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Psychodynamische Entlastungsfunktionen der Abwehr Antisemitismus und das Unbewusste

Der Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl 2025 war weitgehend bestimmt von Fragen der Migrationspolitik. Die schließlich in den sogenannten »Duellen« nurmehr als Chiffren gebrauchten Städtenamen »München« und »Aschaffenburg« fungierten dabei als Gegenworte zu einem Satz, der seit Jahren ebenfalls zur Chiffre einer anderen als auf Abgrenzung und Abschiebung be­dachten Migrationspolitik geronnen war: Angela Merkels Satz »Wir schaffen das«, den die damalige Bundeskanzlerin im Blick auf die Zunahme der Flüchtlingszahlen und im Zusammenhang einer weltpolitischen Situation geäußert hatte, die später mit dem ebenfalls zur Chiffre geronnenen Wort »Flüchtlingskrise« umschrieben wurde. Sprache und Sprachklischees sind mächtig. Aussagen oder Worte härten sich im politischen Diskurs zu Chiffren oder Formen aus, die nicht selten ein Denken und Handeln befördern, das nicht auf Reflexion und Differenzierung gegründet ist, sondern auf problematische Moralisierung, auf Ausschluss und Verhärtung von Fronten. Dabei spielt auch das Unbewusste eine große Rolle.

Das zeigt die soeben erschienene Studie »Psychoanalyse und Antisemitismus« der Frankfurter Psychoanalytikerin Ilka Quindeau, die aus deren Adorno-Vorlesungen aus dem Jahr 2023 hervorgegangen ist. Darin untersucht die Autorin anhand politischer Redeweisen, gegenwärtiger Diskurse und mit Rekursen auf die Geschichte, insbesondere der Psychoanalyse, das Verhältnis von Antisemitismus und Kritischer Theorie. Sie geht dabei der Frage »Was ist Antisemitismus« nach, nachdrücklicher aber der Frage »Wozu Antisemitismus?«. Und nicht selten, so zeigt Quindeau, verspüren auch diejenigen, die sich frei von antisemitischem Gedankengut wähnen, es von sich weisen, das Fremde als Bedrohung ihrer Identität. Auch bei denjenigen, die sich bewusst dagegen verwehren, können sich Abwehrbewegungen unbewusst insbesondere auf jüdisch gelesene Menschen ausrichten.

»Das Gefühl, in der eigenen Identität bedroht zu sein, kennen wir alle.«

Im historischen Teil des Bandes untersucht Quindeau, warum die von den Vertretern der Frankfurter Schule nach Ende des Zweiten Weltkriegs angenommene enge Beziehung von Autoritarismus und Antisemitismus den Blick auf den gegenwärtigen Antisemitismus zwar zum Zeitpunkt ihrer Entstehung ihre Berechtigung hatte. Sie zeigt aber, wie diese Annahme heute den Nachgeborenen der im Nationalsozialismus Lebenden bzw. Aufgewachsenen diese Einsichten der Frankfurter Schule den Blick auf den Antisemitismus oft eher verstellt als zu zentralen Einsichten zu führen, nach dem Motto: »Autoritäre Charaktere sind immer die anderen!« Wer annimmt, Gedanken der Abwehr und Ausgrenzung seien ausschließlich autoritären Charakteren eigen, verweigere damit eine Auseinandersetzung mit eigenen aktiven und passiven Triebzielen und ihrer Abwehr. Denn das Gefühl, in der eigenen Identität von Fremden bedroht zu sein, so Quindeau, kennen wir alle, es auf diejenigen zu verschieben, die keinen Ort haben oder ihn in besonderem Maße behaupten müssen, liegt dann besonders nahe.

Mechanismen von Ausgrenzung und Abwehr

Sie entwickelt einen Zugang, der die eigene psychische Empfänglichkeit für Ausgrenzung insbesondere im Antisemitismus und seine psychodynamischen Funktionen besser greifbar macht als diese bisherige Verknüpfung, die autoritäre Charakterstrukturen immer nur Anderen zuweist und eine Sicht auf die eigenen widersprüchlichen, ausgrenzenden, weil die eigene Identität bedrohenden Anteile versperrt oder verunmöglicht hat. Quindeau sagt damit keineswegs, dass alle Antisemiten sind, es geht ihr aber darum, eigene Ausgrenzungs- und Abwehrmechanismen kritischer zu hinterfragen.

