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Der Bildhauer Bertrand Freiesleben modelliert eine Porträtbüste von Thomas Mann. © picture alliance/dpa | Markus Scholz

Erinnerungen an rauschhafte Lektüre von Thomas Mann Das Werk leuchtet

Der ersten Thomas-Mann-Vorlesung an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg waren schon Mann-Lektüren zu Schulzeiten vorausgegangen. Einen »Volk und Welt«-Band mit Erzählungen hatte ich im Sommer 1989 auf der Klassenfahrt nach Berlin mit Abstecher in den Ost-Teil der Stadt in einer der Buchhandlungen erstanden, galt Thomas Mann doch in der Bundesrepublik und in der DDR gleichermaßen als kanonischer Autor.

Der Erzählungsband erscheint mir noch immer als der ideale Einstieg in das Werk Manns, enthielt er doch »Tonio Kröger«, »Der Tod und Venedig« und »Tristan«, drei der großen und viel interpretierten, zum Teil auch verfilmten, kürzeren Prosatexte eines Autors, dazu das schwüle »Wälsungenblut« über die homoerotische Verbindung zweier Geschwister aus reichem Haus. Beinahe die ganze Palette der Mann’schen Themen ist damit bereits aufgefächert.

Es war aber nicht nur die Fremdheit der Geschichten und Figuren, die mich faszinierte, sondern vor allem Manns brillante Stilistik. Ich las, die besten Freundinnen lasen mit, über Thomas Manns Welt- und Menschenbild dachten wir vergleichsweise wenig nach, wir waren wie verzaubert von Manns Sprache, auch von seinem bisweilen giftigen Humor, zunächst in Berlin, später im Deutschleistungskurs. Wir waren auch fasziniert von dem, was damals noch nicht autofiktionale Literatur hieß, einem Schreiben, in dem das Erdachte und das Erlebte des Autors sich geheimnisvoll und letztlich unergründlich ineinander verblenden: »Da sein ganzes Wesen auf Ruhm gestellt war«, heißt es in »Der Tod in Venedig« über die Hauptfigur Gustav Aschenbach, »zeigte er sich, wenn nicht eigentlich frühreif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen Prägnanz seines Tonfalls, früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt. Beinahe noch Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später hatte er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen Ruhm zu verwalten, in einem Briefsatz […] günstig und bedeutend zu sein.«

Von heute aus betrachtet würde ich sagen: Hier schreibt einer aus der eigenen Erfahrung heraus, als betrachte er sich durch ein Vergrößerungsglas. Die lediglich in den Tagebüchern aufgegebene Distanz zu sich selbst, sorgt dafür, dass die Sprache frisch erscheint, ein wenig wie hinter Eis vielleicht.

Die Verführungskraft dieser Sprache rührt her auch von der staunenswerten Virtuosität, mit der Mann das im Grunde ja endliche Arsenal der Adjektive einsetzt, bisweilen regelrecht ausschlachtet, dabei aber stets elegant bleibt in seinem Gemetzel, in dem er nicht selten mit seinen Figuren äußerst hart umspringt, wenn die von Hans Castorp angebetete Madame Chauchat leicht schielen muss, weil sie beobachtet wird, wenn vom »guten« und vom »schlechten Russentisch« die Rede ist.

Was uns später im Studium so sehr wie die Sprache Manns faszinierte, waren die großen Bögen, die dieser Autor schlug, mit dessen Romanen, Erzählungen, Tagebucheinträgen und Briefen man tatsächlich – hier mit einer aufgrund Thomas' größerem Erfolg etwas frechen Anleihe bei Manns älterem Bruder Heinrich – ein ganzes »Zeitalter besichtigen« kann, den Beginn der Moderne mit ihren beiden Weltkriegen, den Untergang eines gründerzeitlich geprägten Bürgertums.

