Menü

© picture alliance / Sascha Steinach/dpa-Zentralbild/dpa | Sascha Steinach

Konflikte und Risse nicht ignorieren – wertebasierte Kommunikationsprozesse stärken Damit aus Polarisierung nicht Feindschaft wird

Im Land wird heftig gestritten. Doch dreht es sich dabei um gesellschaftsübliche Meinungs- und Interessenskonflikte oder geht es um mehr? Ist die Bundesrepublik gespalten und befindet sie sich in einer kaum noch einzufangenden Polarisierungsspirale mit identitätspolitischen Ausschlägen? Gegenstand des Streits sind häufig divergierende Identitätskonzepte, in denen es um Werte, Lebensgewohnheiten, Zugehörigkeitsvorstellungen oder auch um vorgebliche Bedrohungsmuster durch ethnisch-religiös definierte Fremde geht. Die Debatten kreisen aber auch um klassische Verteilungs-, Friedens- und Ökologiethemen. Was davon wird durch reale, was durch gefühlte Verwerfungen befeuert?

Eine treibende Kraft in diesen Debatten ist die neue hybride Medienlandschaft, die durch Social Media eine erhebliche Eigenkraft besitzt. Mal tritt die neue Streitfreudigkeit als Untergangs- und »Angstdiskurs« auf; ein anderes Mal als Warn- und Beschwichtigungsdiskurs. Da gefühlte und reale Spaltungswahrnehmungen sich miteinander verweben und häufig auch verstärken, ist ein Ordnungsversuch angebracht. Dazu sind als Vorschlag drei Dimensionen in dieser Debatte zu unterscheiden: die soziokulturellen, die sozioökonomischen und die politischen Spaltungsdiskurse.

Unter einer soziokulturellen Spaltung wird verstanden, wenn Mitglieder bestimmter Gruppen kaum mit Mitgliedern anderer Gruppen kooperieren und kommunizieren. Dies kann sich in einem tiefen gegenseitigen Misstrauen, dauerhafter Feindschaft oder in beständigen Auseinandersetzungen ausdrücken. In Deutschland generierten sich Prozesse sozialer Spaltung lange Zeit aus Konfessions- und Klassenkonflikten. Die Reaktion auf die Minioritätsposition der eigenen Milieus bestand im Aufbau parallelgesellschaftlicher Strukturen, die sowohl die Grundstruktur unserer organisierten Zivilgesellschaft wie auch des Parteiensystems bis heute mitprägen.

In den so entstandenen versäulten Gesellschaftsstrukturen – besonders ausgeprägt in den Niederlanden und Belgien – konnte ein Leben von der Wiege bis zur Bahre geführt werden, das nur ein Minimum an Kontakten über die jeweiligen Milieugrenzen hinaus zuließ. Dass zwischen den sozialen Gruppen wenig oder keine Interaktion stattfindet (Heiratsverhalten, sozialräumliche Segregation, Vereinsleben und so weiter) und Misstrauen (im internationalen Vergleich eher gering in Deutschland) gepflegt wird, um die eigene Identität zu stabilisieren, ist also Teil der deutschen Geschichte. Auch wenn diese spezifischen Klassen- und Konfessionskonflikte Geschichte sind, so sind soziokulturelle Differenzen – vor allem durch Zuwanderung – auch heute kein Sonderfall, sondern eher die Norm.

Wertekonflikte sind in der Coranaphase besonders eklatant zutage getreten, indem evidenzbasierte staatliche Interventionen zum gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung rundweg abgelehnt und dagegen politisch mobilisiert wurde. Im kulturell begründeten Widerstand gegen Zuwanderung geht es ebenfalls vielfach um einen tiefgreifenden Wertedissens. Trotzdem sind diese Positionen weit davon entfernt zur Mehrheitsposition zu werden. In einer Allensbach-Studie von 2022 stimmten 70 Prozent der Befragten der Aussage zu, dass Offenheit und Toleranz die Grundpfeiler der Gesellschaft sind.

Kluft bei Einkommen und Vermögen

Die sozioökonomische Spaltung zeichnet sich sowohl durch wachsende Einkommensdifferenzen als auch durch eine fortschreitende Kluft in der Vermögensverteilung aus. Hier ist zu berücksichtigen, dass Ungleichheiten bei der Einkommens- und Vermögensverteilung nicht grundsätzlich als ungerecht und per se als Indikator einer gespaltenen Gesellschaft zu verstehen sind. Solange sie Ausdruck unterschiedlicher Leistungen und unter der Bedingung der Chancengerechtigkeit zustandekommen, kann dies als gerecht gelten. Damit ist gemeint, dass die Chancen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung und zur Entfaltung der individuellen Fähigkeiten zwischen Personen weitgehend gleich verteilt sind. Nicht die generelle Existenz von sozialen Ungleichheiten ist also das grundsätzliche Problem.

