohl nicht mehr bestehen, ist deshalb das Potenzial für Konflikt noch immer vorhanden. Ihr seid für Klimaschutz, aber Ihr haltet an Euren Besitzständen und Gewohnheiten fest. Ihr sagt, Ihr seid für die Gleichberechtigung aller Menschen, aber Euch stört es, wenn wir die jetzt auch in der Alltagssprache praktizieren. Ihr sagt, Ihr lehnt Rassismus ab, aber Ihr seid viel zu oft immer noch unsensibel, wenn es um – letztlich rassistische – Alltagsdiskriminierung geht.

»Warum hinterfragt Ihr Euch nicht auch mal selbst?«

Warum hinterfragt Ihr Euch nicht auch mal selbst? Es scheint wie unveränderbar zu sein, dass wir Jungen die Ungerechtigkeiten der Welt sofort verändern wollen und Ihr das skeptisch seht. Habt Ihr das früher eigentlich so vorausgesehen? Habt Ihr Euch vorstellen können, dass Ihr selbst es mal sein werdet, die vor allem Beständigkeit und Sicherheit schätzen? Ihr werdet vielleicht bestreiten, dass Ihr heute so seid. Aber so erlebe ich Euch. Obwohl ich Euren tendenziellen Konservativismus also erklären kann, stört er mich doch.

Ich muss an dieser Stelle einräumen, dass meine eigene Meinung wahrscheinlich nicht repräsentativ für junge Menschen in Deutschland ist. Ich bin vielleicht zu stark in meiner linken Bubble eingeschlossen, habe jedenfalls selten persönlichen Kontakt zu jungen Menschen, die konservative oder ausdrücklich rechte Ansichten vertreten. Und die vergangene Bundestagswahl hat ja gezeigt, dass die FDP bei den Jungen nur ganz knapp hinter den Grünen lag.

Meine Sicht auf Euch Ältere ist deshalb vermutlich radikaler als bei vielen anderen in meiner Generation und ich beanspruche nicht, für alle zu sprechen. Nichtsdestotrotz erleben wir ja immer wieder, welche Akzente die Alten setzen. Und selbst bei denen, die sich selbst als links beschreiben, bemerke ich dieses quälende Unverständnis für die politischen und sozialen Themen meiner Generation. Selbst wenn wir uns bei vielen traditionellen linken Themen mal mehr oder weniger einig sind, beispielsweise in Fragen eines Gegensteuerns gegen die ständige Umverteilung von unten nach oben: Manche feministische und antirassistische Position löst bei Euch häufig doch Kopfschütteln aus.

Vielleicht ist das wirklich eine kulturelle Kluft. Vielleicht stimmt auch, dass wir kritischen Jungen – nur eben radikaler – letztlich auf dem fußen, wofür Ihr einst gekämpft hattet. Häufig bekomme ich dann aber von älteren Menschen nur zu hören: »Wir haben schon so viel erreicht. Die heutige Situation ist, jedenfalls bei uns hier in Deutschland, abgesehen von einigen unschönen Ausnahmen, doch akzeptabel für alle.«

Aus Eurer Perspektive drückt sich da vermutlich auch ein anderer Generationenkonflikt aus: das Gefühl, dass die Errungenschaften der Vergangenheit, für die viele damals auf die Straße gingen und sich unermüdlich einsetzten, heute geringgeschätzt werden. Was einst das Resultat von politischem und sozialem Aktivismus war, wird von uns heute als selbstverständlich wahrgenommen. Insofern sind wohl auch beide Perspektiven wichtig, um das mangelnde Verständnis füreinander zu überwinden: Wir haben schon einen weiten Weg hinter uns, hin zu einer gerechteren Gesellschaft. Aber es liegt doch noch ein riesiges Wegstück vor uns.

Und wir Jungen leben in einer zentralen Hinsicht nun wirklich in einer völlig anderen Welt als die, in der Ihr erwachsen wurdet. Der rasante Fortschritt der Informationstechnologie unterwirft alle einem derart hohen Tempo der Veränderung, dass es schwerfällt, Schritt zu halten. Meine Eltern wuchsen in einer Umgebung auf, die sich zwar kulturell und sozial schon recht stark von der Gesellschaft unterschied, in der meine Großeltern aufgewachsen waren. Aber in mancherlei Hinsicht hatte es da doch noch eine relativ große Kontinuität gegeben.