Wir saßen 1994 oder 1995 in der Vorlesung des Komparatisten Jürgen Lehmann, im Collegienhaus der Erlanger Uni war der Hörsaal übervoll, und versuchten uns hineinzudenken in Werk und Leben eines Autors, der uns ideologisch in seiner Begeisterung für den 1. Weltkrieg ebenso zweifelhaft schien wie menschlich. Wir versuchten, mit mäßigem Erfolg, seinen Stil zu parodieren. Die menschlichen Abgründe Manns taten sich in einem Seminar über die Familie Mann deutlich auf, in dem Rigorismus, mit dem Mann mithilfe seiner Frau Katia seine Schreibroutinen verteidigte, im kühlen Blick auf den Sohn Klaus, man musste bis zum jüngsten Sohn der sechs Mann-Kinder, Michael, gehen, der, mutmaßlich aufgrund der Lektüren der Tagebücher seines Vaters, am 1. Januar 1977 Suizid begangen hatte, wie überhaupt die Enthüllungen aus den Tagebüchern damals, vor dem selbstentblößenden Gerausche aus der digitalen Welt, uns verstörten. Wir arbeiteten uns im Rahmen eines weiteren Seminars durch die Josefs-Romane, vergnügten uns an Felix Krull, dem Hochstapler aus dem sekt- und weinseligen Rheingau.

Der »Goldglanz der Vollendung«, der den Worten des Publizisten Hanjo Kesting zufolge in seiner jüngst erschienenen Studie Thomas Mann. Glanz und Qual Thomas Manns Werk wie ein magischer Schutzwall umhüllt, strahlte damals auch auf uns ab.

Und heute? Leuchtet Thomas Mann immer noch, wie München in seiner Novelle Gladius dei?

Thomas Mann Daily − ein Hit auf Twitter

An den Universitäten scheint eine gewisse Verhaltenheit zu herrschen, wie Kai Sina, Inhaber der Lichtenberg-Professur für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Komparatistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster berichtet. Zwar seien die immer wieder angebotenen Seminare zu Thomas Mann in der Regel recht gut besucht. Doch Sina führt diese Nachfrage auch auf das von den Studierenden angestrebte Lehramt zurück.

Noch immer kann man mit einer einzigen Studie zu Thomas Mann in der Germanistik Karriere machen.

Thomas Mann gelte weiterhin als wichtiger Schulautor. Sina weiter: »Ob die Studierenden mit Lust und Freude in die Seminare hineingehen, wie Sie es aus Ihrer Studienzeit beschreiben, bezweifle ich aber und Vorkenntnisse sind meist auch nur äußerst sporadisch vorhanden (aber das gilt für die Literaturgeschichte im Ganzen, was vermutlich auf die Ausrichtung des Deutschunterrichts an den Schulen zurückzuführen ist). Auch die zu bewältigende Textmenge ist für die Studierenden ein Problem. Die Seminare werden dadurch entweder zu einer Art begleitetem Lesen, Woche für Woche, Kapitel für Kapitel, oder man konzentriert sich auf die Erzählungen, Novellen, Essays usw.«

Ein trauriger Befund, den Christian Metz, Professor für Neuere Deutsche Literatur an der RWTH Aachen so nicht ganz teilen will. Auf meine Frage, wie es um das Interesse an Thomas Manns Werk bestellt sei, wendet er seine Antwort ins Institutionelle: Noch immer könne man mit einer einzigen Studie zu Thomas Mann in der Germanistik Karriere machen, was sonst nur mit Johann Wolfgang von Goethe, mit Abstrichen bei Rainer Maria Rilke oder Friedrich Hölderlin möglich sei.

Zudem gebe es Institutionen wie die Thomas Mann Villa in Los Angeles, mit ihren Stipendienprogrammen. Ein Hit, so Metz, sei Thomas Mann auch auf Twitter. Unter Thomas Mann Daily (@DailyMann) würden getwitterte Auszüge aus dessen Tagebüchern wohl zum erfolgreichsten (und umfangreichsten) gehören, was germanistisch auf diesem Kanal verbreitet werde. Der enorme Stellenwert Thomas Manns ließe sich aus der Konstellation dieser Fakten ablesen.

