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Die Geschichte eines alltäglichen Begriffs Alles ist Klima

Wir kennen inzwischen den Unterschied zwischen Wetter und Klima. Vielleicht sind wir sogar ein bisschen stolz darauf, unterscheiden zu können zwischen dem kalten, stürmischen Tag heute und der langfristig ermittelten Durchschnittstemperatur, dem Klima. In unserem heutigen Verständnis besteht Klima vor allem aus Daten, Statistik und Mathematik und bleibt dadurch abstrakt. Erst wenn sich dieses Klima in einem extremen Wetterereignis wie einem Starkregen, der Autos und Hausrat wegschwemmt, niederschlägt, nehmen wir es sinnlich wahr. Bei solchen Wetterkapriolen und -Katastrophen assoziieren wir vielleicht Stichworte wie Klimawandel oder Klimaschutz, ebenfalls eher abstrakte Begriffe, jedenfalls so lange, wie wir nicht unmittelbar davon betroffen sind. Unser Blick auf das Klima ist durch die naturwissenschaftliche Perspektive verengt. Von diesen Überlegungen ausgehend entfaltet die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn ihre Wahrnehmungsgeschichte »Klima«, die ausdrücklich keine Klimageschichte sein soll. Es geht ihr darum, Klima aus einer historischen, kulturellen und sinnlichen Perspektive zu betrachten.

Klima als geografischer Begriff

In der Antike war Klima vor allem ein geografischer Begriff. Er bezeichnete den Neigungswinkel der Sonne auf einem bestimmten Ort. Und mit diesem Ort waren dann auch Witterungsverhältnisse verbunden: Luft, Winde, Wärme, Feuchtigkeit: Elemente, die sich mischen, die sich mal mehr oder weniger angenehm anfühlen. Diese Sphärenwelt umhüllte die Menschen, die in ihr lebten. Atmosphäre war also nichts Äußerliches. »Omnia mutantur, nihil interit«, alles verändert sich, nichts vergeht, dichtete Ovid in seinen Metamorphosen. Wer so denkt, fragt nicht, was Klima ist, sondern wie es wirkt und was es bewirkt. Klima hilft zu unterscheiden: »Andere Lüfte, andere Sitten«, so Eva Horn. Ein solches Klimaverständnis könne Mentalitäten prägen und Temperamente, Wissenschaft, Kunst und Kultur.

In neun Kapiteln erkundet die Autorin Auswirkungen von gesunden und krankmachenden Lüften, thermischen und politischen Anthropologien, lokalen und planetarischen Perspektiven auf das Klima. Das liest sich weitgehend fesselnd und lehrreich. Interessanterweise ist die Literaturgeschichte bis in die Neuzeit (Robert Musil) überreich an detaillierten Erkundungen von Klimata und Wetterereignissen.

Als wichtigsten und ältesten Begriff der meteorologischen Medizin identifiziert Horn »Miasma«, der auf Hippokrates zurückgeht. »Miasmen sind schädliche Ausdünstungen des Bodens oder stehender Gewässer, Produkte von Fäulnis­prozessen oder stark riechenden Substanzen, Exhalationen von Menschen wie Tieren – Dünste also, die sich in die Luft eines Orts mischen.« Luftangst kannte noch das 18. und 19. Jahrhundert; nicht nur die Angst vor giftigen Ausdünstungen, sondern auch vor zu viel sozialer Enge. Der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter hat darüber vielfach räsoniert. Und in den Gemälden des englischen Künstlers William Turner türmt sich unsichtbare Luft zu düsteren Wolken und bedrohlichen Lüften: Rauch, Dampf, Feuer, Nebel und Dunst beherrschen seine Bilder. Auch das 21. Jahrhundert hat Luftangst kennengelernt und pragmatisch mit Schutzmasken bekämpft  – während der Coronapandemie.

In Thomas Manns Tod in Venedig entdeckt Eva Horn nicht nur eine Reise- und Ansteckungsgeschichte, sondern auch eine Luft- und Wettergeschichte. Jedes Kapitel zeigt sich von einer anderen Wetterlage und Atmosphäre geprägt. Der wetterfühlige Protagonist Aschenbach, der sich in den Jungen Tadzio verliebt hat, stirbt schließlich an der Cholera, während die Behörden die Epidemie mit Hinweisen auf den grassierenden Scirocco zu vertuschen versuchen. Die Raffinesse der Erzählung liege darin, dass sie zwischen der alten Miasmenlehre und der modernen Infektionstheorie balanciert.