»Meine Generation wächst in einer Umwelt auf, die technologisch nur noch wenig mit Eurer zu tun hat.«

Meine Generation wächst in einer Umwelt auf, die technologisch nur noch wenig mit Eurer zu tun hat. Ich glaube, dass gerade deshalb viele von Euch so schwer verstehen, wie viele von uns denken und fühlen. Fast jeder Bereich des Lebens wird jetzt von Digitalität bestimmt. Wir kaufen ein über das Internet, wir kommunizieren über das Internet, wir suchen unsere Unterhaltung im Internet, wir verlieben uns sogar im Internet. Das alles wird natürlich nicht exklusiv von jungen Menschen getan, aber die Natürlichkeit, mit der digital natives die neuen Technologien nutzen, unterscheidet sich von den Gewohnheiten derer, die erst als Erwachsene Smartphones und das Internet kennenlernten.

Ich möchte nicht behaupten, dass eine größere Affinität zum Umgang mit digitalen Technologien die bessere Lebenseinstellung sei. Ganz im Gegenteil sehe ich diese starke Intimität vor allem junger Menschen insbesondere mit Social Media sehr kritisch. Die heutige Aufmerksamkeitsökonomie in Verbindung mit der ständigen Verfügbarkeit von leicht berieselnder Unterhaltung in Form von TikTok, Instagram und YouTube hat verheerende Auswirkungen auf unsere Fähigkeiten zur Konzentration und zum Durchdringen von komplexen Zusammenhängen. Aber all das macht uns – die Jungen und die Alten – sehr verschieden.

In diesem Sinne bin ich manchmal fast neidisch auf Euch, die Ihr ohne Social Media und Playstations aufgewachsen seid, dass Ihr (Stimmt das eigentlich? Mir zumindest scheint es so...) echte Langeweile verspüren durftet. Junge Menschen müssen sich heute nie mehr langweilen. Sobald unangenehme Gefühle aufkommen, verspricht der Griff zum Handy niedrigschwellige Betäubung. Vermutlich idealisiere ich da die prä-digitale Zeit, aber es war vielleicht doch die authentischere menschliche Existenz.

Vermutlich weiß ich auch nicht genau, wovon ich rede, wenn es um Euch Ältere geht. Aber habt Ihr schon mal den Gedanken gehabt, dass Ihr das auf uns bezogen auch nicht wisst. Und dass Ihr deshalb gründlich danebenliegt, wenn Ihr jetzt ziemlich flächendeckend behauptet, wir Jüngeren hätten keine Arbeitsmoral mehr? Was ein freies Leben wirklich ist: Auch darum geht es bei diesem Thema Arbeit. Und wenn ich Euch nun sage, dass wir Jungen uns von Eurer Generation zu oft unter falschen Arbeitsdruck gesetzt fühlen (zum Beispiel in den Studienplänen an der Uni), werdet Ihr vielleicht wieder nur überlegen schmunzeln. Aber seht, genau dieses Schmunzeln trennt uns.

Es fällt oft schwer, in diesen schnelllebigen Zeiten den Überblick zu behalten. Was gestern noch state of the art war, ist heute schon antiquiert. Ich glaube, die Geschwindigkeit der Veränderung heutzutage löst bei vielen, denen diese Technologien fremd sind, eine tiefe Angst davor aus, die Welt nicht mehr zu verstehen und selbst nichts mehr beitragen zu können. Diese Angst drückt sich in genau dem Festklammern am Alten aus, über das ich gesprochen habe.

Vermutlich würde es uns allen, unabhängig vom Alter, guttun, tatsächlich mal zuzuhören. Aber wo kann man das überhaupt noch, selbst wenn man es wollte? Besonders in den emotional stark aufgeladenen Debatten unserer Zeit glauben wir Jungen sicher zu oft, dass wir schon alles Relevante wissen würden und uns unser Gegenüber nichts mehr erzählen kann. Wenn wir uns allerdings öffnen, müssen wir auch Umgekehrtes erwarten dürfen.

Wie offen seid Ihr für uns, wie offen wollt Ihr überhaupt sein? Ein wenig ehrliche Neugierde wäre da ja manchmal schon hilfreich. Und sei es nur darauf, herauszubekommen, ob uns wirklich so viel trennt.

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