Diese Ungleichheit resultiert in Deutschland häufig aus einer schlechten (Start-)Chancenverteilung, wodurch die soziale Mobilität besonders einschränkt wird. Dies wird mit Blick auf die Abhängigkeit des für die weitere Lebens- und Erwerbsbiografie zentralen Bildungserfolgs vom sozialen Hintergrund deutlich. Dies wird besonders deutlich, wenn man die im internationalen Vergleich geringe soziale Mobilität berücksichtigt: Während es in Deutschland durchschnittlich sechs Generationen dauert, bis jemand aus den unteren in die mittleren Einkommensschichten aufsteigt, gelingt dies in den skandinavischen Staaten durchschnittlich bereits nach zwei bis drei Generationen.

In Deutschland liegt die Einkommensungleichheit gemessen am Gini-Koeffizienten im internationalen Vergleich mit 0,31 knapp über dem Durchschnitt der Europäischen Union mit 0,30. Während er vom Beginn der 90er Jahre bis etwa 2005 stark anstieg, gab es in den vergangenen 18 Jahren eine relative Stabilität in der Einkommensverteilung, allerdings besteht unterdessen ein deutliches Einkommensgefälle zwischen West- und Ostdeutschland (14 Prozent Unterschied).

Zugleich ist die Einkommensungleichheit im Osten deutlich geringer als im Westen. Eine Ursache für die sich immer weiter öffnende Verdienstschere ist nicht zuletzt der außerordentlich starke Niedriglohnsektor in Deutschland. 2020 waren 20,7 Prozent aller Arbeitsverhältnisse dort angesiedelt. Dieser Sektor ist damit der sechstgrößte seiner Art in der EU. Ebenfalls besteht bis heute eine ungleiche Entlohnung von vergleichbar qualifizierten Männern und Frauen. Diese Lücke wird auch als »gender pay gap« bezeichnet. Sie lag im Jahr 2022 (bereinigt) bei sieben Prozent.

Noch deutlich ungleicher als die Einkommen sind die Kapitalvermögen in Deutschland verteilt. Hier existiert eine starke Konzentration der Vermögen auf einen kleinen Teil der Gesellschaft. 55,4 Prozent des Gesamtvermögens entfielen dabei auf die reichsten zehn Prozent der Haushalte. Damit liegt Deutschland über dem Durchschnitt der europäischen Staaten und bildet diesbezüglich zusammen mit Österreich (56,4 Prozent), den Niederlanden (56,6 Prozent), Estland (58,1 Prozent) und Zypern (62,1 Prozent) die Schlussgruppe. Hinzu kommt, dass Westdeutsche im Schnitt doppelt so viel Vermögen haben wie Ostdeutsche.

Insgesamt lässt sich damit zur Frage einer sozialen und wirtschaftlichen Spaltung in Deutschland konstatieren, dass bei den Vermögen zwar gewisse Polarisierungstendenzen herrschen, diese jedoch keineswegs zu einer fundamentalen sozialen Spaltung geführt haben. Zudem gelingt es mithilfe sozialstaatlicher Umverteilung die Primärverteilung zu modifizieren und mit spezifischen Maßnahmen besonders prekäre Lebenslagen abzufedern und Spaltungstendenzen vorzubeugen. Gleichwohl besteht insbesondere bei der Chancengerechtigkeit ein kaum zu übersehender Nachholbedarf. Die soziale Mobilität muss damit gestärkt und eine für die soziale Marktwirtschaft zentrale leistungsgerechte Verteilung von Löhnen und Vermögen sichergestellt werden, um einer weiteren Entkopplung von sozialer Ungleichheit und Leistung entgegenzutreten.

Die politische Spaltung beschreibt ein übermäßiges Misstrauen gegenüber und zwischen politischen Organisationen und Institutionen. Es zeigt sich, dass das Vertrauen in politische Institutionen in den letzten Jahren schwankte und gegenüber den Parteien und konkret der Bundesregierung auf einem niedrigen Niveau liegt. Im Westen ist knapp die Hälfte mit der gelebten Demokratie zufrieden. Im Osten ist das Misstrauen dagegen höher. Nach einer 2022 veröffentlichten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach gaben 31 Prozent der Befragten an, dass sie in einer Scheindemokratie leben würden und in dieser nichts mitzuentscheiden hätten. 28 Prozent stimmten zudem der Aussage zu, dass das politische und demokratische System in Deutschland grundlegend geändert werden müsse. In Ostdeutschland ist die Skepsis gegenüber der Demokratie und den Institutionen des politischen Systems weiterhin bei einem größeren Teil vorhanden als im Westen (40 gegenüber 25 Prozent).

