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© Gerngross Glowinski Fotografen

Vor 30 Jahren fiel die Mauer Demokratiearbeit – Herausforderung für den weiteren Einigungsprozess

Bis zur friedlichen Revolution in der DDR war Wolfgang Thierse parteilos, trat im Oktober 1989 dem Neuen Forum bei und wurde Anfang 1990 Mitglied der SDP, der Sozialdemokratischen Partei der DDR, Mitte 1990 deren Vorsitzender. Da führte die Partei bereits den Namen SPD. Er war von 1998 bis 2005 Bundestagspräsident, danach bis 2013 Vizepräsident. Von 1990 bis 2005 war er stellvertretender Parteivorsitzender, mehr als 20 Jahre Vorsitzender der Grundwertekommission der SPD und von 1996 bis 2015 Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie. Zu seinen persönlichen Erinnerungen an die Zeit des Mauerfalls, dem mentalen Zustand Ostdeutschlands heute und den Erfolgen der AfD befragte ihn Klaus-Jürgen Scherer.

NG|FH: Vor 30 Jahren siegte die friedliche Revolution, was das endgültige Ende der DDR einläutete und den Weg zur deutschen Einheit freimachte. Du warst zunächst im Neuen Forum und wurdest 1990 Vorsitzender der ostdeutschen Sozialdemokraten im Einigungsprozess. Da gibt es sicher ein paar Erinnerungen, die Du weitergeben möchtest.

Wolfgang Thierse: Es gibt eine Fülle von Erinnerungen, es waren ja dramatische Wochen und Monate. Und die Jahre 1989 und 1990 bilden die aufregendste und mein Leben am meisten verändernde Zeit meiner ganzen Biografie. Alle erinnern sich an den 9. November, den Tag des Mauerdurchbruchs. Der war bei uns gar nicht so aufregend. Wir haben die Fernsehbilder von der Pressekonferenz gesehen und nicht geglaubt, was Schabowski da etwas undeutlich sagte, weil wir ohnehin nie geglaubt haben, was die SED-Oberen sagten. Deswegen sind wir auch nicht sofort losgestürzt. Unsere kleinen Kinder schliefen, also sind wir erst zwei Tage später rübergegangen, denn am Abend des folgenden Tages hatten wir eine große Versammlung des Neuen Forums in der Berliner Gethsemanekirche und ich fand es wichtiger dorthin zu gehen, als in den Westen zu rennen. Aber als wir dann rübergingen, war das ein unvergessliches Erlebnis. So schön ist die Stadt seitdem nie wieder gewesen. So gut war die Stimmung, wildfremde Menschen haben uns begrüßt und mit Sekt empfangen und umarmt und überall war ein Gewusel in der Stadt. Also Westberlin im Ausnahmezustand und Ostberlin eigentümlich leer. Das ist mir unvergesslich.

Allerdings darf man diesen Herbst 1989 nicht auf den 9. November reduzieren. Wichtiger sind die zwei Monate davor. Ich erinnere mich daran, mit welcher Unruhe wir den 9. Oktober, den Montag in Leipzig, erwarteten. An den Montagen zuvor gab es immer schon Demonstrationen und wir hatten alle Angst, irgendwann schlägt das Regime zu, irgendwann gibt es ein Blutbad. Und wir hatten ja das Blutbad vom Tian'anmen-Platz im Gedächtnis. Ich werde die Erleichterung am Tag danach nie vergessen, als die Nachricht kam, 70.000 haben demonstriert und es ist kein Schuss gefallen und es war eine friedliche Demonstration. In gewisser Hinsicht war der 9. Oktober der Höhepunkt dieses Herbstes. Ab da nahm die Angst wohl bei ganz vielen und auch bei mir ab, dass das Regime zuschlagen würde und die beginnende Rebellion blutig unterdrückt.

NG|FH: Du fandest dann Deinen Weg in die Sozialdemokratie. Der SPD wurde ja oft vorgeworfen – ich erinnere an das Buch Uneinig in die Einheit von Daniel Friedrich Sturm – in der Vereinigungsphase zerstritten zu sein. Aber die ostdeutsche SPD war doch ein wichtiger Akteur?

