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Karl Schlögels große Studie über die Sowjetunion Archäologie einer Epoche

Der hierzulande inflationär benutzte Ausdruck von der »sibirischen Kälte« ist ein literarisches Klischee, denn unter 50 Grad minus können sich nur jene etwas vorstellen, die eine solche Temperatur bereits ertragen mussten – und das nicht nur einmal, sondern über Stunden, Tage, Wochen und Monate. Mit Lumpen an den Füßen, einer zerfledderten, löchrigen Jacke auf der Haut und leerem Magen. In den Lagern des Kolyma-Gebiets am nordöstlichen Ende des eurasischen Kontinents sind die sowjetischen Sklavenarbeiter zu Tausenden und Hundertausenden zugrunde gegangen. Sie starben nicht nur durch die Kälte, sondern auch durch Schläge, Krankheiten, Erschöpfung, Hunger und die Kugeln der Erschießungskommandos. Zwischen 1929 und 1953, so schätzt der Historiker Karl Schlögel, wurden vermutlich 18 Millionen Sowjetbürger in Straf- und Arbeitslager (Gulag) verschleppt. Nimmt man die Zwangsumgesiedelten außerhalb der Lager hinzu, erhöht sich diese Zahl wohl um weitere 10 Millionen. Hinzu kommen die Opfer der Hungersnöte während der Enteignung der Bauern, der »Entkulakisierung«. Für den Zeitraum der sogenannten Säuberungen 1937/38, lassen sich 2,5 Millionen Verhaftungen und über 680.000 Erschießungen dokumentieren. Wahrscheinlich waren es mehr. Ein »Exzess im Exzess«. Hierzu addieren sich die sowjetischen Kriegsopfer durch das deutsche »Unternehmen Barbarossa«: Mutmaßlich 26,6 Millionen, davon 15 Millionen Zivilisten. So könnte man fortfahren, die grauenvolle Geschichte der Sowjetunion zu rekonstruieren.

Das ist jedoch nicht die Absicht Karl Schlögels, des durch zahlreiche Studien und Publikationen ausgewiesenen Kenners der Sowjetunion, auch wenn er immer wieder auf die blutigen Seiten in deren Geschichte zu sprechen kommt. Schlögel strebt keine Generalbilanz an, sondern eine Vergegenwärtigung der sowjetischen Lebensverhältnisse. Mit seinem über 900-seitigen Hauptwerk will er Spuren sichten und sichern, Objekte freilegen und zum Sprechen bringen. Als Quellen nutzt er nicht nur Studien, Dokumente, literarische Zeugnisse und Tagebücher, sondern alle möglichen »Vergegenständlichungen menschlicher Tätigkeiten«, große wie kleine, Monumentalbauten wie Nippesfiguren. Dies ist also keine Geschichte der Sowjetunion und keine historische Chronik, eher eine Beschwörung historischer Augenblicke und Einzelheiten, bevor die Erinnerungen, auch die persönlichen des Autors, verblassen und verschwinden.

Das Leben der Dinge

Was 1991 zu Ende ging, markiert nicht das »Ende der Geschichte«, sondern »nur« das Ende eines Imperiums und damit das Ende einer Epoche, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und sich keineswegs, wie Schlögel eindrucksvoll zeigt, in Terror und Gulag erschöpfte.

Bereits das sich über neun Seiten erstreckende Inhaltsverzeichnis liest sich wie ein geheimnisvoller Zettelkasten. »Splitter des Imperiums«, »Sowjetische Zeichenwelten«, »Räume der Freiheit«: so lauten einige Kapitelüberschriften. Oder »Das Leben der Dinge«. Klaviere zum Beispiel, die als Prestigesymbole von Zarismus und Bourgeoisie während der Revolutionswirren vielfach auseinandergesägt, zerhackt und verbrannt wurden oder in dreckigen Depots kreuz und quer aufeinandergestapelt wurden, nur um dann wieder abgestaubt und in Schulen, Fabrikkantinen und Wohnheimen neu aufgestellt und gestimmt zu werden. Als Staatstrust »Roter Oktober« nahmen die alten Klavierbetriebe die Produktion wieder auf und erreichten ein Qualitätsniveau, das den Vergleich mit den Sankt Petersburger Klavierwerkstätten der Vorkriegszeit nicht zu scheuen brauchte. Es muss am Zusammenströmen zweier Entwicklungen liegen, dass die Zeit der großen Not und Bedrohung auch die Zeit einer atemraubenden Blüte des Klavierspiels werden konnte: »Das Zusammenspiel von überkommender musikalischer Hochkultur, die neue Meister feiner Technik und inspirierter Interpretation hervorgebracht hat, und ein groß angelegtes System der musikalischen Erziehung, das alle nur denkbaren Reservoire an Talenten, an gleich welchem Ort und in gleich welcher sozialen Ausgangsposition, heranziehen konnte: systematische Breitenarbeit plus Elitenförderung. Beide zusammen sind wohl für das sowjetische Pianistenwunder verantwortlich.«

