Verständnislosigkeit und Verachtung: Auf diese Empfindungen wird man die Reaktion progressiver Kreise auf Bekenntnisse zur nationalen Identität in der Regel eindampfen können. Nation? Relikt und ideologische Zeitbombe. Düsteres Echo, das tief aus dem Dunkel der Vergangenheit eine leuchtende Zukunft überschattet.
Sicher: Als Impuls ist das zunächst naheliegend. Infolge der deutschen historischen Katastrophenerfahrung entfaltet das von John Lennon in Verse gegossene: »Imagine there’s no countries« in der Bundesrepublik noch immer eine ganz eigene Wirkung. Nicht zuletzt eine der Entlastung. Wer wollte ernsthaft eine Neuauflage der toxischen Teutonen-Hybris herbeifabulieren? Und es ist ja gut auch psychologisch erforscht: Nationalen Empfindungen wohnt eine Ambivalenz inne, die nur zu reibungslos zum Ausleben noch der niedersten Herdeninstinkte aktiviert werden kann. Die Leichenberge des 20. Jahrhunderts belegen es. Skepsis also ist und bleibt legitim.
»Die Gefahr der Instrumentalisierung und Verzerrung wohnt jedem denkbaren politischen Wert inne.«
Aber: In dieser Sicht wird geflissentlich ausgeblendet, dass die Gefahr der Instrumentalisierung und Verzerrung jedem denkbaren politischen Wert innewohnt, wie nicht zuletzt etwa die vergleichbar hohen Leichenberge des revolutionären Internationalismus bezeugen. Selbst mit »Liebe Deinen Nächsten« lässt sich prächtig in den Krieg ziehen und nicht einmal den so häufig besungenen Regionen ist eine Friedensgarantie implantiert. Denn auch das vor-nationale Europe war schließlich alles aber kein Hort des harmonischen Ausgleichs. Auf die Bedingungen und die Ausrichtung kommt es deshalb an und auf das genaue Hinschauen – nicht auf pauschale Abgesänge.
Zugleich aber ist zu fragen, wie überzeugend ein vollumfängliches Abwenden von allem, was mit der Nation zu tun hat, heute noch sein kann. Der Chauvinismus – immer wieder auch nationalistisch eingefärbt – ist weltweit auf dem Vormarsch, das ist richtig. Und weite Teile auch demokratischer Öffentlichkeiten setzen auf einen Rückzug aus den Zumutungen einer immer komplexeren Welt in die vermeintlich sicheren Gefilde vertrauter Überschaubarkeit.
Kein Wohlfahrtsstaat ohne Nationalstaat
Doch benötigen in einer solchen Ausgangslage nicht gerade progressive Kräfte das Vehikel einer weltoffen ausbuchstabierten Nation zur Verteidigung fortschrittlicher Politikentwürfe und zur Addressierung der Unwägbarkeiten? Sicher, die Herausforderungen der Gegenwart sind längst global, weshalb es globale Zusammenarbeit braucht, kein Abfeiern egoistischer Alleingänge. Und doch spricht einiges dafür, dass gerade progressive Kräfte eine weltoffen ausbuchstabierte Vorstellung der Nation zurückerobern und in ihr politisches Denken integrieren sollten, um zentrale politische Vorhaben wirksam umsetzen zu können. Zusammenhalt, soziale Gerechtigkeit, das Primat der Politik vor der Ökonomie, die Erfassung und Repräsentation politischer Präferenzen sowie das Eintreten für Freiheitsrechte dürften auf absehbare Zeit ohne die nationale Ebene der Umsetzung schlicht nicht zu haben sein.
Denn Solidarität und Demokratie haben geschichtlich wie konzeptionell ja nicht nur eine abstrakt gedankliche, sondern eine ganz konkret ausgeprägte institutionelle Form gefunden: den demokratisch legitimierten Nationalstaat. Nur hier ist das Aushandeln politischer Kompromisse bislang über den engen Kreis der Partikularinteressen hinaus routiniert bewerkstelligt worden. Und nur hier gelingt auch heute die Organisation substanzieller Umverteilung über ideologische, regionale und religiöse Gräben hinweg. Ein knappes Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Entwicklungshilfe – das wird beschämend kontrovers diskutiert. 40 Prozent Einkommensteuer für Rentenzahlungen an Unbekannte: im Rahmen der Nation eine Selbstverständlichkeit. Imagined Communities – in der Tat. Aber eben Communities, in denen die Krankenkassen die Arztrechnungen erstatten und sich die Solidargemeinschaft um Bedürftige kümmert – nicht nur der Familienverband. Sollten wir nicht auch einmal über diese Art der Output-Legitimation sprechen?
Denn weltweit existieren zwar durchaus Nationalstaaten, die sich nicht als Wohlfahrtsstaaten verstehen, doch es existiert schlicht kein Wohlfahrtsstaat, der sich nicht zugleich als Nationalstaat entwirft. Das aber ist kein Zufall, sondern legt den Schluss nahe, dass das Abräumen nationaler Identitäten mit der Abrissbirne auf eine Abwicklung der gesellschaftlichen Bedingungen hinauslaufen könnte, die die Errungenschaften progressiver Politik historisch überhaupt erst möglich gemacht haben.
