Das Ergebnis der Bundestagswahl 2025 lässt jedenfalls erneut die Frage aufkommen, ob das jahrzehntelang von zwei sich selbst als Volksparteien charakterisierenden Großparteien geprägte Parteiensystem nun endgültig an sein Ende gekommen ist. Ein solches »Volksparteiensystem« ist gekennzeichnet durch die Dominanz von mindestens zwei miteinander im Wettbewerb stehenden Parteien, die die Integration möglichst vieler Bevölkerungsgruppen als Wähler beziehungsweise Mitglieder anstreben, die in der Gesellschaft insbesondere auf der Ebene der Wählerschaft breit verankert sind, die die politische Mitte programmatisch sowie sozialstrukturell verkörpern und entsprechend hohe Wähleranteile verzeichnen, sowie sich mit ihren personellen und inhaltlichen Angebote als Hauptwettbewerber verstehen.
Ist das von zwei Volksparteien geprägte Parteiensystem an sein Ende gekommen?
Es gibt eindeutige Hinweise, die einen erheblichen Wandel des Parteiensystems markieren. Da ist zunächst die schleichende Erosion der sozialen Verankerung der lange Zeit den Parteienwettbewerb prägenden Volksparteien zu nennen. CDU/CSU und SPD kamen bei der Bundestagswahl am 23. Februar auf gerade noch einmal knapp 45 Prozent der abgegebenen Zweitstimmen, erreichten damit ihren vorläufigen Tiefpunkt in der Geschichte der Bundesrepublik und blieben somit zum zweiten Mal nach 2021 unter der 50-Prozent-Marke.
Die Krise der Volksparteien
Die Mitgliederzahlen der Union und der Sozialdemokraten haben sich seit der Hochzeit der 70er Jahre mehr als halbiert. Es gelingt ihnen viel weniger als in der Vergangenheit, expressive Bindungsmotive von potenziellen Mitgliedern und affektive Bedürfnisse der Wähler zu befriedigen. Zumindest für die SPD werden Zweifel lauter, ob die Zuschreibung als Volkspartei über die Selbstcharakteristik hinaus noch angebracht erscheint. Selbst der SPD nahestehende Autoren charakterisieren die Partei mittlerweile als »funktionale Regierungspartei« (Gerd Mielke/Fedor Ruhose), die sich von ihren früheren Wählern der Arbeiterschaft entfremdet und von ihren traditionellen Wählermilieus entwurzelt habe. Die SPD selbst stellt in ihren eigenen Papieren nach der Bundestagswahl fest, dass »nur noch zwölf Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter uns das Vertrauen geschenkt haben«.
»Der Druck für die SPD ist sehr groß, die Rolle der funktionalen Regierungspartei weiterhin einzunehmen.«
Schaut man auf die Gespräche zur Bildung einer neuen Bundesregierung, ist zudem der Druck sehr groß für die SPD, die Rolle der funktionalen Regierungspartei weiterhin einzunehmen. Bislang ist es ihr als mittlerweile langjähriger Regierungspartei aber nur ausnahmsweise gelungen Strahlkraft auf »ausgedehnte Wähler:innen-Bündnisse« (Christian Krell) auszuüben. Im Gegenteil: Schaut man sich die Entwicklung der Zustimmungswerte der Parteien in diesem Jahrhundert an, dann hat die SPD sehr große Verluste zu verzeichnen. Die Union kann dagegen für sich in Anspruch nehmen, die Führungsrolle im Parteienwettbewerb inne zu haben und trotz des Rückgangs an Wähleranteilen diese in den letzten Jahrzehnten nahezu durchgehend zu verteidigen. Wenn also von Krisenphänomenen des Volksparteiensystems gesprochen wird, dann ist die SPD insgesamt deutlich stärker betroffen.
Der Rückgang der gesellschaftlichen Verankerung der Volksparteien insgesamt hat vielfältige Ursachen, hervorstechend sind der gesellschaftliche Wandel mit der Erosion der traditionellen Milieus der häufigen Kirchgänger und der gewerkschaftsnahen Arbeitnehmerschaft bei gleichzeitigen Prozessen der Individualisierung oder Singularisierung sowie Pluralisierung von Lebensstilen. Infolge dieser gesellschaftlichen Entwicklung haben es Parteien vom Typus der Volkspartei, die auf Integration und Repräsentation sehr unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen setzen, schwerer im Wettbewerb zu bestehen, denn Parteien, die unterschiedliche Milieus und gesellschaftliche Gruppen umspannen, sind schlichtweg weniger gefragt.