»Das heutige Verständnis des Klimasystems erinnert an die antike Lehre von den vier Elementen.«

Eva Horn will ausdrücklich kein Buch über den Klimawandel vorlegen. Das gelingt ihr allerdings nicht, weil es gar nicht gelingen kann. Über 50 Mal erwähnt sie den Begriff. Und, wie sie selbst konstatiert: erst mit dem Klimawandel kehrt der alte, sehr viel reichere Begriff vom Klima wieder zurück. Das heutige Verständnis des Klimasystems als Zusammenspiel von Atmosphäre, Wassersphäre, Boden- und Biosphäre erinnert an die antike Lehre von den vier Elementen. Von Ovid bis Johann Gottfried Herder: Es ist eine Atmosphäre, die alle Lebewesen umgibt, »alles auf unserer Kugel steht in gemeinsamer Verbindung«.

Und erst recht die zeitgenössische, moderne Klima-Fiction-Literatur (Cli-Fi) postuliert, wo sie klug formuliert ist, ein verändertes Verhältnis zur Welt. Sie versteht, wie schon Ovid, Leben als immer verbunden mit anderem Leben. Wie es keinen Ort gibt, der nicht über das Klimasystem mit anderen Orten verbunden wäre, »ist alles was existiert, Teil eines fließenden, turbulenten und fragilen Raums aus Wasser, Erde, Luft, Energie und Leben, der den gesamten Planeten überzieht.« Dieses letzte Kapitel »Luftverbunden« ist Horns instruktivstes Kapitel, weil es der Autorin gelingt, damit den Kreis zu schließen. Insgesamt also ein anregendes, gut geschriebenes Buch, das noch besser sein könnte, wenn die Autorin etwas den Fuß vom akademischen Gaspedal genommen hätte.

Einen betont unterhaltsamen Schreibstil pflegt indessen der dänische Molekularbiologe Nicklas Brendborg, der mit seinem letzten Buch Quallen altern rückwärts etliche Buchpreise gewonnen hat. Sein neues Buch Gewohnheitstiere versucht, an diesen Erfolg anzuknüpfen. Im Zentrum stehen sogenannte »Superstimuli«. In freier Wildbahn bebrütet beispielsweise die Vogelart Austernfischer instinktiv die größeren Eier. Dieser angeborene Instinkt kennt allerdings keine Grenzen. Legt man einem Austernfischervogel ein riesiges Gipsei ins Nest, wird er versuchen, dieses zu bebrüten, und die eigenen Eier links liegen lassen.

Mensch kann sich darüber natürlich leicht lustig machen. Doch nüchtern betrachtet lässt sich die angebliche Krone der Schöpfung ähnlich leicht täuschen wie der Austernfischer. Im Supermarkt bevorzugt unsere Spezies auch »Superstimuli« und greift gerne zu optimierten Lebensmitteln: Chips beispielsweise, die mit viel Zucker, noch mehr Salz und weiteren scharfen Gewürzen verführerisch gut schmecken, aber niemals satt machen. Oder zu Eiscreme, die mit Keksstückchen, Schokoladensplittern und Karamellsoße zur Kalorienbombe aufgepeppt ist. Füttert man Versuchstiere wie Mäuse oder Ratten mit solcher Cafeteria-Nahrung, entwickeln sie in kürzester Zeit Fettleibigkeit. Menschen ebenfalls.

Toxische soziale Medien

Zucker wirkt auf die gleiche Weise auf das menschliche Gehirn wie Kokain, führt Brendborg aus. Und es wird nicht überraschen, dass auch das THC im Cannabis und auf Opioide basierende Schmerzmittel wie OxyContin superstimulierend wirken und damit süchtig machen können. Interessanterweise bedienen sich aber auch die sogenannten sozialen Medien superstimulierender Mechanismen: »Diese Apps beabsichtigen nicht, Ihnen Inhalte zu zeigen, die Sie glücklich machen oder Ihre Stimmung heben. Eine der Erkenntnisse, die wir über soziale Medien gewonnen haben, lautet, dass fröhliche Nutzer nicht unbedingt die engagiertesten sind.« Diese Medien spielen also bewusst mit den Ängsten und Frustrationen ihrer User.

