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picture alliance / CHROMORANGE | Christian Ohde

Ist eine Zwei-Staaten-Lösung heute noch realistisch? Comeback der Palästinafrage

In der internationalen Gemeinschaft gilt das Zwei-Staaten-Modell noch immer als alternativlos, wenn über eine nachhaltige Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt debattiert wird. Nach dem 7. Oktober 2023 erfuhr die bis dato eher für Sonntagsreden aufgesparte Idee sogar eine gewisse Renaissance in den Machtzentralen von Washington, Brüssel bis hin nach Berlin. Plötzlich stand die ungelöste Palästina-Frage wieder auf der internationalen Tagesordnung. Der Terror der Hamas hatte auf brutalste Weise die von Israel genährte Illusion platzen lassen, man könne das palästinensische Problem ignorieren, es sei nicht mehr relevant. Das Konzept, den elenden Nahostkonflikt zu managen, ohne ihn zu befrieden, war gescheitert.

Auf die Massaker der Hamas reagierte Israels rechts-national-religiöse Regierungskoalition unter Benjamin Netanyahu mit einem massiven Vergeltungskrieg in Gaza, der alle Befürchtungen übertraf. Die Welt zeigte zunächst vielfach Verständnis. Die US-Administration und auch die deutsche Ampel-Regierung lieferten den Israelis gar Waffen, skizzierten aber, quasi als Ausgleich, ihr politisches Fernziel, wenn die Hamas weitmöglichst zerschlagen sei – eine Zwei-Staaten-Lösung für einen Frieden nach dem Krieg.

Das Recht auf einen palästinensischen Staat

Während der Gazastreifen zunehmend einer zerbombten Trümmerlandschaft glich, mehrten sich die Rufe, das palästinensische Recht auf Selbstbestimmung und staatliche Unabhängigkeit zu stärken. Rund 140 der 193 UN-Mitgliedstaaten hatten bereits Palästina anerkannt. Im Mai 2024 zogen Norwegen sowie die EU-Staaten Spanien, Irland und Slowenien nach. Nicht zuletzt, um dem gebetsmühlenhaften Hochhalten der Zwei-Staaten-Lösung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen. Aber auch, um zu verdeutlichen, dass das Recht auf einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 – also in Gaza und Westbank, einschließlich Ost-Jerusalem – keiner israelischen Zustimmung bedürfe.

Premier Netanyahu hat dies so brüsk wie empört als »Belohnung für Terrorismus« kritisiert. In den Oppositionsreihen erntete er dafür wenig Widerspruch. Noch vor der Sommerpause verabschiedete die Knesset eine Resolution gegen jegliche Gründung eines palästinensischen Staates in »Eretz Israel«. Dem biblischen Land, das die besetzten Gebiete in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland einschließt – von israelischen Nationalrechten »Judäa und Samaria« genannt. Ein Staat Palästina würde »Israels Sicherheit und Zukunft gefährden«, so Gideon Saar, Chef der damals oppositionellen, inzwischen ins Regierungslager gewechselten Partei »Neue Hoffnung«. Saar hatte den Resolutionsentwurf eingebracht. Warum gerade jetzt, führte er ohne Umschweife aus: Der Beschluss signalisiere der internationalen Gemeinschaft, dass »es sinnlos ist, Israel einen palästinensischen Staat aufzudrücken«. Am Ende stimmten nur die arabischen Abgeordneten dagegen.

Die Arbeitspartei zog es vor, dem Votum fernzubleiben. Ihr neuer Hoffnungsträger Yair Golan, der Labour und die linke Meretz im Bündnis »Die Demokraten« vereint hat, scheut sich zwar nicht über »unsere Vision einer Zwei-Staaten-Lösung« zu sprechen. Aber auch unter Führung des heldenhaften Ex-Generals, der unter Lebensgefahr an jenem schwarzen Sabbat im Oktober sich versteckt haltende Israelis aus der Gefahrenzone gerettet hatte, werden den »Demokraten« im Fall von Neuwahlen höchstens zehn Prozent prognostiziert.

Keine Frage, ein Verhandlungsprozesses, hin zu zwei friedlich koexistierenden Staaten, klingt angesichts solcher Mehrheitsverhältnisse utopisch. Umso mehr, als Netanjahu im Kriegsverlauf an Popularität gewonnen hat. Seine rechtsextremen Partner im Kabinett wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben-Gvir propagieren nicht nur offen die Annexion großer Westbank-Stücke, sondern auch eine Besiedlung des nördlichen Gazastreifens.