Thierse: Natürlich gab es in der westdeutschen Sozialdemokratie Diskussionen über die Einheit; wie soll sie aussehen, wie schnell soll sie kommen? Aber solche Diskussionen hat es ja auch in der CDU gegeben. Noch Ende November in den zehn Punkten von Helmut Kohl ist nicht von der staatlichen Einheit die Rede, sondern von einer Konföderation. Das war übrigens auch die Meinung der bundesdeutschen SPD. Während sich in der ostdeutschen Sozialdemokratie in diesem Herbst Schritt für Schritt das Bewusstsein stärkte, wir müssen auf die deutsche Einheit zusteuern. Die neu gegründete SPD war die erste Partei, die ausdrücklich die deutsche Einheit anvisiert hat, viel eher als die Bürgerbewegungen, die im ganzen Jahr 1990 noch skeptisch waren. Deswegen ist die Behauptung, dass die Sozialdemokratie die Einheit abgelehnt habe, schlicht üble Nachrede.

Man muss genauer hinschauen: Helmut Kohl hat parteipolitisch genial die ostdeutsche Stimmung aufgegriffen und das Versprechen einer schnellen und schmerzlosen Einheit abgegeben; das Versprechen von den blühenden Landschaften. »Es wird niemandem schlechter gehen, aber vielen besser«, das waren seine Worte. Und eine Mehrheit der Ostdeutschen wollte das glauben. In ihrer Verunsicherung wollten sie so schnell wie möglich unter das rettende Dach der Bundesrepublik Deutschland. Die Sozialdemokraten waren nüchterner und etwas skeptischer. Wir ostdeutschen Sozialdemokraten hatten die Idee, die deutsche Einheit in einem Prozess von zwei, drei Jahren Schritt für Schritt zu gestalten. Aber der Zeitdruck war erheblich: die Ungeduld der Ostdeutschen – »kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, dann gehen wir« –, der sich abzeichnende wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR und die außenpolitische Ungewissheit, ob und wie lange Gorbatschow, die Sowjetunion mitspielen werden.

Diese Beschleunigung hat dann dazu geführt, dass wir tatsächlich in einem fast atemberaubenden Tempo im Jahr 1990 vorangehen mussten. Doch das kohlsche Versprechen und die Glaubensbereitschaft einer Mehrheit der Ostdeutschen haben Nachwirkungen bis heute. Je größer die Erwartungen, je größer die Glaubensbereitschaft, umso stärker sind die Enttäuschungswellen, die dann ab den 90er Jahren, vor allem jetzt wieder sichtbar werden.

NG|FH: Nun wird über die deutsche Einheit wieder heftig gestritten, eine erneute Welle des Unmuts, da muss doch grundlegend etwas schiefgegangen sein. Die Wirtschaftsdaten sind doch gar nicht überall schlecht, aber es ist von Frust, Wut und selbst Hass die Rede. Ein Drittel der Ostdeutschen fühlt sich als Bürger zweiter Klasse. Was kommt da eigentlich hoch nach 30 Jahren, nach einer so langen Zeit? Das ist doch höchst ungewöhnlich.

Thierse: Von den Enttäuschungen dieser großen Erwartungen habe ich schon gesprochen. Aber betrachten wir etwas genauer diejenigen, die AfD gewählt haben. Ich würde etwas schematisierend drei Gruppen unterscheiden:

Eine erste Gruppe sind diejenigen, die schon in vergangenen Jahren rechts gewählt haben. NPD und DVU gab es in ostdeutschen Parlamenten, so wie es sie in westdeutschen Parlamenten gegeben hat. Von Wilhelm Heitmeyer und seinen Studien Deutsche Zustände wissen wir, dass 10 bis 15 % der Deutschen autoritär, minderheitenfeindlich, ausländerfeindlich eingestellt sind. Die gibt es auch in Ostdeutschland.

Eine zweite Gruppe, das sind diejenigen, die in problematischen Regionen in Ostdeutschland leben, die charakterisiert sind durch Abwanderung, Überalterung, Männerüberschuss, Regionen mit großen Infrastrukturproblemen. Inbegriff davon sind die Braunkohlereviere. Dort gibt es große Unzufriedenheit, verständlicher- und berechtigterweise. Aus Wut, Enttäuschung, Protest wird dann AfD gewählt. Man sieht, indem ich das erläutere, dass Ostdeutschland inzwischen ein Flickenteppich ist von erfolgreichen Regionen und von hochproblematischen Regionen.

