Die große Reise begann am 5. Juni 1799, und sie dauerte fast fünf Jahre. Es ist keine Übertreibung, wenn man sie die ertragreichste Reise in der Geschichte der neueren Naturforschung nennt. Sie erweiterte die geistige Welt des deutschen Idealismus durch die Kenntnisse des realen Universums. Der sie im Alter von 30 Jahren antrat, war Alexander von Humboldt, der jüngere Bruder Wilhelms, der bedeutendste und universellste Naturforscher, den Deutschland hervorgebracht hat. Er steht an einem Kulminations- und Wendepunkt der Wissenschaftsgeschichte, von Entdeckergeist erfüllt, der Empirie, experimentellen Analyse und präzisen Detailbeobachtung hingegeben, fern mystischer Naturspekulation, wie sie in seiner Epoche noch Schelling praktizierte. Dabei verlor er das eigentliche Ziel aller Forschungsarbeit nicht aus den Augen: den Zusammenhang der Phänomene der Natur, die Einheit einer Naturbetrachtung, die den lebendigen Gegenstand nicht auf dem Seziertisch zergliedert. So zeigen Humboldts Reiseberichte und Schriften ungeachtet ihrer sachlich-wissenschaftlichen Gediegenheit stets eine gleichsam dichterische Auffassung der Natur, die sie auch zu großartigen Erzählwerken macht.
Alexander von Humboldt wurde 1769 in Berlin als Sohn eines preußischen Offiziers und kronprinzlichen Kammerherren geboren. Zusammen mit seinem Bruder erhielt er eine vorzügliche, auch naturwissenschaftlich fundierte Ausbildung durch Hauslehrer, unter ihnen Johann Heinrich Campe, der zu seiner Zeit berühmte Bearbeiter des Robinson Crusoe. Er studierte in Frankfurt an der Oder, Berlin und Göttingen, lernte Georg Forster kennen, der schon als 18‑Jähriger zusammen mit James Cook eine Weltreise gemacht und sie in einem bedeutenden Buch beschrieben hatte. Mit Forster reiste Humboldt durch mehrere europäische Länder, veröffentlichte erste wissenschaftliche Studien auf dem Gebiet der Mineralogie und Botanik, übernahm die Leitung des Bergwesens in Schlesien, wurde mit Goethe und Schiller bekannt und lernte, noch nicht 30-jährig, in Paris Aimé Bonpland kennen, mit dem er 1799 zu seiner fünfjährigen Südamerika-Reise aufbrach.
Sie führte ihn nach Venezuela, Kuba, Mexiko, Kolumbien, Ecuador und Peru und erschloss einen halben Kontinent für die wissenschaftliche Forschung. Am Tag der Abreise schrieb Humboldt in einem Brief: »Ich werde Pflanzen und Fossilien sammeln, mit vortrefflichen Instrumenten astronomische Beobachtungen machen können; – ich werde die Luft chemisch zerlegen (...) Das alles ist aber nicht der Hauptzweck meiner Reise. Auf das Zusammenwirken der Kräfte, den Einfluss der unbelebten Schöpfung auf die Tier- und Pflanzenwelt, auf diese Harmonie sollen stets meine Augen gerichtet sein!«
Die Reise wurde vom spanischen König protegiert, der Humboldt und Bonpland mit Passierscheinen für sämtliche spanische Kolonien ausstattete. An Bord der Fregatte Pizarro erreichten die beiden nach einer Zwischenstation auf den Kanarischen Inseln am 16. Juli 1799 die Küste von Venezuela. Dort erforschten sie zunächst die Küstengebiete zwischen Cumaná und Caracas und begannen dann Ende März 1800 die denkwürdige Fahrt auf dem Orinoko, die fast vier Monate dauerte: von den Katarakten von Atures bis zu der tief im Landesinneren gelegenen Mission von Esmeralda, wohin bis dahin nur Missionare, aber keine Naturforscher vorgedrungen waren. Sie entdeckten den Rio Casiquiare, die Verbindung zwischen dem Orinoko und dem Rio Negro, gelangten bis an die Grenze Brasiliens und brachten erste Gewissheit über Ursprung und Lage der großen Urwaldflüsse des Kontinents. Von Venezuela reisten Humboldt und Bonpland in die Karibik, von dort zurück nach Cartagena in Kolumbien, Ausgangspunkt für eine dreimonatige Schiffsreise auf dem Rio Magdalena. Von Bogotá aus stießen die beiden nach Ecuador und Peru vor, erforschten die Stätten alter Inkakultur, unternahmen Erstbesteigungen des Vulkans Pichincha und des 6.270 m hohen Chimborazo – für die damalige Zeit enorme Leistungen. Humboldt erweiterte in großem Ausmaß seine Kenntnisse über Vulkantätigkeit, stieg in zahlreiche Krater hinab und sammelte Material über die Beschaffenheit des Erdinneren. Zu Schiff ging es dann von Ecuador nach Acapulco in Mexiko. Forschungen über die aztekische Geschichte Mexikos, die sich über neun Monate hinzogen, schlossen sich an, bevor Humboldt und Bonpland von Vera Cruz aus zum zweiten Mal nach Kuba und von dort über die USA nach Europa reisten. In Washington waren die inzwischen berühmten Forschungsreisenden einige Wochen Gäste von Präsident Jefferson.