Orchester und Chöre musizierten, Theaterregisseure inszenierten, Filmregisseure drehten Filme, auf den Bühnen tanzten Ballettensembles. Einer der berühmtesten Tänzer des 20. Jahrhunderts hieß Rudolf Chametowitsch Nurejew, geboren in Irkutsk, im Jahr des Großen Terrors 1938. Bereits zum zehnten Jahrestag der Oktoberrevolution, also 1927, kam das Parfum »Krasnaja Moskwa« in den Handel: »Die Formel für den Duft von ›Krasnaja Moskwa‹ war schon vor der Revolution entwickelt worden und lag dem Parfum ›Bouquet Catherine II‹ (…) zugrunde, das Marija Fjodorowna, der Mutter des Zaren Nikolai II. (…) 1913 überreicht worden war (…). Sein Schöpfer war der einen Version zufolge Ernest Beaux (1881–1961), der ›Napoleon des Parfums‹, der als Parfümeur im Unternehmen von Alphonse Rallet gearbeitet hatte, aber nach der Revolution in Russland und nach der Enteignung des Unternehmens Rallet nach Frankreich emigrierte, (…) um dort die Formel des ›Lieblingsbouquets der Kaiserin‹ an Coco Chanel weiterzugeben, wo es unter dem Namen ›Chanel No. 5‹ zum größten Erfolg der Parfumgeschichte im 20. Jahrhundert wurde.«

Es sind solche detailreichen Schilderungen, die das Buch Schlögels zu einer faszinierenden Schatzkammer von Wissensreichtum und kulturgeschichtlichen Querverbindungen machen. Der Autor entschlüsselt Palmen in nordischen Breitengraden als Symbole imperialer Macht, aber auch von Aufklärung, Luxus und Schönheit. Um schließlich festzustellen, dass die große Topfpalme der spätsowjetischen Ära zur Chiffre einer selbstzufriedenen politischen Klasse wurde, die sich im Status quo eingerichtet hatte. Er analysiert sowjetische Treppenhäuser wie die Kommunalkas, jene Moskauer Gemeinschaftswohnungen, in denen für jede vielköpfige Familie nur ein einziges Zimmer zum Wohnen und Schlafen zur Verfügung stand und alle Familien gemeinsam eine Küche und ein Badezimmer teilen mussten. Zwangsläufig schreibt er auch über Toiletten, aber nicht nur über die der Kommunalkas, sondern auch die öffentlichen Aborte zwischen zivilisatorischem Fortschritt und Skandal. Des Weiteren schreibt er über Warteschlangen, Klingelschilder und Müllbeseitigung. Über den umfangreichen Katalog verbotener Bücher. Über die Entstehungsgeschichte der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, deren Autoren reihenweise den »Säuberungen« zum Opfer fielen. Dabei schreibt er über all dies klug und zurückhaltend, in einem leicht auf Moll gestimmten Ton, der sich jedem Sarkasmus und jeder Ironie verweigert.

Karl Schlögel zeigt in seinem großartigen und stilistisch duchgehend brillanten Buch, dass die kulturellen Traditionslinien des zaristischen Russlands trotz aller Brutalität des Regimes in der UdSSR weitaus größere Überlebenschancen hatten als nach der kapitalistischen Gegenrevolution von 1991. Seither befindet sich Russland in den Klauen des Weltmarktes. Wer braucht noch »Krasnaja Moskwa«, wenn in jeder besseren Shoppingmall Chanel No. 5 im Schaufenster steht?

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. C.H.Beck, München 2017, 912 S., 38 €.

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