NG/FH:Herr Thierse, versteht der Westen den Osten immer noch nicht?
Wolfgang Thierse: Die Frage ist schwerer zu beantworten als sie gestellt ist. Ich beginne die Antwort mit dem Blick auf den neuesten Sachsen-Monitor mit bestürzenden Ergebnissen. Demokratiemisstrauen, Demokratiefeindschaft geradezu, erhebliche Ressentiments gegen Muslime und Ausländer, generell gegen Minderheiten – und auch ein zunehmender Antisemitismus. Zugleich sagen 74 Prozent der Sachsen, ihnen persönlich gehe es wirtschaftlich gut oder sehr gut. Ich erwähne diesen Befund, um vor einfachen Antworten auf die Frage zu warnen, was mit dem Osten los ist. Demokratiefeindschaft nur aus den sozialen und ökonomischen Verhältnissen heraus zu erklären, ist zu oberflächlich.
Wo liegen die tieferen Wurzeln?
Da müssen wir über drei Faktoren reden. Erstens tiefe Prägungen und das Erbe der DDR, zweitens die friedliche Revolution und Wiedervereinigung 1989/90, drittens die Härte des Umbruchs in den 90er und 2000er Jahren…
Das liegt alles weit zurück, warum dann jetzt diese massive Wendung nach rechts?
»Viele der Ostdeutschen bringen eine eigentümlich ambivalente Staatsfixierung mit.«
Man muss es beschreiben, um zu begreifen, was heute los ist. Ich fange mit den alten Prägungen an: Viele der Ostdeutschen bringen eine eigentümlich ambivalente Staatsfixierung mit. Die DDR war ein obrigkeitsorientierter Staat, selbstverantwortete Bürgerschaft zu entfalten war nicht möglich. Man konnte Eingaben an den Staat richten, angeordnet hat die SED. Gleichzeitig hat genau diese autoritäre Prägung auf ihrer Rückseite ein tiefes Misstrauen gegenüber dem SED-Staat bewirkt. Und daneben war ein tiefes Gemeinschaftsgefühl mit dem hohen Wert der Solidarität eine wichtige sozialkulturelle Prägung der DDR. Daraus erwächst ein – wie ich meine – eher befremdliches Demokratieverständnis: die Sehnsucht nach Volksabstimmungen, nach direkter Demokratie und zugleich das Nicht-Verstehen, dass Demokratie ein Regelwerk und ein Institutiongefüge der Gewaltenteilung ist, derer man sich bedienen muss, um die eigenen Interessen zu vertreten.
Reden wir hier von einem Nicht-Wollen oder von einem Nicht-Können?
Es ist ein Missverständnis von Demokratie, sie nur direkt als Durchsetzung von Volkes Wille zu denken. Die Erwartung ist immer noch eine autoritäre: Die sollen’s richten. Die da oben und die im Westen sind schuld, dass es mir schlecht geht oder ich mich nicht wohl fühle. Es ist zugleich aber eine Erwartung, die viel mit Gemeinschaftsgefühl und Solidarität zu tun hat. Nun leben wir plötzlich in einer Welt der Freiheit und Demokratie, die eine Welt der Auseinandersetzung ist, der Interessenkonflikte. In der wird erwartet, dass man für sich selbst Verantwortung übernimmt.
In der man das dann aber auch verlangen muss?
Ja, das muss man. Aber dabei muss der Westen auch verstehen, dass 1989/90 beides war: eine friedliche Revolution und ein ökonomisch-moralischer Zusammenbruch. Die Revolution ist zunächst von einer Minderheit begonnen worden, eine Mehrheit hat sich angeschlossen. Sie mündete dann ganz realistisch in den Prozess der Wiedervereinigung, der Prozess der Selbstermächtigung bekam im Laufe des Jahres 1990 dabei eine nationale Prägung. Helmut Kohl, der damalige Bundeskanzler, hat diesem Prozess parteipolitisch genial eine patriarchale Wendung gegeben: Ich nehme Euch an die Hand und führe Euch ins Wirtschaftswunderland. Es wird schnell gehen. Es wird nicht so weh tun. Eine Mehrheit wollte das glauben – und die unvermeidliche Enttäuschung folgte in Wellen, bis heute.