Im September 1804 erreichten sie wieder den alten Kontinent, mehr als fünf Jahre nach dem Aufbruch in die Neue Welt. Neben der Erforschung von Geografie, Geologie und Klima waren Tausende von bis dahin unbekannten Tieren und Pflanzen der bis heute noch nicht völlig ausgeschöpfte Ertrag dieser Reise. Ihn sammelte Humboldt nach der Rückkehr in dem monumentalen, in französischer Sprache geschriebenen Werk mit dem Titel Voyages aux régions équinoxiales du Nouveau Continent, zu Deutsch: »Historischer Bericht über die Reise in die Äquinoktial-Gegenden des neuen Kontinents«. Dieser erschien in 36 Bänden in Paris zwischen 1805 und 1834. Er enthielt in vier Bänden den eigentlichen Reisebericht auf der Grundlage von an Ort und Stelle entstandenen Tagebuchaufzeichnungen, ferner einen geografischen Atlas und zahlreiche Bände mit »pittoresken Zeichnungen« auf mehr als 1.300 Folio-Kupfertafeln – das größte private Reisewerk der Geschichte. Auch als schriftstellerische Leistung bleibt Humboldts Bericht singulär. Er fand darin eine glückliche, später kaum mehr erreichte Synthese von erzählerischer Lebendigkeit und wissenschaftlicher Sachlichkeit, da er weder der Fantasie die Zügel schießen ließ noch philosophischer Spekulation den Vorrang gab.
Die Quintessenz der Reise war Humboldts 1808 erschienenes Buch Ansichten der Natur, das er seinem Bruder Wilhelm widmete. In der Vorrede hat er die Prinzipien seiner Naturbetrachtung und seine literarische Zielsetzung dargelegt. Sie ist für die Epoche der klassischen Naturwissenschaft so aufschlussreich, dass einige Sätze hier zitiert werden müssen: »Schüchtern übergebe ich dem Publikum eine Reihe von Arbeiten, die im Angesicht großer Naturgegenstände, auf dem Ozean, in den Wäldern des Orinoco, in den Steppen von Venezuela, in der Einöde mexikanischer und peruanischer Gebirge, entstanden sind. Einzelne Fragmente wurden an Ort und Stelle niedergeschrieben, und nachmals nur in ein großes Ganzes zusammengeschmolzen. Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich geschlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen.«
Die Zeitumstände von der Französischen Revolution bis zu den Kriegen Napoleons wurden dabei nicht außer Acht gelassen: »Überall habe ich auf den ewigen Einfluss hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralische Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt. Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidmet. ›Wer sich herausgerettet aus der stürmischen Lebenswelle‹, folgt mir gern in das Dickicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andenkette.« Das war eine Anspielung auf die Lage Preußens nach der Niederlage gegen Napoleon. Andererseits fühlte sich Humboldt, der viele Jahre seines Lebens in Paris verbracht hatte, zutiefst der französischen Kultur verbunden. Er hat noch einige Verse aus Schillers Braut von Messina hinzugefügt:
Auf den Bergen ist Freiheit! Der Hauch der Grüfte
Steigt nicht hinauf in die reinen Lüfte;
Die Welt ist vollkommen überall,
Wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.