Die palästinensische Führung unter dem hochbetagten Mahmoud Abbas (89) wiederum besitzt weder Rückhalt im Volk noch die Kraft für eigene politische Initiativen. Ihre Autonomieregierung hat sich zwar auf nachdrückliches Zureden internationaler Geldgeber ein Revitalisierungsprogramm verordnet. Der neue Premier Mohammed Mustafa, ein Ökonom mit beim Weltwirtschaftsforum in Davos geknüpften Kontakten, gibt auch jede Menge Papiere heraus, wie jüngst den Entwurf eines Zwei-Jahresplans für Entwicklung und Reform staatlicher Institutionen. Über Charisma verfügt Mustafa jedoch nicht. Ein palästinensischer Journalist beschrieb ihn als »blasse Figur. Keine Farbe, kein Geschmack, kein Geruch«. Laut Umfragen hätte am ehesten noch Fatah-Anführer Marwan Barghouti das Zeug, als Nachfolger von Präsident Abbas die Palästinenser zu vereinen und der Hamas den Rang abzulaufen. Aber Barghouti, bisweilen als »palästinensischer Mandela« bezeichnet, verbüßt eine lebenslange Haftstrafe in einem israelischen Gefängnis.

Eine Antwort, wie eine Zwei-Staaten-Lösung durchgesetzt werden kann, wenn Israel sich nach Kräften sperrt und die palästinensische Autonomieführung einem Trauerspiel ähnelt, haben ihre westlichen Protagonisten nicht zu bieten. Mal abgesehen von der stillen Einsicht, dass ein Neustart im Friedensprozess erst in einer Post-Netanyahu- und Post-Abbas-Ära Sinn mache.

Neue Dynamik kommt eher aus der Region selbst. Seit dem unerwarteten Sturz des Assad-Regimes in Damaskus nach 54-jähriger Schreckensherrschaft ist die Frage nach der Zukunft Syriens zwar akuter als die Palästinafrage. Ein freies Syrien, das seine ethnische Vielfalt respektiert und Frieden mit seinen Nachbarn sucht, könnte aber die palästinensischen Träume realistischer erscheinen lassen. Wie auch umgekehrt ein Scheitern des so hoffnungsvoll begonnenen syrischen Aufbruchs – etwa im Falle einer repressiven, islamistischen Machtübernahme – dem anti-palästinensischen Lager Argumente liefern würde.

Ohnehin will sich eine Reihe arabischer Staaten an einer Nachkriegsordnung in Gaza nur beteiligen, sofern Israel die Gründung eines palästinensischen Staates nicht mehr ausschließt. Die Arabischen Emirate, Friedenspartner Israels in den Abraham-Abkommen, stellten bereits vor Monaten klar, dass »unser Beitrag im Bemühen um einen Wiederaufbau in Gaza konditional sein wird«, explizit gebunden an Verpflichtungen, eine »Zwei-Staaten-Lösung« zu erreichen. Gemünzt war das Statement auch auf die Hamas, die sich zwar ab und an für einen Staat Palästina erwärmt, aber Israels Existenzrecht nicht anerkennt.

Mag sein, dass die Machthaber in Nahost die palästinensische Frage über haben – ignorieren können sie das Thema nicht. Dazu birgt es zu viel Potenzial, die »arabische Straße« aufzubringen. Das gilt auch für Saudi-Arabien, das an einem Normalisierungsabkommen mit den Israelis interessiert ist – nicht zuletzt, um im Gegenzug US-Sicherheitsgarantien zu erhalten. Donald Trump, der schon in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident mit den Saudis gut konnte und mit Netanyahu sowieso, könnte den Abschluss erleichtern, ohne sich groß um palästinensische Belange zu scheren. Womöglich legt Trump auch seinen »Deal des Jahrhunderts« wieder auf. Ein »Friedensplan«, maßgeschneidert nach Netanyahus Wünschen, in Missachtung internationalen Rechts.

»Der Druck auf Israel wächst, das Völkerrecht zu respektieren.«

Gleichzeitig wächst der Druck auf Israel, das Völkerrecht zu respektieren. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Gutachten vom 19. Juli 2024 die andauernde Besetzung palästinensischer Territorien für illegal erklärt. Sie sei längst nicht mehr temporär, sondern fuße auf systematischer Diskriminierung, Segregation und« – hier folgte das in Deutschland besonders verpönte A-Wort – »Apartheid«. In Anlehnung an den Richterspruch forderte die UN-Vollversammlung den israelischen Rückzug aus den palästinensischen Gebieten binnen Jahresfrist.

Geschichte genutzter und verpasster Chancen

Realistisch ist das nicht. Das Westjordanland ist übersät mit 140 jüdischen Siedlungen, manche groß wie mittlere Städte. Rund eine halbe Million israelischer Siedler leben dort, teils aus ideologischen, teils aus finanziellen Gründen. Im Ostteil Jerusalems sind es noch mal knapp halb so viele. Sie zu räumen gilt als Ding der Unmöglichkeit. Ob in Zeiten von Friedensgesprächen, Intifada oder politischen Stillstands – mit seiner Siedlungsexpansion hat Israel ein Gutteil des der palästinensischen Seite zugedachten Staatsgebiets verbaut. »Man hat uns einen eigenen Staat versprochen, so wie man eine Karotte dem Esel vors Maul hält, damit er voran trottet«, lautet ein sarkastischer Kommentar von Palästinensern. »Nur zu fressen kriegt er die Karotte nie.«

Freilich hat man schon öfters das Zwei-Staaten-Konzept für erledigt betrachtet – diese Geschichte genutzter und verpasster Chancen, die mit dem UN-Teilungsbeschluss von 1947 begann. Er sah für Israel 56 Prozent des Britischen Mandatsgebiets vor, für Palästina hingegen 44 Prozent, obwohl die arabische Bevölkerung die jüdische seinerzeit zahlenmäßig überwog. Aber Israel schaffte es nach seiner Staatsgründung im Mai 1948, sich erfolgreich gegen die Angriffe von fünf arabischen Staaten zu wehren und zusätzliche Gebiete zu erobern. Mehr als 700.000 Palästinenser verloren durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat – ihre kollektive Katastrophe, Al-Nakba genannt.