Indem Quindeau Definitionen dessen, was das »Unbewusste« bezeichnet, analysiert, wird deutlich, dass es sich dabei um etwas handelt, dessen sich niemand entledigen kann, um etwas, das sich einer vollständigen Rationalisierung entzieht, das vor allem nicht aufzuheben, zu beseitigen ist. Wer dies anerkennt, wer begreift, dass das Unbewusste nicht völlig bewusst gemacht werden kann, lernt, den »heteronomen Kern des eigenen Ichs« anzuerkennen, und damit auch, dass wir widersprüchliche und durchaus aggressive Regungen verspüren. Sich das einzugestehen, in der Anerkenntnis eigener widersprüchlicher Gefühle auch ein Moment der Freiheit zu erkennen, das eine Bewusstwerdung erst möglich macht und damit bewusstes Entscheiden, könnte einen anderen und verantwortlicheren Diskursraum eröffnen. Indem man sich eingesteht, dass man sich in seiner Widersprüchlichkeit selbst fremd ist. Daraus entsteht das, was Quindeau Ambiguitätstoleranz nennt: eine größere Toleranz gegenüber eigenen widersprüchlichen Gefühlen, die dann einen offeneren und produktiveren Umgang mit all dem ermöglicht, was an der Identität nicht nur Einzelner, sondern auch ganzen Gesellschaften bedrohlich erscheint.

»Das Unbewusste entzieht sich einer vollständigen Rationalisierung.«

Mit dieser Ambiguitätstoleranz könnte man dem von der Studie überzeugend aus der Struktur und den Mechanismen des Unbewussten resultierenden, gegenwärtigen latenten oder vorbewussten Antisemitismus anders begegnen. Die Fähigkeit, die eigene Widersprüchlichkeit anzuerkennen, würde etwas anderes erzeugen als die momentan weit verbreitete Abwehr, auch die Abwehr von individuellem, aber auch kollektivem Begehren, die in kapitalistischen, »westlichen« Gesellschaften mit ihrer stark identitätspolitischen Fokussierung nahezu ubiquitär erscheint.

Definitionsunschärfen

Wie alle Bildungen des Unbewussten kann Antisemitismus nicht präzise definiert werden. Quindeau zeigt, dass die Bildungen des Unbewussten nicht auf einen bestimmten Typus Mensch zu beschränken sind, sie analysiert in ihrer Studie projektive Verschiebungen, Sprachklischees und Schuldzuweisungen. Es wird deutlich: Unbewusste Strebungen, die ausgrenzen, müssen nicht, sie können sich aber antisemitischer (Sprach-)Klischees bedienen, um Ausdruck zu finden und Antisemitismus zur Ersatzbefriedigung für verpönte Wünsche werden lassen. Indem von gesellschaftlicher Seite antisemitische Semantiken angeboten werden, die exakt zu unbewussten Strebungen des Subjekts passen, können antisemitische Äußerungen und Handlungen den Einzelnen von psychischen Konflikten entlasten.

Quindeau zufolge gibt es kein Sprechen über Antisemitismus. Wenn wir über Antisemitismus sprechen, sprächen wir immer auch über uns, sind von dieser grundlegenden gesellschaftlichen Sinnstruktur mitbetroffen. Nach der Logik des Unbewussten, so die Autorin, könne immer etwas Ungewolltes entwischen und bewussten Absichten zuwiderlaufen. Es gibt kein Außerhalb, keine dritte Position, von der aus über Antisemitismus nachgedacht werden könnte. Daher sei das Sprechen darüber auch oft mit Angst und Aggression verbunden.

Der Umgang mit den umstrittenen Bildern mit antisemitisch lesbaren Inhalten im Rahmen der documenta 15 deutlich hat gezeigt, dass die von ihr beschriebenen Abwehr-, Angst- und Aggressionsmechanismen wirken. Die umstrittenen Bilder haben gezeigt, wie wichtig es ist, sich auch in Grenzbereichen und Grauzonen antisemitischer Darstellungen unmittelbar und rasch eindeutig weltanschaulich zu positionieren, ein Phänomen, das sich im Anschluss an das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 noch extrem verstärkt hat. Und, so könnte man hinzufügen, eines, das durch die maximal ausschlagenden Erregungskurven medialer Vermittlung noch extremer wird.

Um Quindeau nicht falsch zu verstehen: Ihre Studie strebt keine Relativierung an, sie will lediglich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass man zu leichtfertig eigene Abwehrmechanismen auf andere abschiebt. Das zeigt sie auch anhand der erinnerungspolitischen Praxis auf, der Ambiguitätstoleranz häufig fehlt. Was als moralische Selbstverständigung dienen soll, gerinnt dann jenseits der Affekte Schrecken, Scham und Trauer zu einem semantischen Schutzschild, die Regungen werden zu leeren Chiffren oder verwandeln sich in Abwehr.