Zweifellos hat Goethe auf Humboldts Verhältnis zur Natur einigen Einfluss gehabt. Sie kannten einander seit 1794 – Goethe war damals 45, Humboldt 25 Jahre alt –, und sie blieben bis zu Goethes Tod 1832 in engem Kontakt, wovon ihr Briefwechsel Zeugnis gibt. Beide waren im Verhältnis zur Natur von dem Bestreben geleitet, »in der Mannigfaltigkeit die Einheit zu erkennen« – so heißt es in Humboldts Alterswerk Kosmos. Solche Pflanzenmorphologie, von Goethe intuitiv entworfen, fand bei Humboldt eine wissenschaftliche Grundlage. Allerdings war er sich der Gefahr bewusst, die Grenze von der naturwissenschaftlichen zur poetischen Darstellungsweise zu überschreiten. Bereits in der Vorrede merkte er an: »Diese ästhetische Behandlung naturhistorischer Gegenstände hat, trotz der herrlichen Kraft und der Biegsamkeit unserer vaterländischen Sprache, große Schwierigkeiten der Komposition. Reichtum der Natur veranlasst Anhäufung einzelner Bilder, und Anhäufung stört die Ruhe und den Totaleindruck des Gemäldes. Das Gefühl und die Phantasie ansprechend, artet der Stil leicht in eine dichterische Prosa aus.«
Der Zar lud Humboldt nach dessen Rückkehr aus Lateinamerika ein, das asiatische Russland zu bereisen und zu erforschen: auch aus dieser Reise ging ein fundamentales Werk hervor. Die Summe seiner naturwissenschaftlichen Bemühungen war der fünfbändige Kosmos, der zwischen 1845 und 1862 erschien, der letzte Band bereits aus dem Nachlass. Fast 90-jährig starb Humboldt am 6. Mai 1859 in Berlin und wurde im Park des Schlösschens von Tegel beigesetzt.
Erst posthum erschien seine ausgedehnte, kulturgeschichtlich enorm ergiebige Korrespondenz, bestehend aus einigen 10.000 Briefen an Schriftsteller, Gelehrte, Politiker und Fürsten, unter ihnen Goethe, Varnhagen von Ense, die Physiker Bunsen, Gauß und Gay-Lussac sowie Simon Bolivar, der Befreier Südamerikas. Humboldts Namen tragen noch heute einige Gebirge in mehreren Kontinenten, ein Fluss in Nevada, eine Meeresströmung an der Westküste Südamerikas, mehrere 100 von ihm entdeckte oder erforschte Pflanzen, Tiere und Erzeugnisse. Humboldt ist der Begründer der Biochemie, der Geomorphologie, der wissenschaftlichen Landeskunde, der Klimatologie, der Meereskunde und der Pflanzengeografie. Es liegt nahe, in ihm auch den Urvater des ökologischen Denkens zu sehen, gemäß seiner Einsicht: »Alles ist Wechselwirkung.« Er sah voraus, dass Eingriffe in die Umwelt, voran »die Entwicklung großer Dampf- und Gasmassen an den Mittelpunkten der Industrie«, unvorhersehbare Folgen für kommende Generationen haben könnten.
Zu Recht hat man Humboldt den »zweiten Columbus« genannt, nicht nur mit Blick auf das von ihm erforschte Süd- und Mittelamerika. Auf seine Anregung hatte Simon Bolivar schon 1829 Vermessungen in Panama vornehmen lassen, wo der große Kanal zwischen Atlantik und Pazifik 85 Jahre später eröffnet wurde. In Eckermanns Gesprächen mit Goethe ist dessen Bemerkung festgehalten (11. Dezember 1826): »Alexander von Humboldt ist diesen Morgen einige Stunden bei mir gewesen. Was ist das für ein Mann! Ich kenne ihn so lange und doch bin ich von neuem über ihn in Erstaunen. Man kann sagen, er hat an Kenntnissen und lebendigem Wissen nicht seinesgleichen. Und eine Vielseitigkeit, wie sie mir gleichfalls noch nicht vorgekommen ist! Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt.«
Neue Literatur zum Thema: Andreas W. Daum: Alexander von Humboldt. C.H. Beck, München 2019, 138 S., 9,95 €. – Rüdiger Schaper: Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten. Siedler, München 2018, 288 S., 20 €. – Alexander von Humboldt: Der andere Kosmos. 70 Texte, 70 Orte, 70 Jahre. 1789–1859 (hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich). dtv, München 2019, 448 S., 30 €. – Andrea Wulf: Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur (aus dem Englischen von Hainer Kober). C. Bertelsmann, Gütersloh 2016, 560 S., 24,99 €. – Andrea Wulf: Die Abenteuer des Alexander von Humboldt (aus dem Englischen von Gabriele Werbeck). C. Bertelsmann, Gütersloh 2019, 272 S., 28 €.
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