Trotz vielfältiger Spannungen und Konflikte versteht sich die deutsche Gesellschaft in ihrer Eigendefinition weiterhin als Mittelstandsgesellschaft. 2021 gaben 78 Prozent der Befragten an, dass sie sich zur politischen Mitte rechnen. Dagegen waren dies in Frankreich in der gleichen Befragung nur 36 Prozent. Das deutsche Parteiensystem trägt diesem Umstand Rechnung, indem mittlerweile auf der Ebene der Länder fast alle Parteien miteinander koalieren. 2022 gab es auf dieser Ebene somit 13 unterschiedliche Koalitionsmodelle. Einzig zwischen Linkspartei, CDU und FDP gibt es zumindest untereinander keine Koalitionen. Die AfD ist die einzige Partei mit der gar keine Koalitionen stattfinden.

Die größte Polarisierung auf der Einstellungsskala besteht zwischen der AfD und den Grünen. Gegen eine politische Spaltung sprechen auch die Ergebnisse des Populismusbarometers der Bertelsmann Stiftung, die nämlich 2020 sogar einen Rückgang populistischer Positionen im Zeitverlauf verzeichnet haben. Auf's Ganze betrachtet sind das politische System und die tragenden Akteure einem wachsenden Druck ausgesetzt. Zugleich sind sie bislang trotz abnehmender Unterstützungswerte hinreichend handlungsfähig.

Demokratische Medien gegen Spaltungsprozesse einsetzen

In Deutschland zeigen sich in allen drei potenziellen Spaltungsdimensionen ambivalente Entwicklungen, die Anlass zur Sorge geben. In der soziokulturellen Arena spielen identitätspolitische Auseinandersetzungen eine Rolle, die zum Teil von den Rändern in die Mitte getragen werden aber auch umgekehrt. Dabei treten vermehrt Konflikte auf, die jedoch in eine insgesamt tolerante Gesellschaft eingebunden sind, die bereit ist, Minderheitspositionen zu berücksichtigen und zu befrieden.

Beim Blick auf die sozioökonomische Arena sticht insbesondere der große Niedriglohnsektor sowie die ungleiche Verteilung der Vermögen ins Auge. Auch noch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es deutliche Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland. Dies wirkt sich auch auf das Vertrauen in die freiheitlich demokratische Grundordnung aus. Während es für die Bewältigung der sozioökonomischen Konfliktlagen durch die Sozialpartnerschaft und die staatliche Interventionsfähigkeit probate Mittel der Konfliktlösung gibt, sind diese im soziokulturellen Bereich schwerer zu bedienen.

Wenn man davon ausgeht, dass die stets bemühte Rede von der Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft die realen Prozesse und Befunde dominiert, dann gilt es auch nach anderen und besseren Formen der Kommunikation und Beteiligung zu suchen. In modernen Gesellschaften kommt den Medien dabei eine essenzielle Bedeutung zu, weil sie eine für alle Bürger:innen zugängliche Öffentlichkeit herstellen. Um ihre Rolle als »vierte Gewalt« ausfüllen zu können, muss das Mediensystem ein möglichst vielfältiges, politisch unabhängiges und qualitativ hochwertiges Angebot bereitstellen. Wie der internationale Vergleich zeigt, sind die Etablierung und Aufrechterhaltung eines solchen Mediensystems alles andere als selbstverständlich.

Die herausragende Gefahr für die Vertiefung bestehender Konflikte und sich abzeichnender Risse ist die Allgegenwart der sozialen Medien. Sie zementieren eine Fragmentierung in unterschiedliche Öffentlichkeiten, die sich zum Teil wechselseitig abschotten und innerhalb derer andere Meinungen immer weniger anerkannt werden (»Echokammern«). Für die Akzeptanz des politischen Systems kommt den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten eine Schlüsselrolle zu. Vor diesem Hintergrund benötigen deren Medienvertreter:innen eine hohe Sensibilität und die Bereitschaft zu regelmäßigen Reformaktivitäten, um eine möglichst breite gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen und den diversen Spaltungsprozessen entgegenzuwirken.

In einer Zeit tiefergehender Kultur- und Wertekonflikte sind Prozesse und Kompetenzen zu deren Zivilisierung notwendig. Verbesserte Kommunikations- und Medienkompetenzen, um den respektvollen Umgang zu sichern und eine erstrebenswerte Diskurskultur zu festigen, sind ein Beitrag dazu.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben