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Das Rätsel AfD

Wer 2009, also vor elf Jahren, die Prognose gewagt hätte, dass sich in Deutschland eine rechtspopulistische Partei erfolgreich im parlamentarischen System verankern könne, und zwar von den Kommunen über die Landtage, dem Bundestag bis zum Europaparlament, der wäre als notorischer Pessimist gescholten worden. Denn wenn es eine systemkritische Alternative als Antwort auf die damalige Krise des Weltfinanzkapitalismus gäbe, dann könne diese – wenn überhaupt – nur von links kommen. Um die Unwahrscheinlichkeit einer solchen Prognose zu begründen, wurden die obligatorischen Hinweise auf die zersplitterte, sich wechselseitig in tiefer Feindschaft verbundene, rechtsextreme Parteien- und Gruppenlandschaft ebenso herangezogen wie die deutsche Schuldgeschichte, das liberale Klima im Lande und nicht zuletzt die besondere Integrationsfähigkeit unseres Sozialstaates. Diese Sonderrolle lasse Deutschland in einem anderen Lichte erscheinen als seine europäischen Nachbarländer, in denen der parlamentarische Rechtspopulismus damals bereits längst zum politischen Alltag zählte. Wenn man sich jetzt, elf Jahre später, anschaut, mit welcher unwahrscheinlichen Geschwindigkeit, Dauer und Fähigkeit zum Agenda-Setting der AfD-Erfolg verläuft, dann wird die Tragweite dieses Phänomens erst langsam erkennbar. Jedenfalls wurde die Suche nach den Ursachen für den in dieser Weise einzigartigen und vor wenigen Jahren noch unvorstellbaren Aufstieg eines Newcomers – noch dazu von rechtsaußen – in Deutschland zum Schrecken der Mehrheitsgesellschaft.

Wie lässt sich dieser unwahrscheinliche Fall erklären? Unsere erste These lautet, dass der bis dato einmalige Aufstieg des Rechtspopulismus durchaus mit der veränderten Rolle von Emotionen im politischen Prozess zu tun hat. Gemeint sind die Wahrnehmungen und Erwartungen eines Teils der Gesellschaft gegenüber den etablierten gesellschaftlichen Akteuren, dem Establishment, allen voran den Politiker/innen. Eine treibende Kraft für den Erfolg der AfD sind simplifizierende Lösungen, die als »gesunder Menschenverstand« ausgewiesen werden. Der Resonanzboden für den Erfolg solcher Ansprachen sind soziale und/oder kulturelle Erfahrungen mit Enttäuschungen. Diese werden begleitet von einer sinkenden Bereitschaft, sich auf einen rationalen, inhaltlichen Dialog über den Raum des Politischen mit all seinen Ambivalenzen, Widersprüchen und Ungleichzeitigkeiten einzulassen. In einem so strukturierten politischen Raum gelingt es der AfD durch spezifische Narrative und die Mobilisierung von Emotionen, vor allem Ängsten, die Gesellschaft weiter zu spalten und die sogenannten Modernisierungsverlierer/innen als Basis ihrer Politik zu begreifen.

Die von der AfD generierte bipolare Struktur der Polarisierung spricht vor allem diejenigen an, die enttäuscht und frustriert sind, längst keinen Kontakt mehr mit den zentralen Akteur/innen des politischen Systems pflegen und vielfach auch nicht mehr an den Wahlen teilnehmen. Sie sind die Adressat/innen eines emotionsgeladenen Schürens von Aggressionen gegen »die da oben«, die etablierten Politiker/innen, sowie gegen »die da draußen« in Form von sogenannten Überfremdungsängsten. Konsequenterweise zeichnet sich die AfD durch ein starkes »Negative Campaigning«, eine negative Kampagnenführung gegen politische Kontrahenten und gesellschaftliche Gruppen aus, die insbesondere in den sozialen Medien sichtbar wird.

Indem es gegen die Political Correctness, Minderheiten und den sogenannten Genderismus geht, knüpfen diese Ressentiments auch an traditionelle Denkmuster des Arbeiter-Autoritarismus an. So vorhandene Denkmuster und Emotionen werden zum Ausgangspunkt einer aktiven Haltung des Zorns, um so kooperative, rationale, evidenzbasierte Formen der Wirklichkeitsaneignung zu verunglimpfen. Durch den inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs werden dem politischen Establishment zugleich Handlungsunfähigkeit und Kontrollverlust attestiert. Ängste vor sozialem Abstieg werden geschürt, indem Bilder von Flüchtlings- und Kriminalitätswellen gezeichnet werden, die den Zusammenhalt der »deutschen Gesellschaft« unterminieren.