Ein Parteiensystem spiegelt letztendlich gesellschaftliche Entwicklungen wider. Pluralisierung und die zunehmende Vielfalt mit partiellem Auseinanderdriften der einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ziehen entsprechend Fragmentierung und Polarisierung des Parteienwettbewerbs nach sich. An die Stelle von integrativen Volksparteien treten zunehmend entweder als Ein- oder Zwei-Themen-Parteien wahrgenommene Organisationen oder Protestparteien, die sich gegen das politische und/oder wirtschaftliche Establishment stellen und nicht selten populistische Narrative für sich nutzen.
»Gesellschaftlich virulente Konflikte fanden in den Augen vieler Wähler nicht ausreichend Widerhall.«
Eigene Versäumnisse wie etwa die von nicht wenigen Wählern wahrgenommene eher geringe Responsivität bei wichtigen Themen wie etwa Migration, Klima, Infrastruktur oder Digitalisierung kommen zu den gesellschaftlichen Entwicklungen hinzu, um die geringere Unterstützung für Union und SPD zu erklären. Gesellschaftlich virulente Konflikte fanden in den Augen vieler Wähler nicht ausreichend Widerhall. Vertrauensverluste und Unzufriedenheit waren die Folge. Union und SPD erscheinen vielen jüngeren Wählern als Organisationen einer älteren Gesellschaft, welche Antworten auf Fragen der Zukunft nicht mehr in gewünschtem Maße geben. Entsprechend stimmten nach Daten von Infratest-Dimap nur 25 Prozent der 18- bis 24-Jährigen bei der letzten Bundestagswahl für CDU/CSU und SPD.
Jenseits politisch traditioneller Makrothemen
Zudem ist der jüngste Relevanzgewinn von soziokulturellen Themen von ihnen unterschätzt oder mit deutlicher Verspätung beachtet worden, die als wertebasierte Konflikte außerhalb der sozioökonomischen Sphäre schon seit längerer Zeit an Bedeutung hinzugewonnen haben. Davon konnten diejenigen Parteien profitieren, die dieses jeweilige Thema als ihren Markenkern betrachten. Sei es das Thema der Migration durch die AfD oder Klimapolitik beziehungsweise die Anerkennung einzelner Identitäten höchst unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen durch die Grünen.
Zwar hat sich die CDU bei ihrer »richtungspolitischen Wende« (Elmar Wiesendahl) unter ihrem Vorsitzenden Friedrich Merz wieder stärker wertekonservativen Positionen gegenüber geöffnet, konnte jedoch aufgrund ihrer eigenen langjährigen Regierungszeit von Enttäuschungen oder Vertrauensverlusten gegenüber der Politik kaum profitieren. Diese konnte die AfD im zurückliegenden Wahlkampf immer wieder für sich nutzbar machen. Ihr Aufstieg zur zweitstärksten Partei bei der Bundestagswahl 2025 ist der markanteste Indikator für die Instabilität des deutschen Parteiensystems und seine De-Institutionalisierung. Was im europäischen Vergleich als Normalisierung oder verspätete Nachholung betrachtet werden kann, treibt anderen große Sorgenfalten ins Gesicht.
Autoritärer Populismus oder »culture war« als Gefahr für die liberale Demokratie.
Viele sehen durch den Politikansatz des autoritären Populismus oder »culture war« (Schmidtke) zentrale Grundsätze der liberalen Demokratie in Gefahr. Auch das BSW, das nur ein Jahr nach seiner Gründung als Partei gleich fast die Fünf-Prozent-Hürde überwinden konnte, zeigt an, dass neuere Parteien von der gestiegenen Stimmungsabhängigkeit infolge hoher Volatilität ungleich schneller als in der Vergangenheit ein hohes Maß an Wählergunst erreichen können.