Und dann gibt es eine dritte Gruppe: Wähler, denen es ökonomisch nicht schlecht geht, die auch nicht in diesem Sinne ökonomisch-soziale Verlierer der Einheit sind, sondern die sich bedroht fühlen durch die Dramatik der Veränderungen, die gegenwärtig stattfinden – Stichworte Globalisierung, offene Grenzen, Flüchtlinge, digitale Transformation der Arbeitswelt, ökologische Katastrophe usw. Die fühlen sich in Ostdeutschland umso mehr bedroht, weil die Ostdeutschen ja gerade in den letzten 30 Jahren eine dramatische Veränderung bestanden haben, unter Schmerzen, unter Opfern. Und nun kommt die nächste Dramatik hinzu. Und das erzeugt Gefühle wie Unsicherheit, Abstiegsängste, Entheimatungsbefürchtungen und ruft Abwehrreflexe hervor – das alles trägt man zur AfD als einer populistischen Partei, die verspricht, dass diese Veränderungen nicht notwendig sind, dass man Grenzen schließen könne, dass die ökologische Katastrophe eine Lüge sei, dass der »Gender-Wahnsinn«, überhaupt die kulturelle Pluralisierung, zurückgedrängt werden könne.

Also drei verschiedene Gruppen, aber unter dem Strich, sage ich ausdrücklich, es sind eben nicht nur und nicht vorrangig ökonomisch-soziale Gründe, sondern es sind vor allem – und das muss man ernst nehmen – kulturelle Gründe, die in Ostdeutschland die Stimmung und das Klima bestimmen und die dazu führen, dass Leute AfD wählen, obwohl sie wissen, dass diese unter anderem auch eine rechtsextremistische Partei ist. Aber sie ist in den Augen der Ostdeutschen eben auch eine Protestpartei und eine national und kulturell konservative Partei.

NG|FH: Heftig wird derzeit über die Nachwendezeit diskutiert, es geht um die Frage, was ist eigentlich DDR-Erbe oder was ist Fehlern des Einigungsprozesses geschuldet? Bei Jana Hensel und Wolfgang Engler konnte man sogar lesen, die AfD als Rebellion des Ostens sei eine Art Emanzipationsbewegung von rechts. Andererseits hat Steffen Mau mit Lütten Klein ja gerade ein wichtiges Buch herausgebracht, in dem er die verschiedenen Erfahrungen und Prägungen umfassend auf der Basis soziologischen Wissens und persönlicher Erfahrungen beschreibt. Wenn man hingegen nur die Nachwendezeit kritisiert, entlastet man da nicht eigentlich die DDR?

Thierse: Wer behauptet, dass nur die Nachwendezeit, dass die 90er Jahre die Ursache für die Missstimmungen in Ostdeutschland sind, der ist zumindest einseitig und dem werfe ich vor, dass er die Ostdeutschen entlastet – und da stimmen Linke und AfD überein – vom selbstkritischen Rückblick auf ihre Vergangenheit in der DDR. Er negiert die wirtschaftliche und die mentale Erblast, die die DDR hinterlassen hat. Damit betreibt er in bestimmter Weise die Beschönigung von DDR-Geschichte und weist Schuld an den Westen. Das war ein beliebtes Spiel in der DDR – die da oben und die im Westen sind schuld. Das entlastet von der Rückfrage auf uns Ostdeutsche selber, was unser Verhalten in der DDR war, was unsere historische Rolle in der friedlichen Revolution war und was wir Ostdeutschen in den vergangenen 30 Jahren geleistet haben.

NG|FH: Diese These von der Kolonialisierung, oder wie das auch immer genannt wird, wird derzeit besonders anhand des Urteils über die Treuhand thematisiert. Da wird sogar ein Untersuchungsausschuss gefordert. Auf der anderen Seite hat Norbert Pötzl, Redakteur des Spiegel, als einer der Ersten diese jetzt freigegebenen Akten gesichtet und kam zu dem Urteil, so negativ, wie oft geschildert, auch von Petra Köpping in ihrem Buch Integriert doch erst mal uns, sei es doch nicht gewesen.

Thierse: Es ist gut, dass die Akten jetzt zugänglich sind. Ich bin sehr dafür, dass genau untersucht wird, was die Treuhand geleistet hat, was sie versäumt hat, welche Fehler sie begangen hat. Denn die Treuhand ist zu einem Buhmann geworden, auf den man alles schieben kann. Jeder Ostdeutsche kann darüber Geschichten erzählen und da wird vergessen, dass die Treuhand eine wahnsinnige Aufgabe hatte, dass einiges gelungen, einiges schiefgegangen ist und dass man sehr genau hinsehen muss, welche Möglichkeiten es überhaupt gab. Eine nüchterne, objektive Betrachtung, eine Analyse der Arbeit der Treuhand könnte zur Versachlichung beitragen, damit die Treuhand nicht mehr diejenige ist, an der sich alle Schuld ablagern lässt.

