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Emanuel Richters Thesen zur »Seniorendemokratie« Altern als demokratischer Gewinn

Das Alter ist tückisch ­– wer definiert es überhaupt, welche Zuschreibungen existieren und welche Rollenmodelle hält diese Lebensphase in einer Gesellschaft bereit, deren »Leitbild eine allseits praktizierte Alterslosigkeit« ist? Wo und wie werden alte Menschen in der Politik sichtbar? Diese Fragen wirft der Aachener Politikwissenschaftler Emanuel Richter in seinem Buch Seniorendemokratie. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik auf.

In vier Kapiteln analysiert Richter die Probleme, die sich aus der demografischen Entwicklung mit der zunehmenden Lebenserwartung ergeben, stellt Altersbilder ebenso vor wie den vorherrschenden Jugendkult, beleuchtet das bislang schwache politische Profil der Senioren und skizziert abschließend sein Konzept »Demokratie statt Demenz«. Zunächst aber präsentiert er die Fakten: In Deutschland werden im Jahr 2050 mindestens 35 % der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein (derzeit 28 %). Ein Mensch, der altert, dessen Leistungsfähigkeit nachlässt und der für den Arbeitsprozess nicht mehr vermittelbar ist, erfährt auch eine politische Diskriminierung. Mit dieser Mischung aus Definition und These verdeutlicht Richter zum einen, dass er die Überalterung der Gesellschaft als Problem ansieht. Wer nicht mehr produktiv sei, gelange an den Rand der politischen Aufmerksamkeit und werde vom Wohlfahrtsstaat im Zweifel als Problemfall angesehen. Böte eine verstärkte politische Partizipation der Senioren nicht gerade die Chance, die Demokratie am Leben zu halten?

Ein Paradox der skizzierten demografischen Entwicklung stellen die »allgegenwärtigen Senioren« in einem extrem arbeitszentrierten Gesellschaftsmodell dar: »Der Prozess des Alterns wird unter dem Erwartungsdruck eines lebenslangen Arbeitens verleugnet, er wird zur Scheidelinie zwischen Erfolg und Scheitern.« Die Praxis unablässiger Aktivität bedeute, die Überalterung zu verdrängen. Ja, die Arbeitsgesellschaft führe letztlich zu einem »Verschwinden des Alters«. Das »active ageing« weitet den produktiven Lebensabschnitt aus, die spezifischen, traditionellen Konturen des Alters gehen verloren. Wer permanent aktiv und agil ist, versucht eben auch, die individuellen Alterserscheinungen zu bekämpfen. Hier wird Richter ideologisch: Nordic Walking und andere Phänomene des modernen Unruhestands sind ihm Zeichen eines disziplinierten Selbstmanagements, »einer für die kapitalistischen, technologisch ausgerichteten Industriegesellschaften typische Verfügungsphantasie«. Bewusstseinsmanipulation statt Eigengestaltung – die Senioren erwiesen sich am Ende selbst als die eifrigsten Betreiber einer Kultur des Juvenilen, wie der Autor, Jahrgang 1953, meint. Auch wenn die Übergänge zwischen freier Selbstentfaltung und zwanghafter gesellschaftlicher Konformität fließend seien, unterlägen die Senioren einem Anpassungsdruck an uniforme Leitbilder, die nur vermeintliche individuelle Emanzipation versprächen. Resultat sei eine alterslose Gesellschaft. Das »Problem der Überalterung« – so Richters These – werde kaum debattiert, zugespitzt formuliert: Das Alter verschwinde als soziale Kategorie aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung und aus der wissenschaftlichen Bewertung.

