Liebe Lesende, nicht ohne Grund sitzt Wilhelm von Humboldt auf der Titelseite dieses Heftes mit dem Schwerpunkt »Bildung neu denken«. Er prägte einen Bildungsbegriff, der über die bloße Ansammlung von Wissen hinausgeht und die Selbstbildung – die individuelle und freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Auseinandersetzung mit sich selbst – in den Mittelpunkt stellt. Diese Idee hat seither Generationen inspiriert und war auch Ausgangspunkt unserer Überlegungen als stipendiatisches Redaktionsteam.
Doch wie steht es um dieses Ideal in einer zunehmend schnelllebigen, unsicheren und polarisierten Welt? Welche Rolle spielt Bildung heute, da sich Meinungen immer mehr zu konkurrierenden Weltanschauungen verhärten? Denken wir über zwei Beobachtungen nach, bei denen Humboldt an seine Grenzen stößt.
»Unter dem Einfluss der Polarisierung entgleitet die Bildung der Individualität leicht in die Egozentrik.«
Unter dem Einfluss der Polarisierung entgleitet die Bildung der Individualität leicht in die Egozentrik. Wenn der anregende Austausch frei denkender Menschen in absolute Aussagen eskaliert, werden aus Brücken schnell Mauern und aus Meinungen verhärtete Positionen. Diese Entwicklung beobachten wir gesamtgesellschaftlich beispielsweise in der Etablierung ideologisch aufgeladener Parallelgesellschaften, in kultischen Zügen noch junger politischer Bewegungen oder auch im Hang zur Klientelpolitik. Am Ende droht der Verlust des Gemeinsinns und die Destabilisierung der demokratischen Ordnung.
Als Reaktion auf diese Fragmentierung sucht insbesondere die politische Linke Hoffnung in der politischen Bildung. Sie soll flicken, was zerbrochen ist. Sie soll Menschen Werkzeuge an die Hand geben, um komplexe Zusammenhänge zu verstehen und demokratische Werte zu verteidigen. Sie soll die Demokratie vor den Gefahren des Rechtsrucks und der Erosion ihrer Strukturen bewahren. Und hoffen nicht viele sogar, dass politische Bildung kompensieren kann, was im Prozess der Individualisierung an Gemeinschaft verloren gegangen ist?
Angesichts der jüngsten Wahlergebnisse fragen wir uns, ob politische Bildung ihre Wirkung verfehlt. Ja, weil sie große Teile der Bevölkerung schlicht nicht erreicht. Sie ist oft zu akademisch, zu verkopft und damit zu weit weg von den konkreten Lebenswelten der Menschen. Sie ist voraussetzungsvoll, weil sie nur dann wirken kann, wenn sie auf Menschen trifft, deren Lebensumstände es erlauben, sich auf ihre Inhalte, auf eine unvermeidliche Ambivalenz und auf andere Perspektiven einzulassen. Diese Realität müssen wir akzeptieren, um uns dann neu orientieren zu können.
Eine weitere Grenze sehen wir in den starren Strukturen unserer Bildungssysteme. Sie folgen oft dem Prinzip der Massenproduktion, bei dem alle Lernenden ein mehr oder weniger identisches Programm durchlaufen. Durch die starke Systematisierung der Bildung verlieren wir die individuellen Fähigkeiten und Talente einer materiell, kulturell und sprachlich sehr heterogenen Bevölkerung aus den Augen. Damit konterkarieren wir die moderne Idee, durch Bildung universelle Chancengleichheit herzustellen.
»Gerade jungen Menschen muss Raum gegeben werden, sich selbst und ihre Talente vorurteilsfrei zu entdecken.«
Wir wollen hier einen Impuls geben, mehr Flexibilität im Bildungssystem zuzulassen. Gerade jungen Menschen muss Raum gegeben werden, sich selbst und ihre Talente vorurteilsfrei zu entdecken. Eine frühzeitige und differenzierte Förderung von Begabungen kann hier eine entscheidende Rolle spielen. Dabei geht es uns nicht um die Förderung einer akademischen Elite, sondern um die materielle und intellektuelle Befähigung aller, ihr individuelles Potenzial voll auszuschöpfen. Darin sehen wir den Schlüssel für eine zukunftsfähige Bildungslandschaft.
Bildung neu denken heißt, in diesen ambivalenten Beobachtungen von zu viel und zu wenig Individualität keinen Widerspruch zu sehen. Nach der intensiven Arbeit am Schwerpunkt dieses Heftes schlagen wir vor, Bildung als dynamisch anzuerkennen. Sie ist ein unabgeschlossener und kritischer Prozess des Wachsens und Lernens, der sich von der Kindheit bis ins hohe Alter erstreckt.
In dieser kritischen Bildung als politische Bildung liegt dann auch das sozial-emanzipatorische Moment, das bei Humboldt noch im Hintergrund bleibt. Für die Soziale Demokratie muss dies ein Ansporn sein, denn Freiheit, Gleichheit und Solidarität können nur angestrebt und erreicht werden, wenn ihnen eine solche Grundbildung den Weg bereitet.
Max Benz-Kuch, Leo Buddeberg, Vera Katarzyna teHeckelmann, Frederik Kampe, Nils Kumar, Viktoria Peter, Leon Syllidis, Marlene Walther
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