NG|FH: Das war ja eigentlich zunächst eine ostdeutsche Idee, die Treuhand...

Thierse: …die Treuhand war eine ostdeutsche Idee und ich will ausdrücklich sagen, wir haben schon 1990/91 immer darüber gestritten. Unser Wunsch war, dass die Treuhand – vielleicht nicht flächendeckend, das wäre illusionär gewesen, aber doch an wichtigen Beispielen, an wichtigen Betrieben und Unternehmen der DDR – den Grundsatz verwirklicht: Erst sanieren, dann privatisieren; also ostdeutsche Unternehmen durch öffentliche Investitionen zukunftsfähig machen und nicht auf Teufel komm raus zu privatisieren. Ich glaube, Detlev Karsten Rohwedder (vom 1. September 1990 bis zu seiner Ermordung am 1. April 1991 Präsident der Treuhandanstalt, die Red.) hatte einen Sinn dafür, seine Nachfolgerin (Birgit Breuel, die Red.) weniger. Sie hat sich eher dem Bonner Diktat gebeugt, so schnell wie möglich und fast um jeden Preis zu privatisieren.

Aber dass unser Vorschlag nicht ganz dumm war, kann man an einem wunderbaren Beispiel sehen, nämlich Jenoptik. Lothar Späth hat es vermocht, erst zu sanieren, mit ziemlich viel Staatsknete, und dann zu privatisieren. Es ist ein erfolgreiches Unternehmen geworden. Ich hätte mir mehr solche Beispiele gewünscht, auch wenn das gewiss nicht flächendeckend möglich gewesen wäre.

NG|FH: Die Prozesse der Einheit auf Westdominanz zu reduzieren wäre zu eindimensional?

Thierse: Da wird auf eine billige Weise der westdeutschen Regierung, den Westdeutschen alle Schuld in die Schuhe geschoben. Das bestätigt etwas, was ich die mentale Erblast aus DDR-Zeiten nenne. In der DDR, die ja eben nicht nur eine SED-Diktatur war, sondern wie der treffende Titel eines wichtigen Buches aus dem Jahr 1990 lautet, ein vormundschaftlicher Staat. In der DDR konnte keine selbstbewusste Zivilgesellschaft entstehen. Diese 40 Jahre DDR, und nehme ich noch die Nazi-Zeit und die preußische Vorgeschichte dazu, hat eine autoritäre Prägung erzeugt. Alles von oben erwarten zu müssen und alles dann vom Westen erwarten zu wollen.

Die zweite Prägung, die wir mit uns tragen, ist ein geradezu zähes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber dem Westen. Wir haben zu DDR-Zeiten ja immer mit dem Blick nach Westen gelebt und der Westen war der erfolgreichere, der stärkere Teil Deutschlands. Selbst wenn man dagegen angekämpft hat, spätestens bei Reisen ins »sozialistische Ausland« haben wir erfahren, dass wir die zweitklassigen Deutschen sind mit unserem Papiergeld. Diesen Minderwertigkeitskomplex schleppen viele noch als ihren Rucksack mit. Und das führt heute zur Unfähigkeit und Unwilligkeit eines Teils der Ostdeutschen zu positiver Selbstwahrnehmung: Nämlich darauf zu schauen, was wir in den letzten 30 Jahren geleistet haben, unter widrigen, unter schmerzlichen Umständen und mit Opfern. Aber wir haben doch eine erhebliche, eine dramatische Transformation bewältigt! Nicht alle gleich erfolgreich, aber doch vielfach erfolgreich. Dass daraus kein Selbstbewusstsein entsteht, das wird bestärkt, früher von der Linkspartei und jetzt von der AfD nach dem Motto, »die da oben«, »die im Westen« sind an allem schuld und für alles verantwortlich. Und da sie die Wunder nicht bewirkten, die man von ihnen erwartet hat, ist man von ihnen enttäuscht und verachtet sie. Das ist eine, wie ich finde, dramatische mentale Erbschaft, die nicht in den letzten 20 Jahren entstanden ist, sondern von früher stammt und von der sich zu befreien so schwer ist.

NG|FH: Das heißt, wir reden nicht nur über sozioökonomische Verhältnisse, sondern auch über ein sozialpsychologisches DDR-Erbe?

