Nach aktuellen Daten der Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbands (2024) lebt mehr als jede fünfte Person in Deutschland (21,1 Prozent) mit einem verfügbaren Einkommen, das im Armutsbereich liegt. Berücksichtigt man lebensnotwendige Ausgaben wie die Miete ist die Armutsquote also deutlich höher als angenommen. Zunehmende Aufnahmestopps und Lebensmittelrationierungen bei den Tafeln bestätigen den hohen Unterstützungsbedarf. Trotz teilweise verbesserter Datenlage und der ausführlichen Berichte der Wohlfahrtsverbände wird Armut in der deutschen Öffentlichkeit jedoch immer noch unzureichend problematisiert. Sie bleibt oft ein Randthema, obwohl sie eine der zentralen politischen Herausforderungen unserer Zeit darstellt. Warum aber durchdringt das Thema Armut und mögliche politische Maßnahmen, um diese nachhaltig zu bekämpfen bislang kaum den öffentlichen Diskurs?
Armut als strukturelles Problem anerkennen
Trotz der Zunahme von Armut in Deutschland widmeten sich wenige Talkshows in den letzten Jahren dem Thema und obwohl eine erhöhte Kinderarmut attestiert wurde, kürzte die Ampelkoalition die Kindergrundsicherung im Vergleich zu den Plänen des ursprünglichen Haushaltsplans. Ein Grundproblem scheint darin zu liegen, dass Armut nicht als zentrale politische Aufgabe erkannt wird. Plastisch wurde dies beispielsweise in einer Aussage von Sven Lehmann, Bundestagsabgeordneter der Grünen und Parlamentarischer Staatssekretär im Familienministerium, der am 24.12.2023 in dem sozialen Netzwerk Threads folgendes postete: »All I want for christmas is, dass Menschen nicht niedergemacht werden, weil sie arm sind. Weder privat noch politisch.« Die Art der Formulierung verweist auf ein mangelndes politisches Bewusstsein dafür, dass Armut weder ein Lebensstil noch eine Eigenschaft ist, sondern ein grundsätzliches Problem, für das politische Verantwortung übernommen werden muss. Um dies anzuerkennen, bedarf es eines gesellschaftlichen Bewusstseins dafür, wie schnell und unverschuldet Armut entstehen kann und wie schwierig es ist für Menschen, die selbst in Armut aufgewachsen sind, sich daraus zu befreien.
»Besonders gefährdet sind Studierende, Rentner:innen, Familien und Alleinerziehende.«
Die Integration des Themas in die Bildungsarbeit ist ebenso notwendig wie eine extensivere wissenschaftliche Erforschung von Armut, um ein Verständnis dafür zu schaffen, dass sie jeden betreffen kann, wie die Reportage des Hessischen Rundfunks Armut in Deutschland – ausgegrenzt und abgestempelt? verdeutlicht. Besonders gefährdet sind Studierende, Rentner:innen, Familien und Alleinerziehende. Bei geringem Einkommen und hohen Ausgaben, etwa im Zusammenhang mit Faktoren wie Inflation, fehlenden Kita-Plätzen, steigenden Mieten und mangelnder finanzieller Unterstützung durch Erbschaft, ist der Weg in die Armut kurz. Gleichzeitig ist Armut ein Teufelskreis: In Armut aufwachsende Kinder sind hinsichtlich sozioökonomischer Einflussfaktoren wie Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe benachteiligt. So entscheidet in Deutschland – wie Befunde aus den PISA- und anderen Bildungsstudien wiederholt gezeigt haben – nicht zuletzt die soziale Herkunft in einem entscheidenden Maße über die Distribution von Bildungs- und Lebenschancen. Vor diesem Hintergrund muss festgehalten werden, dass es strukturelle Mängel im Sozialsystem gibt und Armut selten selbstverschuldet ist.