Die zweite These sieht eine Bedingung für den Aufstieg der AfD in ihrem Einstieg in den politischen Wettbewerb über den Umweg des Euroskeptizismus, getragen von einer Gruppe neoliberaler und national-konservativer Vertreter/innen des enttäuschten Bürgertums. Sie überwanden mit ihrer Erfahrung und ihrem kulturellen Kapital, vor allem gegen Union und FDP gerichtet, die relativ hohen Einstiegsbarrieren ins politische System. Auch wenn dies, wie die weitere Entwicklung zeigte, von den Akteur/innen der ersten Stunde nicht so geplant war, lässt sich ohne diesen Umweg der rasche Ein- und Aufstieg nebst der dann folgenden dynamischen Entwicklung kaum erklären. Entscheidend für den Aufstieg der AfD war, dass in der ersten Stunde nicht rechtsextreme Lautsprecher im Zentrum standen, sondern wohl situierte, akademische, publizistische und politische Vertreter/innen der Bonner Republik. So waren es 2013 auch Wähler/innen, die sich deutlich weniger rechts und deutlich weniger ausländerfeindlich positionierten, die ihre Stimme der AfD gaben. Die politischen Koordinaten der AfD-Wählerschaft verschoben sich bis zur Bundestagswahl 2017 deutlich weiter nach rechts.

Die dritte These zielt auf bestehende Repräsentationslücken in den deutschen Parlamenten in wichtigen inhaltlichen Feldern der gegenwärtigen Politik, wozu insbesondere die Bereiche Europa, Zuwanderung und nicht zuletzt das konservative Familien- und Gesellschaftsmodell zählen. Die AfD bedient hier Präferenzen, die augenscheinlich latent immer vorhanden waren und schließt damit vermeintlich eine Angebotslücke.

In der radikalen Ablehnung der herrschenden Vorstellungen in den benannten Feldern inszeniert die AfD die Idee, dass es eine grundlegende Alternative gebe, die besser zu den Menschen passe. Es gehe um eine Alternative, die das »links-grün versiffte Deutschland«, das seine Wurzeln in der 68er Bewegung habe, überwinden könne. Diese Alternative wäre im nationalen Raum und in der deutschen Geschichte anzusiedeln, weshalb den supranationalen, europäischen und globalen Lösungen eine Absage zu erteilen sei. Um die Macht des Establishments zu unterlaufen, gehe es darum, Lösungen zu finden, die direkt durch das Volk verhandelt und verantwortet werden. So will man denen wieder eine Stimme geben, die mit den herrschenden Prozessen der Modernisierung sozial und kulturell nicht einverstanden sind und sich als deren potenzielle Verlierer/innen verstehen.

Die rückwärtsgewandte Programmatik und die simplifizierenden Politikantworten der AfD gehen mit einer spezifischen kommunikativen Praxis einher. Mit ihren medialen Inszenierungs- und Vermittlungswegen versucht sie sich an die Spitze des technologisch Machbaren zu bewegen. Das gelingt ihr nicht immer. Gleichwohl, so unsere vierte These, ist die AfD die erste wirkliche Internetpartei, die den medialen Raum gezielt bedient, um Emotionen und Ressentiments so anzuheizen, dass sich diese in Zorn gegen das Establishment verwandeln. Keine Partei in Deutschland hat bisher so intensiv und geschickt die partizipativen Potenziale von Social Media genutzt, um ihre Anliegen zu kommunizieren. Die AfD ist allerdings keinesfalls die erste Partei, die das Internet als Thema auf die Agenda gesetzt hat. Dieser Verdienst muss den »Piraten« zugesprochen werden. Gleichwohl ist die AfD die erste Partei, die das Internet als Empörungsmaschinerie, als War Room, nutzt und auf dieser Basis eine eigene Gegenöffentlichkeit geschaffen hat.