Thierse: Ja durchaus. Ich nenne dies in einem weiten Sinne des Wortes kulturelle Faktoren: Selbstverständnis, Interpretation der eigenen Geschichte, der eigenen Lebenswelt. Das ist doch ein interessanter Widerspruch: Brandenburg geht es nach den objektiven Daten so gut wie noch nie seit 1991 und trotzdem gibt es eine verbreitet schlechte Stimmung, die nicht nur aus den Infrastrukturproblemen der ländlichen Regionen, über die ich gesprochen habe, zu erklären ist.

NG|FH: Und doch haben 40 % der Arbeitslosen dort jetzt AfD gewählt.

Thierse: Ja, es gibt ökonomisch-soziale Ursachen. Aber wenn man die Lage insgesamt betrachtet, erklären sie eben nichts alleine und nicht vorrangig, sondern es sind zudem kulturelle Gründe der Enttäuschung: gegenüber den eigenen hohen Erwartungen, den Versprechungen aus dem Westen, aber auch im Sinne einer gestörten positiven Selbstwahrnehmung, immer wieder neu angestiftet durch die AfD.

NG|FH: Zudem schürt die AfD die Angst vor den Migranten. Wieso wurde dies zu einem Schlüsselthema, wo es eigentlich nur einen geringen Ausländeranteil in den ostdeutschen Ländern gibt?

Thierse: Im Flüchtling ist die Veränderungsdramatik personifiziert. Das Fremde und die Fremden rücken näher und stellen sowohl verschärfte soziale Verteilungsfragen, als auch die eigene kulturelle Identität, die Selbstverständlichkeit des eigenen Lebens infrage, erzeugen damit das, was ich Entheimatungsbefürchtungen nenne. Flüchtlinge sind die Personifikation dessen, wogegen sich Abwehrreflexe richten, worauf Menschen mit Abstiegsängsten reagieren und mit einer heftigen konservativen Abwehr gegen die vielen gleichzeitigen und als bedrohlich empfundenen Veränderungen. Je offener die Grenzen werden, umso größer die Sehnsucht nach nationalen Grenzen. Je stärker die kulturelle und weltanschauliche Pluralisierung unserer Gesellschaft, umso mehr der Wunsch nach klaren Identitäten, nach nationaler Leitkultur.

Das alles ist zwar nicht spezifisch ostdeutsch, wird aber in Ostdeutschland heftiger erlebt, weil – ich wiederhole es noch einmal – gegenwärtige Veränderungsdramatik, die in den Flüchtlingen personifiziert ist, auf mit Mühe und Not bestandene Veränderungsdramatik trifft. Das macht Menschen unsicherer, forciert ihr Bedürfnis nach den einfachen, klaren Antworten, erzeugt die Sehnsucht nach den starken Personen und das ist die Stunde der Populisten.

NG|FH: In dem erwähnten Buch von Steffen Mau finden sich ähnliche Schlüsselbegriffe, wie Erschöpfung, Festhalten, Bewahren, Verteidigen, »nicht schon wieder«.

Thierse: Genau so. Das ist auch meine Analyse, übrigens schon länger, Anfang der 90er Jahre hatte ich formuliert: »Im Osten gibt es Überforderungsängste und im Westen Abwehrängste gegenüber den Lasten der Wiedervereinigung.« Das war damals noch nicht die offene Welt von heute, in der die Verunsicherungsprozesse noch einmal dramatischer geworden sind.

NG|FH: Was können Demokraten denn darauf antworten?

Thierse: Das Schwierige ist jetzt, die demokratischen Parteien können darauf nicht populistisch mit einfachen Antworten und mit gigantischen Versprechungen reagieren. Deshalb müssen die demokratischen Parteien, damit auch die Sozialdemokratie, erstens die ökonomisch-sozialen und die Infrastrukturprobleme lösen. Sie müssen zeigen, dass sie handlungsfähig sind und dass sie Problemlösungskompetenz haben. Zum Beispiel für die Lausitzer Kohleregion.