Im Westen haben inzwischen manche das Gefühl, im Osten sei ein kultureller Prozess ausgelassen worden, den es für eine stabile Demokratie braucht. Ist das arrogant?
Nein, durchaus nicht. Denn kulturelle Prozesse brauchen Zeit. Mentalitäten entstehen und verändern sich langsam. Der kulturelle Prozess musste und muss nachgeholt werden, mit all seinen Mühseligkeiten.
Wird es in Wahrheit jetzt nicht eher schlimmer mit der kulturellen Differenz?
»Aus dem Erleben der Entwertung eigener Lebensleistungen entsteht viel Abwehr, Unsicherheit und Zukunftsangst.«
Wir erleben jetzt weltweit eine neue Welle von höchst dramatischen Veränderungen, die im Osten auf Menschen trifft, die in den 90er und 2000er Jahren schon höchst schmerzliche Veränderungen zu überstehen hatten, das Erleben der Entwertung von eigenen Lebensleistungen inbegriffen. Da entsteht jetzt viel Abwehr, viel Unsicherheit und Zukunftsangst. Und eine größere Bereitschaft, den einfachen Botschaften zu glauben: dass die Veränderung gar nicht notwendig wäre, dass die Grenzen wieder dichtgemacht werden könnten, dass Europa nicht notwendig ist und die ökologische Katastrophe eine Erfindung. Nach diesen 30 Jahren gibt es eine unübersehbare West-Ost-Differenz der Sicherheiten und Gewissheiten.
Aber die AfD-Sympathisanten sind ja nicht einfach nur erschöpft, sie wollen aktiv und teils aggressiv dagegenhalten. Was ist die demokratische Antwort darauf?
Da hilft nur, sichtbar zu machen, dass demokratische Politiker um die Dramatik und die Auswirkungen wissen. Dass sie aber nicht das Versprechen machen, man könne sich dem Wandel verweigern – sondern ihn so gestalten, dass es ein Zukunftsgewinn für das ganze Land wird, mit einigermaßen fairer Verteilung der Chancen und Lasten zwischen oben und unten, Ost und West.
Wenn den demokratischen Parteien derart misstraut wird: Wer sonst kann dann neu zusammenführen?
Parteien und Regierungen müssen das auch, aber die Aufgabe geht weit über die Parteien hinaus. Es ist eine Aufgabe der Medien, der kulturellen Kräfte in der Gesellschaft – was ja eine der Schwierigkeiten ist. Die Kommunikation in der Gesellschaft, zwischen oben und unten genauso wie zwischen Ost und West ist auf eine dramatische Weise gestört und zersplittert. Mein Ausgangspunkt bleibt der offensichtliche Widerspruch, dass der schmerzliche Prozess der vergangenen 30 Jahre von einem Gutteil der Ostdeutschen ja einigermaßen erfolgreich bestanden ist – und diejenigen, die jetzt bereit sind, AfD zu wählen, nicht einfach nur die sind, die ökonomisch und sozial unter die Räder gekommen sind. Da sind Jüngere dabei, Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, denen es nur noch um die Abwehr von Veränderungen geht.
Auch so gesehen tatsächlich ein Kulturkampf?
Ich nenne ein paar Stichworte: Globalisierung, Migration, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz, Kriege, die ökologische Herausforderung. Auch in einem engeren Sinne kulturelle Veränderungen: die Pluralisierung und Diversifizierung unserer Gesellschaft...
…da sagen nun Leute plötzlich sehr offensiv, sie wollen all das nicht?
