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picture alliance / Pressefoto Ulmer | Markus Ulmer

Für eine aktive und selbstbewusste Demokratiepolitik Dem Strukturbruch begegnen

Steigendes Systemmisstrauen: Zum einen nehmen Unsicherheit und Zukunftspessimismus in der Bevölkerung rapide zu. Kriege in und um Europa, die Sorge um den Wohlstand, der demografische und digitale Wandel sowie die Klimakrise evozieren ein Gefühl des Verlusts und verstärken das Bedürfnis nach Sicherheit. Zudem hat die COVID-19-Pandemie in relevanten Teilen der Bevölkerung deutliche Spuren des Misstrauens in politische Institutionen hinterlassen. Einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge glauben nur 22 Prozent, dass Deutschland dafür gewappnet sei, die großen Aufgaben der Zukunft zu bewältigen. Dieses Misstrauen nimmt auch gegenüber Politiker:innen und ihren Parteien in den letzten Jahren stark zu. Die liberale Demokratie hat mit ihren hehren Idealen von Freiheit und Gleichheit und ihren Verheißungen von Wohlstand und Frieden großes Enttäuschungspotenzial kreiert. Diese Output-Enttäuschung erreicht zusehends die gesellschaftliche Mitte, übersetzt sich in eine Skepsis gegenüber der Gestalt unserer Demokratie und in den Wunsch nach grundlegender Veränderung des Bestehenden.

Starke Systemgegner: In diese demokratische Verunsicherungs- und Enttäuschungserfahrung nisten sich radikale Populist:innen ein. Weil ihre fundamentale Kritik am bestehenden System und ihr Versprechen nach Sicherheit verfangen, gelingt ihnen in den letzten Jahren zunehmend die Diskursverschiebung hin zu scheinbar einfachen Lösungen komplexer Krisen – sei es in der Wirtschaft, der Außenpolitik oder beim Thema Migration. Sie vermitteln, der Staat könne liefern und wolle es nur nicht. Sie skandalisieren den Output demokratischer Verfahren zu einem Versagen der Prozesse (Throughput). Zudem geben sie sich ganz und gar nicht als Demokratiefeinde, im Gegenteil: Den Wahlplakaten zufolge sind sie es, die die Demokratie retten. Was sie damit meinen, rangiert zwischen einer »illiberalen Demokratie« à la Orbán und einer direkten Demokratie à la Schweiz, während das Erodieren der liberalen Demokratie in den USA beklatscht wird.

»Zum jetzigen Zeitpunkt muss man von einer Ratlosigkeit in Sachen wirksamer Strategien gegen die AfD sprechen.«

Strategielosigkeit: Seit mehr als zehn Jahren versuchen Demokrat:innen unterschiedlicher Parteien sowie breite Kräfte der Zivilgesellschaft, die Etablierung der völkisch Autoritären als politische Kraft in Parlamenten einzudämmen. Keine der bisherigen Strategien hat die erhoffte nachhaltige Wirkung erzielt: Die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD ist seit über eineinhalb Jahren in Umfragen zweitstärkste Kraft. Zum jetzigen Zeitpunkt muss man von einer Ratlosigkeit in Sachen wirksamer Gegenstrategien sprechen – beziehungsweise einer Uneinigkeit. Während einige ein Parteiverbotsverfahren anstreben, schlagen andere die (wissenschaftlich widerlegte) »Entzauberungsstrategie« vor, derzufolge der Zuspruch für radikale Populist:innen abnimmt, sobald ihnen politische Machtpositionen zukommen, weil dann deutlich würde, dass ihre Politik nicht jenen dient, die sie zu vertreten vorgeben. Problematisch ist zudem, dass die Strategien auf Angriffe reagieren. Das begrenzt den Handlungsraum auf die Narrative der populistischen Radikalen, verstärkt deren Logik und bindet Ressourcen, die für weitere relevante demokratiepolitische Schritte gebraucht werden.

Über diese Entwicklungen als »Strukturbruch der liberalen Demokratie«zu sprechen, ermöglicht, Konsequenzen für das bestehende Strategievakuum im Kampf gegen Antidemokrat:innen zu ziehen. Die neue Wahlperiode wird entscheidend für die Zukunft der Demokratie in Deutschland sein. Die künftige Regierung muss, um den Siegeszug der Radikalen aufzuhalten, nicht nur demokratische Antworten auf materielle Unsicherheiten finden. Sie muss sich auch dem Zustand und der Zukunft der Demokratie widmen und sie als Politikfeld stärken, um sie resilienter zu machen. Resilienz meint hier nicht nur die Verteidigung der Demokratie, die auf (wirkliche oder antizipierte) Angriffe defensiv reagiert, sondern auch offensive Strategien zur Reform demokratischer Strukturen und Demokratieförderung. Bürokratie, mangelnde Ressourcen und Bereitschaft sowie ein kurzsichtiger Krisenmodus dürfen nicht länger als Ausreden für das Neudenken unserer Demokratie dienen. Die Aufwertung der Demokratiepolitik muss einen zentralen Stellenwert in den jetzigen Koalitionsverhandlungen einnehmen, um Demokratie als Regierungsform mit inhärentem Veränderungs­potenzial zu behaupten.