Es gab zweite, dritte und weitere vertane Chancen. So 1967, als Israel im Sechs-Tage-Krieg auch Ost-Jerusalem, das Westjordanland und den Gazastreifen einnahm. In seltener Einstimmigkeit verabschiedete der UN-Sicherheitsrat die Resolution 242, bekannt als »Land für Frieden«. PLO-Chef Yassir Arafat lehnte ab. Erst 1988 verkündete der PLO-Nationalrat im algerischen Exil die Unabhängigkeitserklärung eines palästinensischen Staates, verpflichtet zu friedlicher Koexistenz. Fünf Jahre später folgte der Osloer Friedensprozess basierend auf gegenseitiger Anerkennung von Israel und PLO. Er stieß alsbald auf gewaltsamen Widerstand jüdischer Nationalisten und arabischer Islamisten und scheiterte schließlich grandios im Sommer 2000 beim Verhandlungsgipfel in Camp David. Gründe gab es viele. Vorneweg war es die religiös aufgeladene Frage nach Jerusalem, das Israel wie Palästina als Hauptstadt beanspruchen. Nicht zufällig entzündete sich dort die zweite, diesmal bewaffnete Intifada.

»Über die Jahre hinweg sind die Friedenslager geschrumpft.«

Über die Jahre sind seitdem die Friedenslager geschrumpft. Schon vor dem schwarzen 7. Oktober und erst recht danach. Heute sehen sich sowohl die allermeisten Israelis wie die allermeisten Palästinenser als die wahren, rechtmäßigen Besitzer des Landes »from the river to the sea«. Man war schon mal weiter. 2010 sprach sich noch eine satte israelische Mehrheit für eine Zwei-Staaten-Lösung aus, inzwischen nur rund 30 Prozent. Die palästinensischen Vergleichszahlen lagen 2010 bei 57 Prozent und sind jetzt auf 40 Prozent gesunken.

»Zwei Staaten, Eine Heimat«

Nur, was wären die Alternativen? Das Ideal des Ein-Staat-Modells mit gleichen Rechten für alle mag theoretisch einleuchten. Realiter liefe es auf einen latenten Bürgerkrieg hinaus. Oder, noch wahrscheinlicher, auf einen Apartheid-Staat, basierend auf einer Zwei-Klassen-Gesellschaft. Zudem ist eine Bestandsgarantie für ein demokratisches und mehrheitlich jüdisches Israel ohne eine Zwei-Staaten-Lösung nicht zu haben. Schon jetzt leben etwa gleich viele Juden und Araber (jeweils rund sieben Millionen) zwischen Jordanfluss und Mittelmeer.

Es ist eine Crux. Für eine saubere Trennung in zwei Staaten sind die israelischen und palästinensischen Realitäten zu verwickelt, für einen binationalen Staat zu verschieden. Aus diesem Widerspruch heraus sind jedoch neue Lösungsansätze entstanden, orientiert an konföderativen Modellen. Das bekannteste ist »A Land for All« (Alfa), eine israelisch-palästinensische Grassroots-Organisation, ursprünglich »Zwei Staaten, Eine Heimat« genannt: Israelische Siedler sollen demnach weiter als Residenten in einem Staat Palästina leben können. Palästinensische Flüchtlinge würden in gleich großer Zahl Residenzrechte in Israel bekommen. Beide Gruppen blieben Bürger ihres eigenen Staates, dessen Regierung sie auch wählen – ähnlich wie ein Auslandsdeutscher in Frankreich oder Spanien.

Zugrunde liegt »die Idee des sich Teilens, nicht des Aufteilens«, so Rula Hardal, palästinensische Ko-Direktorin von Alfa. Meron Rapoport, einer der israelischen Vordenker, nennt es eine »pragmatische Utopie«. Gerade weil »A Land For All« die explosiven Konfliktpunkte wie Siedlungen, Flüchtlingsrückkehr und Grenzziehung entschärfen könnte, sind die Alfa-Leute inzwischen gefragte Gäste bei internationalen Nahosttagungen. Noch ist ein Ende der Besatzung nicht in Sicht, klingt jede politische Perspektive, die beiden Völkern gerecht wird, visionär. Erforderlich ist trotzdem das Eine wie das Andere, um der Gewaltspirale zu entkommen. Die Formel von den zwei Staaten in anerkannten Grenzen zeigt den Weg dorthin. Aber ohne kreative Ideen wird sie nicht realisierbar sein.

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