Strikter Konservatismus

Auch Florian Schneider, Professor für Neuere Deutsche Literatur und derzeit als Feodor Lynen-Stipendiat an der University of Chicago, Department of Germanic Studies, räumt ein, er sei zwar absolut kein Thomas-Mann-Fan, weil dieser bei aller überragenden Bildung, stilistischen Brillanz und konzeptionellen Präzision zu den virulenten Diskussionen über Diversity, Gender-Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit seines Erachtens nichts beizutragen habe, halte Mann aber nach wie vor für historisch unverzichtbar. Schneider stellt fest, Thomas Manns Konservatismus in Verbindung mit der Emigration, dessen Treue zu seiner Frau aus jüdischer Familie, seine auch publizistische Wendung gegen das Dritte Reich und Rückkehr nach Europa machten Mann wohl zu nicht weniger als dem Persilschein des (ansonsten in großen Teilen durch den Nationalsozialismus kontaminierten) deutschen Literaturkanons und der Germanistik. Gerade weil Mann so konservativ sei, konnte er als strahlender Beleg dafür dienen, dass auch strikter, selbst nationalistischer deutscher Konservatismus nicht zwingend im Einverständnis mit dem Regime, den Lagern, dem Krieg stehen musste. Und er stellt fest: »Ich glaube, ich gehe nicht zu weit, wenn ich sage, dass die Germanistik die staatstragende (und inzwischen selbst historische) Rolle, die sie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in der BRD gespielt hat, ohne Thomas Mann nicht hätte spielen können.«

Die Sehnsucht, noch einmal in diesen entdeckerischen Lektürerausch von damals zu geraten, die Stärken und Schwächen dieses Epochenwerks aus zeitlicher Distanz neu zu betrachten, ist beim Schreiben dieses Textes zurückgekehrt.

Und damit noch einmal zurück zu Hanjo Kesting, der in Glanz und Qual berichtet, er habe im Jahr 1975 aus Anlass des 100. Geburtstags von Thomas Mann unter der satirischen Überschrift „Der Selbsterwählte oder Zehn polemische Thesen über einen Klassiker“ eine rabiate Kritik an ihm formuliert, die, im Spiegel abgedruckt, für Aufruhr unter Mannlesern sorgte, später sein Urteil aber revidiert. Insbesondere Manns beharrliche Funktion als Person des öffentlichen Lebens, in der er den Weg vom verherrlichten Kaiserreich bis zum Kampf gegen Hitler und das nationalsozialistische Deutschland zurücklegte, liefert in Verbindung mit den posthum veröffentlichten Tagebüchern ein einzigartiges Dokument, das dichteste, umfassendste und eindringlichste, das ein einzelner Autor aus dieser Zeit hinterlassen habe.

Tatsächlich will es auch mir, Kestings Studie lesend, die Erinnerungen an die studentische Begeisterung und auch an das sich einstellende leichte, aber nachweisbare Fieber bei der ersten Lektüre des Zauberbergs, das der noch nicht volljährigen Oberstufenschülerin eine schriftliche Entschuldigung von Mutterhand und ungestörte Lesetage im Bett bescherte, Revue passieren lassend, so scheinen: Wer Thomas Manns Werk näher betrachtet, versteht im Prisma seiner erzählerischen und autobiografischen Schriften gebrochen, besser, anders, tiefer, was einst den Bürger, insbesondere den Bildungsbürger im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhunderte ausmachte, tatsächlich dessen Glanz und Qual. Die Sehnsucht, noch einmal in diesen entdeckerischen Lektürerausch von damals zu geraten, die Stärken und Schwächen dieses Epochenwerks aus zeitlicher Distanz neu zu betrachten, ist beim Schreiben dieses Textes zurückgekehrt.

Hanjo Kesting: Thomas Mann. Glanz und Qual. Wallstein, Göttingen 2023, 400 S., 28 Euro.

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