Die Empörung der Anderen

Eingebaut in den Zusammenhang der Empörung der Anderen werden sie instrumentalisiert, um ein Gegenbild von Anderen aufzubauen, denen man den eigenen und den in Form transgenerationeller Verdrängung überlieferten Antisemitismus unterschieben und sich so von ihm befreien zu können glaubt: »Die affektive Wucht der Skandalisierung könnte mit den konflikthaften Transmissionen zusammenhängen, die durch die antisemitische (Bild-)Sprache psychisch aktualisiert und verarbeitet werden müssen. Der Vorwurf scheint eine solche Verarbeitungsform zu sein, die auf Entlastung zielt. Er entsteht aus einer Ambiguitätsintoleranz, er denkt in binärer Logik, arbeitet mit dichotomen Gegenüberstellungen, entwirft einander ausschließende Selbst- und Fremdbilder, bekämpft den/die/das Andere/n. Er ist so unversöhnlich wie die Geschichte, die dadurch verarbeitet werden soll. Die eigene Verwicklung kommt nicht in den Blick, Polemik und Verurteilung blockieren die Selbstreflexion, wie exem­plarisch an den Medienbeiträgen zu sehen war.«

Pauschalisierende Antisemitismus-Vorwürfe sind nicht hilfreich.

Quindeaus Analysen der Geschehnisse im Zusammenhang mit Taring Padis umstrittenem Bild auf der documenta 15 und der Debatte um die Berlinale machen deutlich, dass die Auseinandersetzung der hiesigen Gesellschaft mit dem Erbe des Nationalsozialismus und dem Antisemitismus weder durch Verdrängung noch durch eine ritualisierte Erinnerungskultur, dem was Y. Michael Bodemann »Gedächtnistheater« nannte, hinreichend ist, um einen anderen Umgang damit zu finden.

Daraus erwächst die Forderung, das Spektrum des Antisemitismus fortlaufender Reflexions- und Verständigungsprozesse zu unterziehen, um einer »binären Vorwurfslogik« zu entgehen, um wirksamere Kritik formulieren zu können, um Auseinandersetzung lebendig und historische Hypotheken bewusst zu halten, ist angesichts wachsenden Zuspruchs zu rechten Parteien dringlicher denn. Die psychische Voraussetzung dafür bildet das Ausbilden von Ambiguitätstoleranz. Pauschalisierende Antisemitismus-Vorwürfe hingegen verhindern genau diese Kritik, fördern binäres Denken und Polarisierungen, die nicht öffnen, sondern versiegeln, Grenzen auch dort errichten, wo es keiner sichtbaren Zeichen wie Zäune und Stacheldraht bedarf.

Rätselhafte Aspekte der conditio humana

Von hier aus lässt sich ein Bogen zu den Ausgangsbeobachtungen dieses Textes spannen. Da wäre vieles noch zu lernen im individuellen und kollektiven Umgang mit dem Unbewusten: Dies zeigt die stellenweise beinahe unerträgliche Verschiebung unbewusster Strebungen auf Menschen migrantischer Herkunft – angesichts von Entmachtungs- bzw. Ohnmachtsgefühlen ausgelöst durch bedrohliche Kräfteverschiebungen der Weltmächte und durch Migrationsbewegungen, die nicht zuletzt durch eine unzureichende Klimapolitik immer mehr begünstigt werden. Auch gefördert durch den Umstand, dass die Rhetoriken der Begehrensabwehr als Abwehr des Fremden Wahlprogramme und -entscheidungen massiver beeinflussen konnten als der Klimawandel, als die prekäre Situation in der Pflege und anderen Feldern des Sozialen, als die rasenmäherartigen Kürzungen im Bildungs- und Kulturbereich. In ihren Analysen, in der Hellsichtigkeit auf die rätselhaften Aspekte der conditio humana, auf das Abgespaltene und Verdrängte, ermöglicht Quindeaus Studie ähnlich grundstürzende Einsichten wie vor knapp 50 Jahren Klaus Theweleit in seinen Männerphantasien, der aufzeigte, dass mit dem Begriffsinstrumentarium der Psychoanalyse bestimmte Charaktertypen und Männer- bzw. Frauenbilder beschrieben werden können, die maßgeblich dazu beigetragen haben, den Nationalsozialismus als Herrschaftssystem zu etablieren und auszubauen.

Ilka Quindeau: Psychoanalyse und Antisemitismus. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2023. Suhrkamp, Berlin 2025, 284 S., 32 €.

 

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