»Der Mensch ist Teil der Natur und steht nicht außen vor.«

Spätestens hier verliert Brendborgs Erzählton seine Flapsigkeit. Denn zahlreiche Studien belegen, dass die zunehmenden Probleme von Jugendlichen seit 2012 damit zusammenhängen. Insbesondere Mädchen und jungen Frauen entwickelten häufiger Angstzustände, Depressionen und begingen Selbstverletzungen, je leichter sie Zugang zu sozialen Medien hätten. Dafür ist wahrscheinlich ein Phänomen verantwortlich, das die Psychologie »aufwärts gerichteter sozialer Vergleich« nennt. Dieser habe nicht nur kulturelle, sondern auch biologische Ursachen. Mit einem gewichtigen Unterschied: In den sozialen Medien ist die ganze Welt Teil der »Konkurrenz«. Doch unser Gehirn funktioniert größtenteils nach dem Prinzip »Was man sieht, ist alles, was es gibt.« Folglich sei es ein Leichtes, sich im Vergleich mit den Schönsten und Erfolgreichsten der Welt stets auf der Verliererseite wiederzufinden. Auch Brendborg zeigt einmal mehr: Mensch ist Teil der Natur und steht nicht außen vor.

Der Altmeister der angelsächsischen Soziologie, Richard Sennett, reflektiert in seinem neuen Buch »Der darstellende Mensch« über Kunst, Leben und Politik. Als junger Mann hatte er Cello studiert, an der renommierten Juilliard-School, dann aber musste er seine künstlerische Karriere aufgeben wegen einer Verletzung an der Hand. Seine besondere Ausstrahlungskraft als Autor gewinnt Sennett durch seine Begabung, scheinbar mühelos Zeiten und Räume zu verbinden. So fühlt er sich beispielsweise bei einer Tagung von Leugnern des Klimawandels im Trump International Hotel an die Claqueure im Theater des 19. Jahrhunderts erinnert, die damals einige Mühe hatten, die Schranken des höflichen bürgerlichen Anstands zu überwinden. Doch wenn diese Schwelle erst einmal überschritten war, brachten sie das Publikum zum Toben. So erlebte er auch die jungen Leute im Trump Hotel: Am Buffet waren sie noch freundlich gewesen und hilfsbereit, doch dann »spien sie Gift und Galle«.

»Masken spielen auch in der Politik eine wichtige Rolle.«

In Sennetts Buch begegnet uns auch die Miasmen-Theorie aus Horns Klimastudie wieder. Während der Pest-Epidemie in Venedig glaubte man, dass die Pestkranken die Ärzte mit ihrem Atem anstecken konnten. Deshalb mussten die Ärzte Schnabelmasken tragen. Sie sollten verhindern, dass sie verpestete Luft einatmeten. Diese Masken eignete sich dann im sechzehnten Jahrhundert die Commedia dell’arte an, und verwandelte die ursprünglich furchterregende Figur zu einer lustigen Gestalt. Masken sind seit der Antike nicht nur ein wichtiges Theaterrequisit, auch in der Politik spielen sie eine wichtige Rolle. Darauf wies bereits Machiavelli in seiner Abhandlung über den Fürsten hin. Ein Herrscher, der überleben wolle, müsse ein guter Schauspieler sein. Will er hinter den Kulissen ungehindert agieren, müsse er vor den Kulissen unberechenbar erscheinen, damit seine Untertanen dadurch abgelenkt seien. Deshalb, so Sennett, treffe die Charakterisierung nicht zu, Donald Trump sei ein Machiavellist, denn während nach Machiavelli ein Fürst seine Masken nach Belieben wechselt, glaube Trump an seine Fantasien und stecke in einer einzigen Rolle fest.

In gewisser Hinsicht ist Sennetts Buch paradox. Immer wieder zeigt er sich skeptisch gegenüber dem Wort und kontrastiert hierzu Gesten und nonverbale Kommunikation auf der Bühne und im Konzertsaal. Ausdrücken kann er das aber nur durch niedergeschriebene Worte. Dennoch beschert sein Streifzug durch die Jahrhunderte ein großes Lesevergnügen.

Eva Horn: Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 616 S., 34 €.

Nicklas Brendborg: Gewohnheitstiere. Wie Industrie und Wissenschaft unsere Instinkte manipulieren. Quadriga, Köln 2024, 320 S., 24 €.

Richard Sennett: Der darstellende Mensch. Kunst, Leben, Politik. Hanser, Berlin 2024, 288 S., 32 €.

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