Es wäre einfach, wenn es ihnen nur um konkrete politische Maßnahmen ginge. Da könnte man ja sagen, der eine oder andere Punkt ist unvermeidlich, der andere weniger. Die Investition in Zukunftsunternehmen in Ostdeutschland gibt es ja, die Umstrukturierung weg von der Braunkohle ist im Gang. Das dauert natürlich alles und die Unsicherheitsphase ist leider nicht zu überspringen. Aber man sollte sie nicht auch noch dadurch forcieren, dass man von den Menschen auch noch verlangt, dass sie etwa die ihnen vertraute Sprache ändern sollen.
Weil das alles nicht zusammenpasst, ist die Politik so ratlos?
Mit dem Beschreiben der Ursachen benenne ich ja gleichzeitig die Schwierigkeit der Antwort. Am Wichtigsten ist immer das Erklären: so viel wie möglich erklären, was man tut und warum man es tut. Ich meine aber auch, dass wir eine Verlangsamung von kulturellen Veränderungsprozessen brauchen. Deswegen ist es wichtig, auch Migrationsprozesse zu steuern und sichtbar zu machen, dass der Staat Subjekt des Geschehens ist. Nicht hilfloses, zerstrittenes Objekt. Das ist wichtig. Bis weit in die Mitte der Gesellschaft, gerade unter Ostdeutschen, hat sich das Gefühl verbreitet, dass ihnen das eigene Land fremd wird. Das betrifft alle Formen der Diversifizierung unserer Gesellschaft. Die Einheimischen müssen die Chance bekommen, mitzukommen. Dass sie »langsamer« sind, macht sie noch nicht zu Reaktionären.
Es gibt noch eine andere offensichtliche Ost-West-Differenz, die aktuell an Bedeutung gewinnt: das Verhältnis zu den USA und zu Russland. Spaltet das zusätzlich? Oder kann es vielleicht sogar helfen, außenpolitisch Brücken zu bauen?
Auch das ist im Osten eigentümlicherweise widersprüchlich und selbst mir nach 40 Jahren DDR nicht ganz einfach verständlich. Richtig ist die Beobachtung, dass der Mehrheit der Ostdeutschen die USA viel ferner sind. Man kann da durchaus von einem tiefsitzenden Antiamerikanismus sprechen, freundlicher ausgedrückt: von einer Fremdheit.
Gegenüber Russland gibt es einerseits die Erfahrung der Besatzungsmacht, man hatte Russisch als Sprache zu lernen, die Mehrheit tat das nur mit Widerwillen. Bis in die Reihen der SED gab es ein zwiespältiges Verhältnis, erkennbar in der doppeldeutigen Formel »die Freunde«: Sie waren die Größeren, wir sahen uns aber als die Intelligenteren. Andererseits war doch eine emotionale Nähe zur russischen Kultur und Literatur da. Und es gab und gibt bis heute wirtschaftliche Beziehungen. Wichtig ist auch unser Schuldgefühl, als Deutsche für die Millionen Opfer in der Sowjetunion verantwortlich zu sein, also eine moralische Verpflichtung gegenüber Russland zu haben. Und zum Schluss will ich auf die doch sehr verständliche Friedenssehnsucht verweisen.
Dennoch ein weiterer Fremdheitsfaktor gegenüber der Bundespolitik?
Auf dieser Klaviatur spielen AfD und BSW. Da wird dann gerne vergessen, dass vermutlich die Hälfte der sowjetischen Kriegsopfer Ukrainer waren.
Reden wir da nicht vielleicht gleichzeitig über das Ost-West-Verhältnis in Europa, wenn wir über Deutschland reden?