Fünftens, so unsere These, kann man die AfD, die eine Partei der Metamorphosen und Existenzkrisen ist, als eine rechtspopulistische Partei neuen Typs verstehen. Sie will anscheinend keine Partei sein, die offensiv um Mitglieder wirbt (Mitgliederpartei), sondern eher eine Bewegungspartei. Als Mitgliederpartei würde sie Gefahr laufen, ihre inneren Widersprüche zu institutionalisieren, ohne sie auflösen zu können. Als Bewegungspartei kann sie diese inneren Widersprüche leichter wegmoderieren, sich im Vagen halten und besser als Projektionsfläche wirken. Auch dies ist eine Motivation, sich weniger um Mitglieder, als um Spender/innen und Wähler/innen zu kümmern.

Unsere sechste These lautet, dass es ein prekäres Verhältnis zwischen Steuerung und Führung einerseits und nicht vorhandenem Charisma auf der anderen Seite gibt. Die AfD hat keine integrative charismatische Führungsgruppe, sondern mit Björn Höcke einen selbsternannten lediglich »lokalen« charismatischen Führer mit hohem Polarisierungspotenzial. Insofern scheint der charismatische Führungsansatz auf die Gesamtpartei bezogen eher in der Desintegration der Partei zu enden. Statt charismatischer Führerschaft geht es in der AfD um bürokratische und kommunikative Steuerung. Auffallend ist, dass in der Bundestagsfraktion, dem gegenwärtigen Steuerungszentrum der Partei, die polarisierenden Führungsköpfe der Partei fehlen. Sie sind außerhalb, in den Landesparlamenten. Bemerkenswert ist aber auch, dass dem Steuerungszentrum im ersten Bundestagsjahr eine gewisse Integrationsleistung gelungen ist. Mit seiner moderierenden Art konnte Alexander Gauland als erfahrener Senior, der opportunistisch auf die Bedürfnisse der Strömungen eingeht und sich nicht vor eigenen rassistischen Zuspitzungen scheut, diese ausbalancierende Integrationsleistung erbringen. Dazu tragen sicherlich auch die Doppelspitze oder die Konzentration von medialen Ressourcen auf die AfD-Führungsleute bei. Beeindruckend belegt wird Letzteres auch dadurch, dass die einzelnen AfD-Akteur/innen im Durchschnitt, verglichen mit den Kandidat/innen der anderen Parteien, Social Media seltener nutzen. So sind die hohen Kommunikationswerte in Social Media für die AfD als Ganzes auch einer geschickten Regie zu verdanken, die die Aufmerksamkeit auf die AfD-Führungsspitze konzentriert. Eine weitere Dimension sollte nicht vergessen werden, wenn man die relative Behauptung der AfD verstehen will, nämlich der permanente öffentliche Außendruck, der die AfD immer wieder aufs Neue durchrüttelt und gleichzeitig zur innerparteilichen Verständigung zwingt. Ohne diesen Druck wäre das Geschäft der inneren Integration wohl um ein Vielfaches schwieriger.

Siebtens geht der Erfolg der AfD als einer rechtspopulistischen Partei maßgeblich darauf zurück, dass es erstmalig in der deutschen Nachkriegsgeschichte zu gelingen scheint, eine rechte Koalition von Parlaments- und Bewegungsorientierten in einer Partei abzubilden. Beide Teile sind aufeinander angewiesen: Die einen legitimieren, dass die AfD eine Partei sein will, die auf dem Boden des Grundgesetzes steht; die anderen stehen dafür, dass sie diese Tatsache zwar auch taktisch anerkennen, gleichwohl diesen Rahmen überwinden wollen. Mit der Lautstärke der Radikalen kommt die AfD in die Schlagzeilen, macht auf sich aufmerksam und bestimmt die Agenda. Da ist eine Kraft, die es »denen da oben« mal so richtig zeigt und die nicht so schnell klein beigibt. Mit den moderateren Tönen der Kritik des »Establishments« sorgt sie dafür, dass sie als Partei immer noch akzeptabel für diejenigen bleibt, die eine extremistische Partei nicht unterstützen würden. Mit der AfD ist somit eine Partei entstanden, die den etablierten Kräften im politischen Spektrum inhaltlich diametral gegenübersteht und durch eine anklagende, empörungsorientierte, konfrontative und provokative Kommunikationspraxis auffällt.

