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Charles Baudelaire zum 150. Todestag Begründer der Modernität

Les amants des prostituées

Sont heureux, dispos et repus;

Quant à moi, mes bras sont rompus

Pour avoir étreint des nuées.

 

Die Anfangszeilen des Gedichtes Die Klagen eines Ikarus von Charles Baudelaire. Auch für ihn, den Dichter der Blumen des Bösen, gilt, dass selbst die schönsten Nachdichtungen immer nur vage Entsprechungen des Originals sind, im besten Fall: gelungene Annäherungen. Dabei ist Baudelaire oft ins Deutsche übersetzt worden, nicht selten von berühmten Kollegen: Stefan George, Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke. Letzterer hat diese Verse so übersetzt:

 

Die bei den Dirnen trafen

Es glücklich, sind satt und frei;

Mir brachen die Arme entzwei,

Weil ich bei Wolken geschlafen.

 

Die Blumen des Bösen, im Original Les fleurs du mal, ist die berühmteste Gedichtsammlung des 19. Jahrhunderts. Mit ihr wurde Baudelaire zu dem einzigen französischen Lyriker, der weithin auch im Ausland gelesen wird. Die Gründe sind vielfältig. Sie liegen in der Prägnanz des Titels, in dem reichen und neuen Bildervorrat dieser Gedichte, nicht zuletzt im Glanz des Schönen, von dem auch das Hässliche hier umgeben ist. Baudelaires technische Meisterschaft hat ihn zum unerschöpflichen Studiengegenstand für spätere Poeten gemacht. Er ist der Dichter einer gleichsam zeitlos gebliebenen Modernität.

Er lebte in einer Zeit schwindender Gewissheiten und eines sterbenden Glaubens, von Fortschritten, welche die Menschen entmündigten, und von Gewinnen, die mit Verlusten erkauft wurden. So wurde er zum Poeten und Propheten einer Veränderung, die er nicht als Verbesserung empfand, ohne von ihr wegzusehen: »Dem Wind der Zukunft«, schrieb er, »leiht niemand sein Ohr«. Sich selbst sah er, nicht ohne Hochmut, als Riesen unter Zwergen, wie in seinem Gedicht vom König der Vögel, dem Albatros (übersetzt von Stefan George):

 

Der dichter ist wie jener fürst der wolke

Er haust im sturm ∙ er lacht dem bogenstrang.

Doch hindern drunten zwischen frechem volke

Die riesenhaften Flügel ihn am gang.

 

Begründer der Modernität: Unter den Lyrikern könnte nur Edgar Allan Poe, der zwölf Jahre ältere Amerikaner, dem Dichter der Fleurs du mal diesen Titel streitig machen. Bei beiden Autoren findet man den romantischen Wunsch nach Erweiterung der Seins-Erfahrung durch das Unheimliche, verbunden mit einem quasi wissenschaftlichen Anspruch und hoher Rationalität. Baudelaires Werk weist wie das Werk von Poe das Wirken einer Intelligenz und eines Willens zur Intelligenz auf, die sich auf die Nachtseiten der menschlichen Existenz richten, auf das Düstere, Makabre, Verbrecherische und psychologisch Abseitige. Kein Zufall, dass Baudelaire der europäische Entdecker Poes war und sein erster Übersetzer. Und er begründete ein Jahrzehnt später den französischen Richard-Wagner-Kult, nachdem er in der Venusberg-Musik des Tannhäuser, 1861 in Paris uraufgeführt, die künstlichen Paradiese der eigenen Fantasie wiedergefunden hatte.

Dandytum und Schönheitskult

Baudelaires Dichtung ist von seinem eigenen Leben nicht zu trennen. Die Umstände seiner Kindheit kommen einer psychoanalytischen Deutung des Werkes beinahe zu gut entgegen. Charles wurde 1821 als Sohn eines Malers und seiner 35 Jahre jüngeren Frau geboren. Der Vater starb, als Charles sechs Jahre alt war: für ihn ein schwerer Schlag, genauso wie die zweite Ehe der Mutter nach kurzer Trauerzeit. Der Sohn nahm sie offenbar mit dem gleichen Entsetzen auf wie Hamlet in William Shakespeares gleichnamigem Stück die rasche Wiederverheiratung seiner Mutter. Mutter und Stiefvater widersetzten sich den literarischen Ambitionen des Sohnes, entzogen ihm sein Erbe und stellten ihn, als er ihren Weisungen nicht gehorchte, unter die Aufsicht eines Vormunds. Baudelaire schrieb verzweifelt an die Mutter: »Sind wir allein, magst Du mich behandeln, wie es Dir beliebt – aber alles, was meine Freiheit antastet, stoße ich erbittert zurück (…). Dies lass’ Dir als erstes gesagt sein, dass Du mir wissentlich und willentlich ein unendliches Leid zufügst, dessen ganze Qual Du nicht ermisst.«

Geschrieben 1844. Aber noch 13 Jahre später, im Eingangsgedicht der Fleurs du mal, hat Baudelaire sich als einen von der Mutter Verurteilten, ja Verfluchten beschrieben.