»In der Verknüpfung von Identität und Territorium liegt die politische Wirksamkeit der Nation.«
Nur im Nationalstaat gelingt zudem bislang dauerhaft und responsiv die Abbildung demokratisch erfasster politischer Präferenzen. In der Verknüpfung von Identität und Territorium liegt gerade auf der nationalen Ebene die politische Wirksamkeit der Nation. Denn es ist ja nicht die Glaubensgemeinschaft oder dynastischer Gehorsam, die politisch wirksam werden, sondern zum Glück der demokratisch konstituierte Nationalstaat, in dem sichergestellt wird, dass Politik den Wünschen des Souveräns entspricht.
Ein progressiver Nationenbegriff muss diese Muster anerkennen und nutzen, anstatt jedes nationale Sentiment als falsches politisches Bewusstsein zu bekämpfen.
Wer ist das »Wir«?
Denn auch progressiv ist ja zu fragen: Wer ist das »Wir«, auf das sich die Politik bezieht? Wer ist das »Wir«, das in der Zeitenwende verteidigt wird? Wer ist das »Wir«, auf das sich die Appelle gesellschaftlicher Solidarität beziehen? Wer ist das »Wir«, in das politische Integration in Zeiten von Massenmigration gelingen soll? Sicher ist es auch das des heimischen Kiezes und das der Menschheit und ganz sicher auch das »Wir« Europas. Aber die politisch handlungsstärkste und öffentlich nach wie vor verbreitetste Ebene der nationalstaatlichen Identität kann hier nicht allen Ernstes einfach ausgeblendet werden, ohne dafür einen Preis zu bezahlen. Gemeinschaft ist nicht optional. Das Bedürfnis nach ihr wird auf die eine oder andere Art Erfüllung suchen. Auch deshalb braucht es in Zeiten, in denen Gesellschaften multiethnischer und multireligiöser werden, das Integrationsangebot einer weltoffenen Nation. Zusammenhalt, Gemeinsinn und Respekt benötigen ein Format der Gleichheit, das auf der politisch wirksamsten Handlungsebene bislang nur in Form der Nation als Demos zur Verfügung steht – nicht als ethnische Wagenburg, sondern als zukunftsgerichtetes Projekt einer Bekenntnisnation.
Sicher: Könnte man nicht? Sollte man nicht? Müsste man nicht? Diese Fragen sind und bleiben legitim. Doch ebenso legitim ist und bleibt eine klare auch nationale Beantwortung. Denn für die Hoffnung, dass sich die im Gewand der Nation etablierten Solidaritäts- und Partizipationsmechanismen ohne Weiteres auf eine globale Ebene verlagern ließe, gibt es keine historischen Beispiele.
»Die Konsequenz des Endes der Nation wäre nicht universeller Humanismus, sondern Tribalismus und Atomisierung.«
Zu befürchten ist vielmehr, dass eine anhaltende progressive Abwicklung des Nationsbegriffs realiter eben nicht auf den Triumph weltbürgerlicher Ideale hinausliefe, sondern eher auf die Überwindung progressiver Handlungsfähigkeit. Die Konsequenz des Endes der Nation wäre nicht universeller Humanismus, sondern Tribalismus und Atomisierung. Denn wer die Nation zu überwinden trachtet, mag hoffen, dem Militarismus und dem Egoismus den Boden entziehen zu können. Doch dieses berechtigte Anliegen ist eben – wenn zu pauschal betrieben – zugleich in der Wirkung auch die Überwindung der einzig vollumfänglich demokratisch legitimierten und handlungsfähigen politischen Organisationseinheit, die gerade der Linken zur Verfügung steht.
Friedensschluss mit nationalen Identitätsmustern
In diesen turbulenten Zeiten sollten gerade progressive Kräfte die politischen Realitäten akzeptieren und die Identitätsentwürfe, die aus gutem Grund nach wie vor am stärksten öffentlich Verbreitung finden, ernst nehmen, akzeptieren und – ja – eben nicht einfach der politischen Konkurrenz überlassen. Nicht zufällig belegt die Meinungsforschung immer wieder, dass die Abkehr von jeder Idee der Nation eines der Themen ist, an denen progressive Parteien den Bezug zu gesellschaftlichen Mehrheiten verlieren. Um diese Entkoppelung zu überwinden aber braucht es keine saisonalen Lippenbekenntnisse sondern einen wirklich glaubwürdigen Friedensschluss auch und gerade der fortschrittlichen Kräfte mit alltagsrationalen nationalen Identitätsmustern.
Das gilt in Wahlkampfzeiten gerade für eine Soziale Demokratie, die Respekt, Handlungsfähigkeit und ein Eintreten für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu ihrem Markenkern zählt. Progressive Politik in und für Deutschland braucht ein Deutschlandbild, das über Skepsis und Naserümpfen hinausgeht. Die Linke braucht die Nation – daran wurde in diesem Text erinnert. Zugleich aber benötigt ein fortschrittlicher Nationsbegriff den Einsatz der Linken. Denn nur sie kann verhindern, dass die Idee der Nation ins Reaktionäre umschlägt. Die Nation ist deswegen keine pauschal zu überwindende Altlast, sondern eine entscheidende politische Kategorie, mit der auch progressive Kräfte Frieden schließen sollten. Denn »vaterlandslose Gesellen« war stets ein Rufmordversuch von Rechtsaußen, nicht das Selbstverständnis der deutschen Sozialdemokratie.
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