Das Kräftespiel zwischen den beiden ungleichen Teilen in der AfD hat viele Facetten: In den Mandatspositionen dominieren die Parlamentsorientierten, in den Schlagzeilen die Bewegungsorientierten. In den Führungsfunktionen der Bundestagsfraktion und der Bundespartei sitzen die Parlamentsorientierten. Auf den Parteitagen dominieren die Bewegungsorientierten, die straffer, disziplinierter, dem Prinzip von Gefolgschaft verpflichtet, provozierender agieren. Die Quelle des Selbstbewusstseins und des Übermuts der Bewegungsorientierten ist der Osten der Republik. Denn dort hat die AfD das Potenzial einer neuen Volkspartei, die quantitativ auf Augenhöhe mit den alten Volksparteien steht und sich als eigenes Sprachrohr des Ostens versteht. Insgesamt hat sie in Ostdeutschland die zusätzlich Funktion der Repräsentation des ländlichen Raums gegen das »Establishment«. Bei der Bundestagswahl 2017 lagen die Hochburgen im Osten in den ländlichen Gebieten, im Westen in bevölkerungsreichen urbanen Gemeinden. Ost und West driften also in der AfD so auseinander, wie es auch für die Republik insgesamt ein Menetekel sein könnte.

Doch das Kräftespiel wird nicht einfach zwischen den Parlaments- und den Bewegungsorientierten bestimmt; es wird reguliert von den Rechnungshöfen, durch das Parteiengesetz, die Geschäftsordnungen der Parlamente und nicht zuletzt vom Verfassungsschutz. Letzterer könnte zu einem immer wichtigeren Akteur zwischen den beiden innerparteilichen Kombattanten werden. Unter den Bedingungen des Patts funktioniert diese Koalition von heterogenen Kräften, die von ihren Ideen, Zielen und Mentalitäten her nicht zusammengehören. Wenn allerdings eine Seite erfolgreich die Unterordnung unter die andere verlangen würde, wäre das Spiel beendet und die AfD würde das gleiche Schicksal ereilen, wie alle anderen rechten Vorgängerorganisationen auch.

Wie lange kann das Zusammenspiel zwischen den pragmatischen und den extremen Kräften in der AfD noch funktionieren, ohne dass der interne Waffenstillstand aufgekündigt wird? Bislang hat die Partei diese Herausforderungen bewältigt, weil ihre innere Struktur und ihre externe Resonanz durchaus miteinander kommunizieren. Zur äußeren Struktur zählt auch das föderalistische System, das unterschiedliche Spielarten unter dem Dach einer Partei befördert und somit Handlungsräume offeriert, die in zentralstaatlichen Systemen nicht bestehen. So ist es auf der Ebene einzelner Länder durchaus praktikabel, dass in einigen eine radikalere und in anderen eine gemäßigtere Variante der AfD existiert. Das Zusammenspiel der ungleichen Kräfte kann als Patt oder im Sinne einer Unterordnung unter die Parlamentsorientierten funktionieren, ohne dass Staat und Gesellschaft massiv eingreifen und diesen Akteur ausgrenzen.

In dem Maße, wie sich die radikalen Kräfte gegen die Anpassung an die Gesetze des demokratischen Parlamentarismus stellen, gerät das Gleichgewicht der Bipolarität von Bewegungs- und Parlamentsorientierung aus den Fugen. Wehren sich die radikalen Kräfte gegen eine sukzessive Anpassung an die herrschenden Verhältnisse und wollen sie der Zähmung durch den Parlamentarismus entgehen, werden sie die Erfolgsgeschichte der AfD aufkündigen. Es wird sich zeigen, wann die Grenze erreicht ist. Steht die AfD also vor der Implosion oder gibt es eine neue, eine weitere Metamorphose? Vieles spricht dafür, dass es zumindest auf Bundesebene keine weitere elektorale Gefährdung durch die AfD geben wird – Rückgewinne von der AfD durch die anderen Parteien sind aber auch wenig wahrscheinlich. Es kommt viel darauf an, wie sich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern und zwischen Ost und West bei der AfD entwickeln wird. Sollte die Erscheinungsweise als bipolarer Akteur zwischen Bewegung und Parlament zugunsten der extremistischen Kräfte kippen, könnte eine Spaltung der Partei nach Bund und Land oder Ost und West ins Haus stehen. Überleben die extremen Kräfte jenseits eines Gleichgewichts zwischen Moderaten und Provokateuren, wären nicht nur die etablierten politischen Parteien und die Zivilgesellschaft gefordert, sondern auch die Sicherheitskräfte der Bundesrepublik.

Wolfgang Schroeder/Bernhard Weßels (Hg.): Smarte Spalter. Die AfD zwischen Bewegung und Parlament. J. H. W. Dietz, Bonn 2019, 296 S., 22 €.

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