 

Wenn nach dem Urteilsspruch der obersten Gewalten

In diese graue Welt der Dichter niedersteigt,

Ringt seine Mutter wild die Hände, die geballten,

Und hadert laut zu Gott, der selber Mitleid zeigt:

 

– »Ach! lieber hätte ich ein Schlangennest geboren,

Als daß ich obendrein dies Spottgebild ernährt.

Verwünschte Nacht und Lust, so flüchtig und verloren,

Die meinem Leibe solch verhaßte Frucht beschwert! …

 

Bereits mit 22 Jahren hatte Baudelaire einen Großteil der Gedichte entworfen, die 15 Jahre später in seinen Gedichtzyklus eingingen, dann freilich als Teile eines architektonisch sorgfältig komponierten Ganzen, in dem jede Gedichtgruppe und jedes einzelne Gedicht seinen wohlerwogenen Platz hat. Mit dem Erscheinen des Buches war es dem Dichter nicht eilig. Zunächst wollte er dichterisch leben, das heißt als Dandy von erlesenem Geschmack und exzentrischem Gehabe. Als Vorläufer des neuen Schönheitskultes entwickelte er eine Theorie des Dandytums: »Er ist ein Kult mit sich selbst. Diese Menschen entstammen demselben Ursprung, ob sie sich nun verfeinert, schön, Dandys der Löwen nennen – sie alle haben am gleichen Geist der Opposition und der Auflehnung teil; alle sind Repräsentanten dessen, was als Bestes im menschlichen Hochmut liegt, dieses bei den Menschen von heute allzu seltenen Bedürfnisses, das Gemeine zu bekämpfen und zu zerstören.«

Zum Dandytum Baudelaires gehörte seine Geringschätzung der Politik. Modernität hatte für ihn nichts mit Demokratie und sozialer Emanzipation zu tun, und für den Begriff des »Fortschritts« hatte er nur Verachtung übrig: »Was gibt es Absurderes als den Fortschritt, da der Mensch, wie das tägliche Geschehen beweist, dem Menschen immer ähnlich und gleich bleibt, d. h. immer im Zustand der Wildheit verharrt! Was sind die Gefahren der Wälder und Prärien gegen die Kämpfe und täglichen Konflikte der Zivilisation? Ob der Mensch nun auf dem Boulevard Gimpel fängt oder in unbekannten Wäldern seine Beute durchbohrt – ist er nicht immer der ewige Mensch, d. h. das vollkommenste Raubtier?«

Der Dichter als Priester

Für Baudelaire steht der Dichter gleichberechtigt neben dem Soldaten und dem Priester – es sind die drei Erscheinungsformen des Heiligen. Zwar kreisen die Gedichte der Fleurs du mal oft um Armut, Elend und billige Prostitution, um Menschen aus den unteren Schichten der sozialen Hierarchie. Ihnen weiß sich der Dichter als Außenseiter der Gesellschaft verbunden, in dem Bewusstsein, zugleich ein Auserwählter zu sein. Er verherrlicht die Liebe in ihrer rein körperlichen Erscheinungsform, bis zur Verbindung von Wollust und Verbrechen: »Ich aber sage: die einzige und höchste Wollust der Liebe liegt in der Gewissheit, das Böse zu tun. Und Mann und Weib wissen von Geburt an, dass das Böse alle Wollust enthält.«

Die sexuelle Liebe – für Baudelaire gibt es keine andere – ist unauflöslich verbunden mit dem Bewusstsein der Sünde. Daher so viele Bemerkungen in seinen intimen Blättern, so viele Verse in seinen Gedichten, in denen sich durch die Verdammung der Liebe sein Hass auf die Frau ausdrückt, zugleich der Wunsch nach Rache für die zeitlebens empfundene Tyrannei durch die Frau – wie in dem berühmten Gedicht An jene, die allzu fröhlich ist, das gleich nach Erscheinen der Fleurs du mal verboten wurde.

 

So möchte ich in einer Nacht,

Dann, wenn sich nahn der Wollust Zeiten,

Zu deines Leibes Kostbarkeiten

Mich feige schleichen, lautlos, sacht,

 

Dein übermütiges Fleisch zu plagen,

Deinen verschonten Schoß zu schänden

Und unerwartet deinen Lenden

Tief klaffend eine Wunde schlagen,

 

Und, süßes, schwindelndes Genießen!

In diese Lippen, die noch feuchten,

Die glänzender und schöner leuchten,

Dir, Schwester, meine Gifte gießen!

 

Baudelaire ist in der Geschichte der Lyrik eine epochale, wenn auch nicht immer anziehende Figur. Seine Gedichte sind historische Zeugnisse der Entzauberung, wie sie das 19. Jahrhundert mehrfach bereithält. Charles Darwin, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud sind dafür die wichtigsten Namen. Diesen Meisterdenkern lässt sich Baudelaire als Lyriker an die Seite stellen. Seine Blumen des Bösen sind nicht mehr von Göttern oder Musen inspiriert, sie haben mit der Erfahrung von Schmerz und Krankheit, von Tod und Verwesung zu tun. Mit Baudelaire verliert die Lyrik ihre Unschuld und ihren metaphysischen Hintergrund. Sie ist infiziert von Krankheit, befallen von der Syphilis, und ihre Untersuchungsmethode gleicht der Autopsie des Arztes in der Pathologie. Mochte sich Baudelaire selbst auch als Priester fühlen, in den Augen seiner Leser büßte die Lyrik hier ihre Heiligkeit ein.

Moralfremde Kunst

Die Blumen des Bösen erschienen am 25. Juni 1857. Wenige Wochen zuvor war Gustave Flaubert wegen seines Romans Madame Bovary von der Justiz des Kaiserreichs angeklagt und nur mit Worten tückischer Missbilligung freigesprochen worden. Nun erhob derselbe Staatsanwalt Anklage gegen das Buch Baudelaires, das er, ohne seine literarische Qualität zu bestreiten, blasphemisch und unmoralisch nannte. Autor und Verlag wurden zu Geldstrafen verurteilt, außerdem ordnete das Gericht die Streichung von sechs Gedichten an. Das Schlüsselwort des Urteils war das Wort »Realismus«. Oder – mit den Worten des Staatsanwalts Ernest Pinard – »jenes krankhafte Fieber, das dazu führt, alles zu schildern, alles zu beschreiben, alles zu sagen«.

Durch den Prozess wurde Baudelaire zu einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, wenn auch von zweifelhaftem Ruf. Die Brüder Goncourt notierten wenige Tage nach dem Urteil in ihrem Tagebuch: »Baudelaire soupiert nebenan, ganz wie ein zum Tode Verurteilter. Der Kopf eines Verrückten, die Stimme glatt wie eine Klinge (…) Verteidigt sich ziemlich hartnäckig und mit widerspenstiger Leidenschaft gegen den Vorwurf, er habe in seinen Versen die Sitten verletzt.«

Für die zweite Auflage der Fleurs du mal, die 1861 erschien, entwarf Baudelaire mehrere Vorworte, bis er die Nutzlosigkeit aller Erklärungen erkannte. Zuletzt ergab er sich in seine Rolle wie in ein ihm zugedachtes Schicksal: »Keusch wie Papier, nüchtern wie Wasser, zur Ergebung bereit wie eine Abendmahlsgängerin, ungefährlich wie ein Opfer, würde es mir nicht missfallen, als ausschweifender Lüstling, als Trunkenbold, Gotteslästerer und Mörder zu gelten.«

Bei allem Unverständnis und aller Feindseligkeit, auf die er stieß, zweifelte Baudelaire niemals an der Zukunft seines Werkes. Wenige Tage nach Erscheinen der Fleurs du mal schrieb er an seine Mutter: »Sie wissen, dass Literatur und Künste für mich moralfremde Ziele verfolgen und dass die Schönheit des Entwurfs und des Stils mir genügen. Aber das Buch, dessen Titel Blumen des Bösen alles sagt, ist, wie Sie sehen werden, von einer finsteren und kalten Schönheit; es ist mit Raserei und Geduld geschrieben worden. Überdies liegt der Beweis für seinen positiven Wert in dem Bösen, das man von ihm sagt.«

Man hat gezählt, dass kein Wort in Baudelaires Buch häufiger vorkommt als das Wort »l’abîme«, »Abgrund«. Auch in seinen späten Tagebuchnotizen heißt es: »Im Seelischen wie im Körperlichen habe ich immer die Empfindung des Abgrundes gehabt, nicht allein des Abgrundes des Schlafes, sondern auch des Abgrundes der Tätigkeit, des Traumes, der Erinnerung, der Begierde, des Bedauerns, der Reue, des Schönen.«

Geschrieben einige Jahre, bevor der 46-Jährige in Namur die Sprache verlor, um danach länger als ein Jahr in Agonie hinzudämmern. Der Schrecken, das Grauen, das Chaos der Welt: Für Baudelaire waren es vertraute Erfahrungen, vor denen er bis zuletzt keine Zuflucht, keine Rettung fand, bis zum leiblichen und metaphysischen Ekel vor sich selbst. In seinen Gedichten fand er dafür einen einzigartig subtilen Ausdruck, indem er das Erlebnis einer irrationalen Welt in das Gewand der Schönheit und einer magischen Rationalität kleidete, wie in dem Sonett de profundis clamavi (hier in der Übersetzung von Stefan George).

 

Zu dir ∙ du einzig teure ∙ dringt mein schrei

Aus tiefster schlucht darin mein herz gefallen ∙

Dort ist die gegend tot ∙ die luft wie blei

Und in dem finstern fluch und schrecken wallen.

 

Sechs monde steht die sonne ohne warm.

In sechsen lagert dunkel auf der erde.

Sogar nicht das polarland ist so arm ∙

Nicht einmal bach und baum noch feld noch herde.

 

Erreicht doch keine schreckgeburt des hirnes

Das kalte grausen dieses eis-gestirnes

Und dieser nacht ∙ ein chaos riesengross!

 

Ich neide des gemeinsten tieres los

Das tauchen kann in stumpfen schlafes schwindel …

So langsam rollt sich ab der zeiten spindel!

 

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