Partizipation und Repräsentation

Weiterbeschäftigung im Alter und das Propagieren lebenslangen Arbeitens verhindere gerade eine politische Tätigkeit in der Altersphase: »Marktbürger werden kaum zu profilierten Staatsbürgern«, konstatiert Richter und fordert, die Erwartung von individueller Produktivität solle nicht allein darauf zielen, dass Senioren zur eigenen materiellen Versorgung oder zur arbeitsmarktpolitischen Kompensation beitragen, sondern dass ihre politischen Gestaltungskräfte freigesetzt würden. Dem stehen allerdings die manifesten Statusunterschiede zwischen wohlhabenden und armutsgefährdeten Senioren entgegen – viele ältere Frauen und auch Migrantinnen und Migranten zählen zu letzteren. Ihre Partizipationsmöglichkeiten bleiben begrenzt, wie insgesamt die sozial Schwachen, die schlecht Qualifizierten und die Kranken bei der bereits erwähnten alterslosen Betriebsamkeit auf der Strecke bleiben. Das Armutsrisiko unter den Senioren in Deutschland wächst: 2005 lag es bei 10,7 %, 2017 bei 16 %, was dem Durchschnitt in der Gesamtbevölkerung entspricht. Zugleich ist die Wahlbeteiligung der 60- bis 69-Jährigen konstant überdurchschnittlich. Als Altersgruppe können sie also bei Wahlen mehr politischen Einfluss nehmen. Wie könnte diese politische Teilhabe aussehen und offen darüber diskutiert werden, ohne in Diskriminierung zu verfallen?

Mit der Maxime »Das Alter und die Alterung sind hoch bedeutsam und gehen uns alle an« sensibilisiert Richters Buch für die Lage und die Belange der älteren Generationen. Der Autor will beides – breitflächig zur politischen Partizipation ermuntern und eine ausgewogene politische Repräsentation erreichen. Zwei Trends führt er an: Die Zufriedenheit unter den Ruheständlern hat sich zwischen 1983 und 2007 fast verdoppelt. Auch die Quote für gesellschaftliches und politisches Engagement ist gestiegen, wobei sich bessergestellte und gebildetere Senioren besonders beteiligen. Allerdings ist das Senioren-Engagement geringer als das der 14- bis 29-Jährigen oder der 30- bis 49-Jährigen und meist auf Aufgaben der freiwilligen Selbsthilfe gerichtet. Richter warnt, dies könne zu einer Art kostensparendem Outsourcing von Staatsaufgaben führen. Die um 1970 aufgekommenen Seniorenbeiräte und auch kommunale Seniorenbüros sind unterdessen eine fest etablierte Form der Selbstrepräsentation und der Beteiligung, mehrere Bundesländer haben ein sogenanntes »Seniorenmitwirkungsgesetz« entwickelt. In Mecklenburg-Vorpommern tagen sogenannte »Altenparlamente«. Der Weg von der wohlfahrtsstaatlichen Selbsthilfe zur Erweiterung der politischen Partizipation ist also nicht weit, erfordert jedoch nach Richters Überzeugung zunächst eine gruppenspezifische Gleichheitspolitik, um von Altersarmut bedrohten Senioren überhaupt Freiräume für politische Tätigkeit zu verschaffen.

Richter plädiert für eine generationenübergreifende, von aktiven Senioren getragene Politisierung, die nicht auf Seniorenthemen begrenzt bleibt. Könnte dies zu einer Dominanz der Alten, zur Vergreisung der Demokratie, zu einer Herrschaft der agilen Ruheständler führen? Die Konfliktlinien zwischen den Generationen mögen so sichtbarer werden, aber sind die europäischen Gesellschaften nicht eben deshalb friedlicher als andere, weil sie, wie Gunnar Heinsohn meinte, »vergreisen«? Richters Seniorendemokratie eröffnet jedenfalls die Aussicht auf eine stärkere und veränderte Partizipationskultur. Altern würde zum demokratischen Gewinn. Ärgerlich an seinem Buch ist die unhinterfragte Behauptung vom Problem der »überalterten Gesellschaft«. Denn wer vermag die vielfältigen Dynamiken der Alterszusammensetzung demografiepolitisch zu steuern – und vor allem nach welchem Leitbild? Richters Devise »Demokratie statt Demenz« ist übrigens völlig deplatziert: Für erstere kann man sich frei entscheiden, für letztere leider nicht.

Emanuel Richter: Seniorendemokratie. Die Überalterung der Gesellschaft und ihre Folgen für die Politik. Suhrkamp, Berlin 2020, 261 S., 20 €.

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