Das Leistungsprinzip hinterfragen
Eine Sensibilisierung für das Problem der Armut verlangt, dass die gesellschaftlich zentrale Grundprämisse des meritokratischen Prinzips, also der Leistungsgerechtigkeit, einer kritischen Neuevaluation unterzogen wird. Tatsächlich ist der Glaube, es durch eigene Anstrengung zum ökonomischen Erfolg zu schaffen, in der deutschen Bevölkerung ausgeprägt. So zeigten die Ergebnisse einer Umfrage des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung von 2019, dass 69 Prozent der befragten Personen der Auffassung sind, dass die Höhe des Einkommens tatsächlich von der eigenen Anstrengung abhängig ist. Dies lässt die Grundannahme der Leistungsgerechtigkeit jedoch weitgehend unangetastet. Die Soziologin Brigitte Aulenbacher macht darauf aufmerksam, dass das Prinzip der Leistungsgesellschaft nicht zur Abschaffung sozioökonomischer Ungleichheit beiträgt, sondern vielmehr als Legitimationsansatz für ebendiese dient. Inwiefern eine Person, sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht, Leistungen erbringen kann, ist – wie oben bereits angeführt – von sozioökonomischen Einflussfaktoren abhängig. Statt der aktuellen Auslegung des Leistungsprinzips blind zu folgen, müsste vielmehr darüber diskutiert werden, inwiefern die Lebenschancen unabhängig von dem sozioökonomischen Hintergrund der Betroffenen verbessert werden können.
Welche konkreten Maßnahmen könnten Armut wirksam begrenzen? Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, bringt dabei eine scheinbar einfache Lösung ins Spiel: Geld. In einem Interview mit dem Jacobin-Magazin aus dem Jahr 2020 erklärte er, dass die Forderung nach finanzieller Unterstützung oft irritiert oder sogar abgelehnt wird – ganz im Gegensatz zu Vorschlägen wie mehr Bildungsgerechtigkeit oder Unterstützung bei der Jobsuche. Dabei gibt es klare finanzpolitische Ansätze, mit denen Armut reduziert werden könnte. Schneider hebt beispielsweise hervor, dass etwa zwei Drittel der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland Rentner:innen sind. Von ihnen zu verlangen, sich durch Arbeit oder Fortbildungen aus der Armut zu befreien, sei schlicht unrealistisch. Stattdessen sollten höhere Renten oder andere finanzielle Unterstützungsmaßnahmen wie ein höherer Mindestlohn diskutiert werden, um Menschen, deren Einkommen nicht zum Leben reicht, effektiv und pragmatisch zu unterstützen.
Ausbau von Partizipationsmöglichkeiten
Menschen, die von Armut betroffen sind, gehören zur Gruppe der schwachen Interessen, das heißt, dass sie »über wenige Ressourcen verfügen und aus strukturellen Gründen politisch schwer organisierbar« sind, wie in der Einleitung zum Sammelband Public Governance und schwache Interessen von Ute Clement und anderen definiert wird. Dabei verweist der Begriff der schwachen Interessen auf die Komplexität von Armut. Strukturelle Benachteiligung ist kein rein materielles Phänomen, sondern als Verschränkung verschiedener Diskriminierungsformen, also intersektional, zu betrachten. So beeinflussen beispielsweise Geschlecht oder Migrationshintergrund die Armutsgefahr. Vor solch einem Hintergrund ist Partizipation besonders voraussetzungsvoll: Es fehlt an Geld, an Zeit (insbesondere bei Einkommensarmut) und möglicherweise auch an Sprachkenntnissen oder zivilgesellschaftlichen Kompetenzen und Selbstbewusstsein, um sich zu beteiligen. Armutsbetroffene nehmen entsprechend weniger an Wahlen teil, obwohl sie ein vergleichsweise niedrigschwelliges politisches Partizipationsangebot darstellen, wie Armutsforscher Christoph Butterwegge 2023 gegenüber Forschung & Lehre äußerte. Für die Armutsbekämpfung ist es aber gerade zentral, dass von Armut betroffene Menschen auf ihre Situation aufmerksam machen (können), auf Probleme und Lücken in den Sozialsystemen hinweisen und Rechte einfordern.
Die Interessen der von Armut betroffenen Menschen müssen wirksam in das politische System integriert werden.