Wehrhaftigkeit: Ein erster Hebel ist die verfassungsrechtliche Wehrhaftigkeit der demokratischen Grundordnung, wie sie als Lehre des Scheiterns der Weimarer Republik in Deutschland etabliert wurde. Diese umfasst den Verfassungsschutz, die Ewigkeitsklausel, die Möglichkeit des Parteienverbots oder der Grundrechtsverwirkung bei Extremist:innen sowie das Widerstandsrecht. Zukünftig gilt es zu prüfen, was der Kern des demokratischen Selbstverständnisses ist und inwiefern dieser verfassungsrechtlich geschützt werden sollte. Darüber hinaus sollte reflektiert werden, wo die wichtige Trennlinie zwischen Verrechtlichung und politischer Aushandlung verläuft.

»Wehrhaftigkeit heißt, sich der eigenen Ideen von Demokratie zu widmen und das Bestehende zu hinterfragen.«

Eine andere Dimension der Wehrhaftigkeit kann als Besinnung auf die demokratische Kultur und deren Verteidigung innerhalb der politischen Institutionen verstanden werden. Sie beinhaltet eine aktive Selbstkritik der Parteien des demokratischen Spektrums, das heißt sich der eigenen Ideen und Erzählungen von Demokratie zu widmen und das Bestehende daraufhin zu hinterfragen. Darunter fällt auch die Art und Weise der fraktionsübergreifenden Zusammenarbeit und Kompromissbereitschaft. Das heißt nicht, dass die Parteien inhaltlich übereinstimmen sollten, sondern demokratische Positionen konstruktiv aushandeln, anstatt dies nur zu beteuern. Vor allem aber bedeutet es, nicht in die Methoden der Populist:innen zu verfallen, einander schlechtzureden, in der Hoffnung, Wähler:innenstimmen abzufangen.

Reform demokratischer Strukturen: Demokratie als Politikfeld ernstzunehmen, bedeutet zweitens, die Lernfähigkeit des Systems zu fördern. Das heißt, einen Raum für eine selbstkritische Befragung politischer Prozesse und Institutionen auf ihre Funktionalität und Ergebnisse zu schaffen, in dem Vorschläge zur Veränderung konsolidiert und deren Umsetzung sichergestellt werden kann. Hierzu können Prozesse zur Aufarbeitung vergangener politischer Handhabung, zum Beispiel während der COVID-19-Pandemie (wie etwa Bundespräsident Steinmeier einfordert), als inhaltlicher Aufhänger dienen.

Diese Selbstkritik sollte sich über die grundsätzliche Betrachtung politischer Abläufe hinaus auch auf demokratische Strukturen wie Wahlrecht und -alter, Transparenz oder Teilhabemöglichkeiten beziehen. Teilhabe als Form der demokratischen Bildung und Stärkung der Repräsentation hat sich in etlichen Formaten als Wundermittel gegen Politikverdrossenheit und für Verantwortungsübernahme erwiesen und erfährt doch institutionellen Widerstand bei dem Versuch der Verstetigung. Hier gilt es zu überlegen, welche Formate deliberativer oder direkter Teilhabe welche Prozesse sinnvoll ergänzen können, anstatt sie pauschal abzulehnen. Erfahrungen aus zivilgesellschaftlichen Projekten sollten hier gebündelt und in Institutionalisierungsvorschläge (wie zum Beispiel Bürger:innenräte auf Ministerialebene, Dialogformate in Wahlkreisen) übersetzt werden.

Demokratieförderung: Ein dritter wesentlicher Hebel ist die Stärkung und der Ausbau der Demokratieförderung. Hierzu zählen Maßnahmen wie das Demokratiefördergesetz, Engagementpolitik aber auch die Reform des Bildungssystems. Wissenschaftliche Erkenntnisse um die zentrale Rolle von Zivilgesellschaft und Bildung (von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen) für die Zufriedenheit mit der Demokratie sollten Grund genug sein, in zwar kostspielige, aber nachhaltige Förderstrukturen zu investieren. Auch hier sei nochmal an ein demokratisches Mindset erinnert, dass die Parteien des demokratischen Spek­trums zum Einnehmen einer langfristigen Perspektive und zur Zusammenarbeit in zentralen demokratiepolitischen Bereichen wie Bildung über Wahlperioden hinweg auffordert.

Ein Ort für die Demokratie

Die Forderung nach Aufwertung von Demokratiepolitik wird zivilgesellschaftlich immer lauter. 29 Organisationen haben Ende letzten Jahres an die demokratischen Parteien appelliert, Demokratiepolitik zum Thema zu machen. Außerdem erscheint im zweiten Quartal dieses Jahres ein Policy Paper der Bertelsmann Stiftung, welches die Ziele und Möglichkeiten einer bundespolitischen Demokratiepolitik umfassend beleuchtet. Und die Initiative für einen handlungsfähigen Staat unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Steinmeier gibt Hoffnung, dass das Bewusstsein für eine konstruktive Vernetzung von demokratiepolitischer Expertise politisch vorhanden ist.

Institutionalisierte Demokratiepolitik kann viele Gesichter haben: vom jährlichen Demokratiemonitor über eine dezidierte Ombudsperson bis hin zu einem vollwertigen Ausschuss. Der Kritik, eine solche Verortung der politischen Zuständigkeit für Demokratie würde den Anschein erwecken, sie sei andernorts nicht auch relevant, lässt sich entgegnen: Demokratiepolitischen Fragen einen Ort zu geben, ermöglicht, sie systematisiert zu bündeln, zu priorisieren sowie ihnen Sichtbarkeit und (überparteiliche) Ansprechbarkeit zu geben – also mehr Verbindlichkeit herzustellen. Unter konstruktiver Einbeziehung diverser Gruppen kann umfassendes Wissen generiert und kanalisiert werden. Wollen wir die Probleme unserer Demokratie verstehen und angehen, braucht Demokratiepolitik eine Aufwertung!

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