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Charlie Chaplin in "Modern Times" (1936) © Wikimedia Commons

Warum unsere Gesellschaft so gestresst ist Zwischenruf: Kollektives Burnout-Syndrom

So viele Menschen wie noch berichten nie von einem immer größer werdenden Zeitdruck, den sie verspüren, von Stress und Zukunftssorgen. Die in Studien gemessene Ängstlichkeit eines Kindes ist heute höher als die Werte, welche psychisch Erkrankte in den 1950ern angaben. Die Auswirkungen sind auch für unser Gesundheitssystem spürbar: Immer mehr Menschen leiden an stressbezogenen Erkrankungen wie Depressionen oder Bluthochdruck. 

Die Einflüsse auf unser Stressempfinden, sogenannte Stressoren, haben sich in den letzten Jahren deutlich gewandelt – dazu kam eine geringere soziale Verbundenheit. Dabei sind es gerade die Sozialen Medien, die unsere Wahrnehmung von unserer Position in einer Gruppe beeinflussen: Zwar sind Instagram & Co. Kanäle der sozialen Interaktion , dennoch fühlen wir uns paradoxerweise ohne sie zugehöriger mehr zugehörig.. Likes und Kommentare erzeugen zwar viele lose Verbindungen („bridging“ ist der Fachterminus), aber wenig bedeutsame zwischenmenschliche Interaktionen („bonding“).
Auch die Medienberichterstattung kann ein äußerer Stressor sein. Im Vergleich zu einem Leben vor Digitalisierung und Globalisierung mit einer Berichterstattung von überwiegend lokalen oder nationalem Interesse , erhalten wir heute rund um die Uhr Live-Updates von Konflikten und Tragödien weltweit. Studien nach großen Terrorangriffen wiesen psychische Folgeerkrankungen nicht nur bei den vor Ort Anwesenden, sondern auch bei Menschen nach, die das Geschehen mehrere Stunden wöchentlich medial verfolgten.

Um Wege aus dieser Stress-Epidemie zu finden, hilft ein Blick darauf, warum Stress überhaupt entsteht. In evolutionärer Betrachtung ist Stress eine Überlebensstrategie.  Sah sich der Homo sapiens der Steinzeit bei seiner beschwerlichen Suche nach Nahrung plötzlich  einem Säbelzahntiger gegenüber, dann reagierte der Körper reagiert unmittelbar: durch Aktivierung des Sympathikus, dem stressvermittelnden Teil unseres unbewussten Nervensystems. Der Puls steigt, die Muskeln werden besser durchblutet, die Verdauung wird heruntergefahren –  der Körper wird in einen Fluchtmodus versetzt; der Gefahr entkommen und wieder in der sicheren Höhle angekommen, geht der Sympathikus in den Ruhemodus ein und sein Gegenspieler, der Parasympathikus wird aktiv: Der Puls und die Atmung werden wieder langsamer, die Verdauung wird aktiver. Wir kommen zur Ruhe. Das Stressmoment hatte einen klaren Anfang und ein klares Ende und hat uns als körperliche Reaktion auf äußere Gefahren vor dem Tod bewahrt.

Die Flucht vor wilden Tieren gehört nicht mehr zu den Stressoren der heutigen Zeit. Moderne „Säbelzahntier“ heißen Arbeit, Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder ständiger (Medien-)Input von allen Seiten. Die körperliche Reaktion ist jedoch genau die gleiche wie bei unseren Ahnen aus der Steinzeit: Der Sympathikus versetzt uns in Alarmbereitschaft – mit zwei großen Unterschieden: Zum einen lassen sich unsere heutigen Herausforderungen selten mit „Fight or Flight“ lösen, zum anderen nehmen diese oftmals kein schnelles Ende. Wenn in drei Wochen eine Deadline ansteht, stellt das Verlassen des Büros am Abend kein Erfolgserlebnis wie das Entkommen vor dem Tiger dar. Mit der Folge, dass wir  auch am Abend noch unter Stress stehen. Unsere eigentlich für wenige Minuten ausgelegte Stressreaktion zieht sich über Wochen hinweg. Mit gravierenden psychischen und physischen Folgen

Die Antwort klingt erst einmal simpel: i Wenn wir am Ende eines Arbeitstages nicht nur den PC sondern auch den Sympathikus herunterfahren,  dann können wir auch in längeren Stressphasen zur Entspannung finden. Dafür gibt es mehrere Wege.
Einer davon ist Sport. Nur wenige Maßnahmen zur Stressreduktion sind so gut belegt wie körperliche Aktivität, insbesondere Ausdauersport. Mit Blick auf unsere Vorfahren liegt dies nahe: Während wir beispielsweise joggen, stellt uns der Sympathikus die nötigen Reserven bereit. Zuhause danach unter der Dusche wird der Sympathikus heruntergefahren – und zwar auf ein deutlich niedrigeres Level als  vor dem Sport.
Auch Methoden, die Achtsamkeit fördern, also unsere Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt und unseren Körper lenken, sind nicht nur hilfreich für eine  nachhaltige Stressreduktion sondern verbessern auch unseren Umgang mit belastenden Situationen. und unsere Konzentrationsfähigkeit; Bildaufnahmen des Gehirns belegen diesen Effekt.

Die Forschung der letzten Jahre hat zu einem besseren Verständnis der Entstehung, der Folgen und der Prävention von Stress und stressbedingten Erkrankungen geführt. Es wird Zeit, dass diese Erkenntnisse auch in unser Bildungswesen und unsere Gesetzgebung Einzug halten.
Die Wissenschaft zeigt, dass eine frühe gesundheitliche Aufklärung nicht nur die Erkrankungsraten reduziert, sondern auch kostengünstiger ist als die Therapie dieser  Erkrankungen. Warum kein eigenes Schulfach für kindgerechte gesundheitsfördernde Aufklärung inklusive Techniken der Stressbewältigung.

Auch unser Arbeitsleben ließe sich gesünder gestalten. Der Produktivitätszugewinn der letzten Jahrzehnte ermöglicht es uns, mit einem Bruchteil des Arbeitseinsatzes  bessere Ergebnisse zu erzielen. Warum folgt daraus nicht, dass wir weniger Zeit fürs Arbeiten aufwenden? Seit der Einführung der 5-Tage-Woche durch Henry Ford im Jahre 1926 hat sich vieles in der Arbeitswelt verändert, doch die Belastung hat nicht abgenommen. Immer mehr Menschen priorisieren in Umfragen mehr Freizeit über eine Gehaltserhöhung, immer mehr entscheiden sich in den letzten Jahren für eine Teilzeitanstellung. Es wird Zeit für einen Arbeitsmarkt, der an die Möglichkeiten und Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts angepasst ist.

Spätestens in der Pandemie haben wir gemerkt, wie essenziell es ist, Gesundheit über die reine Existenz als arbeitsfähiges Wesen zu stellen. Und selbst wenn wir nur auf die Arbeitsfähigkeit abstellen: In unserer heutigen komplexen Welt brauchen wir (seelisch) gesunde Arbeitnehmer*innen, wenn die Arbeit gut gemacht sein soll. Mentale Gesundheit sollte aktiv als ein  gesellschaftliches Ziel verstanden und verfolgt werden, das  nicht „von allein“ zu haben ist. Wir haben das Wissen, wir haben die Möglichkeiten – setzen wir diese nun um.
 

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