»Der grundlegende kulturelle Identitätskonflikt zwischen Herkunft und Perspektive beschäftigt nicht nur Europa, er beschäftigt die Welt.«
In Polen, Tschechien, den baltischen Republiken oder Ungarn wurde etwas sichtbar, was lange zu befürchten war. In einem gewissen Ausmaß musste der Emanzipationsprozess vom Sowjetsystem nationale Züge tragen. Präziser gesagt: Er musste auch die Form des Nationalen annehmen. Meine Besorgnis war und sie bestätigt sich jetzt: Das darf nicht zum Inhalt werden. Auf unterschiedliche Weise ist das leider passiert, in Ostdeutschland als Minderheitsphänomen. Es ist eine Entwicklung auf dem Weg des großen Transformationsprozesses vom kommunistischen System zum System der Freiheit und kulturellen Globalisierung. Dieser grundlegende kulturelle Identitätskonflikt zwischen Herkunft und Perspektive beschäftigt nicht nur Europa, er beschäftigt die Welt. Ausgetragen nicht selten als Konflikt gegen den Westen, als dessen Inbegriff die USA erscheint. Diese identitätspolitische Auseinandersetzung wird auch in Europa ausgetragen.
Insofern bremst der osteuropäische Nationalismus Europa insgesamt?
Ich bin vorsichtig, das sofort Nationalismus zu nennen. Es sind unterschiedliche Geschwindigkeiten – und auch im Westen gab und gibt es ja immer Gegenströmungen. Es ist ein Grundkonflikt der Moderne. Und ich verweigere die einfache Parteinahme, dass jeder Fortschritt der Moderne zu begrüßen ist. Sie ist nicht an sich immer schon gut und richtig und menschengemäß. Das muss im Konflikt ausgetragen werden. Es hat schließlich in der kapitalistischen Moderne der vergangenen 300 Jahre Fortschritte gegeben, die jetzt zur Gefährdung des Globus führen und das Überleben der Menschheit gefährden. Das muss nicht in Nationalismus enden. Entscheidend ist, ob die Welt – und Europa voran – die Kraft hat, diesem Prozess eine andere Prägung zu geben.
Es mündet gerade aber in einem Rückfall zu autoritärem und nationalwirtschaftlichem Denken…
»Was wir brauchen, ist eine demokratische Überlebenspolitik.«
Ohne Zweifel. Aber es ist nötig, dass wir angesichts des Erschreckens über die ökologische Herausforderung und die Wiederkehr des Krieges nochmal neu nachdenken: Welche Gestalt soll die weitere Entwicklung der Globalisierung haben? Das muss nicht Rückfall bedeuten – zum Beispiel, wenn wir überlegen, was wir bei uns selbst herstellen sollten, um nicht den Gefahren des Weltmarktes ausgesetzt zu sein und die ökologischen Kosten zu verringern. Was wir brauchen, ist eine demokratische Überlebenspolitik. Gelingt das in den Gesellschaften der Freiheit oder werden andere politische Systeme darin erfolgreicher sein. Wer bewältigt es besser? Das ist der künftige Grundkonflikt.
Gibt es Themen, die uns dabei nach all den Spaltungen wieder einigen können?
Das Überlebensthema muss uns einigen. Die große Frage ist, ob unsere offene Demokratie sich bewährt, angesichts der neuen Herausforderung und härterer innergesellschaftlicher und globaler Verteilungskonflikte. Das wird nicht nur in den Metropolen entschieden, sondern vor allem auch abseits der großen Städte und eben auch in Ostdeutschland. Dort gilt es diejenigen zu stärken, die sich mutig für die Verteidigung der offenen Demokratie engagieren. Ich wünsche mir jedenfalls deutlich mehr Ermutigung für die Mutigen, deutlich mehr Aufmerksamkeit für ihre Probleme, Ängste und Hoffnungen.
Zum Weiterlesen: Soziale Demokratie als Überlebenspolitk. Wolfgang Thierse und Thomas Meyer im Gespräch über die politischen Zeitläufe (Hg. von Klaus-Jürgen Scherer und Wolfgang Schroeder), Schüren, Marburg 2023, 192 S., 20 €.
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