Die Grünen haben als etablierter Antipode der AfD in soziokulturellen Fragen mittlerweile eine recht hohe Stammwählerschaft, nicht zuletzt aufgrund der hohen Relevanz der Umwelt- und Klimapolitik in den Augen ihrer Wähler. Gleichzeitig hat jedoch die Politik in der Ampelkoalition das Wählerpotenzial der Grünen deutlich schrumpfen lassen, da die noch immer wahlentscheidenden Wähler der politischen Mitte die Transformationsgeschwindigkeit der Grünen sowie nach Ansicht nicht weniger Wähler wieder stärker ideologiebasierte Politik zu wenig deren Bedürfnisse in den Blick genommen haben. Mehr als 60 Prozent der Wähler ordnen sich weiterhin der politischen Mitte zu, die dadurch gekennzeichnet werden kann, dass sie Ideologien eher skeptisch betrachtet und stattdessen eine problemlösungsorientierte und weniger parteigebundene »middle of the road«-Politik favorisiert.
Vertrauensverlust und seine Instrumentalisierung
Dass die AfD zuletzt recht erfolgreich war, das BSW schnell in die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde kam und gleichzeitig die Union als größte Oppositionsfraktion im Deutschen Bundestag von ihrem Potenzial betrachtet unterdurchschnittlich von der Unzufriedenheit gegenüber der Ampelkoalition profitiert, markiert den Vertrauensverlust in etablierte politische Parteien, der sich vor allem in den sozioökonomisch »unteren Schichten« mit geringem Haushaltseinkommen und mittleren bis niedrigeren Bildungsabschlüssen ausgebreitet hat.
»Unmut und partiell sogar Wut gegenüber der Politik.«
Bei diesen Wählergruppen lässt sich Unmut und partiell sogar Wut gegenüber der Politik beobachten. Solcherlei Unbehagen in all den genannten Bereichen kann dann von einzelnen Parteien polarisiert und in Protesthaltung kanalisiert werden. Dies gelingt zwar der AfD am effektivsten. Aber auch Die Linke konnte im Bundestagswahlkampf Protesthaltungen für sich nutzen und für den »Kampf gegen rechts« mobilisieren. Gekonnt inszenierte sie sich als Antipode zur AfD und als Kämpferin gegen hohe Mieten und gestiegene Lebenshaltungskosten. Damit erreichte sie in erster Linie junge Menschen mit Abitur, vornehmlich in den Großstädten und stark weiblich geprägt.
Als »Polarisierungsunternehmer« (Steffen Mau et al.) charakterisierte Parteien versuchen mit Hilfe von Affekten und emotional geschürten Stimmungen, nicht zuletzt via sozialen Medien wie Instagram oder TikTok, strategisch Ressentiments und Unmut zu erzeugen oder zu verstärken, politische Konflikte zu polarisieren, um damit Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Von den Mitte-Parteien distanzieren sie sich entsprechend durch extremere oder radikalere Positionen, was aber dann auf größeren Widerhall stößt, wenn der Eindruck fehlender Responsivität in Teilen der Gesellschaft bereits vorhanden ist. Denn soziale Medien bevorzugen Emotionen, griffige Statements und radikale Zuspitzungen.
»Vom ursprünglichen ›Volksparteiensystem‹ der früheren Bundesrepublik stehen die Grundpfeiler noch, diese sind aber ins Wanken geraten.«
Vom ursprünglichen »Volksparteiensystem« der früheren Bundesrepublik stehen die Grundpfeiler noch, diese sind aber ins Wanken geraten. Die Zweiparteiendominanz scheint gebrochen, die genannten Anzeichen der Destabilisierung in Richtung eines polarisierten Pluralismus sind nicht zu übersehen. Aus dem »Volksparteiensystem« ist ein fluides pluralistisches geworden mit Tendenzen zur Polarisierung und Fragmentierung. Vom polarisierten Pluralismus lässt sich aber weiterhin nicht sprechen.
Die langjährigen Großen Koalitionen in der Zeit seit 2005 haben zudem Zweifel daran aufkommen lassen, ob CDU/CSU und SPD noch als Hauptkonkurrenten im Parteiensystem zu betrachten sind, zumal ja nun möglicherweise eine Neuauflage ins Haus steht. Dennoch müssen auch CDU/CSU und SPD ihre Hoffnungen auf zukünftige Wahlerfolge keineswegs abschreiben. Da die Wahlentscheidung immer kurzfristiger fällt und abhängiger von aktuellen Stimmungs- und Themenlagen sowie situativen personellen Konstellationen geworden ist, sind diejenigen Parteien im Vorteil, die bei virulenten Themen Kompetenzvorteile haben, effektiv Stimmungen und Affekte mobilisieren können oder diejenigen, die den populäreren Spitzenkandidaten stellen.
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