Um die Interessen der von Armut betroffenen Menschen wirksam in das politische System zu integrieren, spielen Sozialverbände eine zentrale Rolle. Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband oder der Verein Sanktionsfrei agieren als wichtige Fürsprecher und sollten von Behörden als Lernquellen genutzt werden. Darüber hinaus ist es notwendig, soziale Kämpfe zu vereinen und gesellschaftliche Gruppen sowie Interessen, die sich gegen Ausgrenzung und für Teilhabe einsetzen, intersektional zusammenzuführen. Hierbei könnte insbesondere das Potenzial auf kommunaler Ebene genutzt werden, wie es Initiativen unter dem Slogan der Solidarischen Stadt zeigen. Nicht nur können hier Zugänge zu öffentlicher Infrastruktur und Teilhabe konkret verhandelt werden, sondern auch – ansetzend an die Erfahrungen lokaler Sozialverbände – innovative und niederschwellige Beteiligungsformate erprobt werden, die an den Lebensrealitäten der Bevölkerung ansetzen.
Armutsfolgenabschätzung im Gesetzgebungsprozess
Ein weiterer Ansatz, um Armut entgegenzuwirken, wäre die Einführung einer verpflichtenden Armutsfolgenabschätzung im Gesetzgebungsprozess. Dieses Instrument würde dazu dienen, bei jedem neuen Gesetzesvorschlag eine gründliche Analyse der potenziellen Auswirkungen auf von Armut betroffene oder gefährdete Gruppen durchzuführen. Ähnlich wie bei einer Klimafolgenabschätzung könnten Parameter festgelegt werden, anhand derer überprüft wird, wie sich ein Gesetz auf die potenzielle Anzahl Armutsbetroffener in Deutschland auswirkt und wie bereits Armutsbetroffene dadurch be- oder entlastet würden. Eine solche Maßnahme hätte mehrere Effekte: Zunächst würde sie Legislative und Exekutive zwingen, sich regelmäßig und systematisch mit den Lebensrealitäten armutsbetroffener Menschen auseinanderzusetzen. Dies könnte dazu beitragen, den oft unsichtbaren Alltag dieser Bevölkerungsgruppen sichtbarer zu machen, zur oben geforderten gesellschaftlichen Sensibilisierung führen und die Belange Armutsbetroffener in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Darüber hinaus würde eine Armutsfolgenabschätzung die oft komplexen und nicht intendierten Auswirkungen von Gesetzen auf vulnerable Gruppen offenlegen.
Bei der Einführung einer solchen Armutsfolgenabschätzung müsste darauf geachtet werden, dass sie nicht zu einem bürokratischen Feigenblatt verkommt. Vielmehr sollte sie als ernsthaftes politisches Instrument verstanden und mit entsprechenden Ressourcen und Kompetenzen ausgestattet werden. Betroffene und ihre Interessenvertretungen sollten in den Prozess einbezogen werden, um sicherzustellen, dass die Lebensrealitäten armutsbetroffener Menschen adäquat erfasst und berücksichtigt werden. Eine Armutsfolgenabschätzung bei Gesetzen könnte somit ein wichtiger Baustein sein, um Armut als politisches Thema stärker in den Mittelpunkt zu rücken und eine evidenzbasierte, armutssensible Politik zu fördern.
Die Bekämpfung von Armut in Deutschland erfordert ein grundsätzliches Umdenken in Politik und Gesellschaft. Es gilt, Armut als strukturelles Problem anzuerkennen, das Leistungsprinzip kritisch zu hinterfragen und konkrete Maßnahmen wie finanzielle Unterstützung, niedrigschwellige Partizipationsmöglichkeiten und eine Armutsfolgenabschätzung im Gesetzgebungsprozess auf den Weg zu bringen. Der Einblick in diese politischen Handlungsmöglichkeiten soll dabei primär als Diskussionsanregung für eine breite gesellschaftliche Debatte dienen, die zum Ziel haben sollte, Armut in Deutschland nachhaltig zu reduzieren und allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen.
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