Aber zweitens müssen wir begreifen, dass der weitere Prozess der deutschen Einigung eine ganz wesentliche kommunikative und kulturelle Aufgabe ist. Wir müssen begreifen, dass wir in einem ganz anderen, stärkeren Sinn Demokratiearbeit betreiben müssen. Und wir müssen auf die Klagen, die wir gegenwärtig hören, energischer eingehen. Man hört: »Ihr nehmt uns gar nicht wahr«. Das ist wieder die Adressierung an den Westen. Und da erinnere ich mich, dass ich ja wirklich seit Anfang der 90er Jahre wie ein Wanderprediger mit zwei flehentlichen Bitten und Forderungen durch die Lande gezogen bin. Die erste hieß: »Liebe Westdeutsche, unterscheidet zwischen dem Urteil über das System, das gescheitert ist, dieses Urteil muss klar und hart sein, und dem Urteil über die Menschen, die in diesem System gelebt haben, dieses Urteil muss behutsam und differenziert sein.« Die zweite Forderung war: »Wir Ostdeutschen und Westdeutschen müssen uns wechselseitig unsere Lebensgeschichten erzählen und dann werden wir bemerken, dass die im Westen nicht nur strahlende Erfolgs- und Heldengeschichten hinter sich haben und die im Osten nicht nur finstere Schurken- und Niederlagengeschichten.« Beides hat zu wenig stattgefunden. Deswegen sage ich, der weitere deutsche Einigungsprozess muss in einem viel größeren Ausmaß ein kommunikativer Prozess sein, der weit über das hinausgeht, was Politik zu leisten vermag. Was eine wirklich zivilgesellschaftliche Aufgabe – auch von Gewerkschaften, Sportverbänden, Kirchen, Kulturinstitutionen – ist. Denn wir wissen nach alter Lebenserfahrung: Mentalitäten entstehen langsam, sie verändern sich langsam, sie verändern sich nicht durch Befehl und Anordnung von oben, sondern in mühseligen kulturellen Prozessen, in Selbstbehauptungsprozessen, in Aneignungsprozessen in einer veränderten Realität.

NG|FH: Der Bundespräsident hat gerade den treffenden Satz formuliert: »Frust ist kein Freifahrschein für Menschenfeindlichkeit.« Braucht es neben der verständnisvollen Seite nicht auch klare Kante gegen rechts? Dafür hast Du Dich ja auch immer engagiert?

Thierse: Da würde ich gerne eine wichtige Unterscheidung machen. Wir müssen ohne Zweifel klare Kante gegen die Funktionäre der AfD zeigen, im Übrigen meistens aus dem Westen Gekommene, was ja eine eigentümliche Pointe ist: Da beklagen sich Ostdeutsche, dass sie vom Westen kolonisiert worden sind und wählen jetzt eine Partei, die von westdeutschen Funktionären dominiert wird. Also klare Kante gegen rechtsextremistische, völkisch-nationalistische und populistische Funktionäre einerseits. Und andererseits der mühselige Versuch etwas zu werden, was Bernhard Pörksen in einer, wie ich finde, wunderbaren Formulierung »Hermeneuten der Wut« genannt hat. Also das Gespräch suchen von Bürger zu Bürger, Kollege zu Kollege, Verwandtem zu Verwandtem. Was ist der Anlass Deines Ärgers, Deiner Wut, Deiner Enttäuschung? Warum trägst Du das ausgerechnet zur AfD? Solch hermeneutische Arbeit ist viel weniger möglich im Gespräch zwischen Politikern und Bürgern, weil da immer eine Art Vorwurfs- und Anklagedistanz da ist. Aber von gleich zu gleich zu reden, so konkret wie möglich, über die Konflikte, den Ärger, die Enttäuschung, über Hoffnungen, das wünsche ich mir. Das meine ich mit dem Stichwort Demokratiearbeit als eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre für den weiteren Prozess der deutschen Einigung.

NG|FH: Nochmals zusammengefasst, was ist Deine Hauptbotschaft 30 Jahre danach?

Thierse: Ich habe zwei Hauptthesen, die mir wichtig sind. Die erste, die ostdeutsche Problematik ist nur an einem Punkt spezifisch, dass nämlich die gegenwärtige Veränderungsdramatik mit allen Faktoren der Erzeugung von Verunsicherung, von Angst, von Entheimatungsbefürchtungen, Abstiegsängsten, verschärften Verteilungskonflikten auf eine überstandene, bestandene Veränderungsdramatik trifft. Sozusagen auf eine viel labilere Grundlage, wenn man dieses unangenehme Wort verwenden wird. Deswegen sage ich, böse ausgedrückt, die Tatsache, dass die AfD im Osten so erfolgreich ist, ist weniger erklärungsbedürftig als der Erfolg der AfD in Baden-Württemberg, in einem so reichen und erfolgreichen Land.

Und das Zweite ist, dass ökonomisch-soziale Faktoren nur ein Teil der Erklärung sein können und in viel stärkerem Ausmaß das, was ich kulturelle Gründe, kulturelle Zusammenhänge nenne, um die Stimmung und die Lage im östlichen Deutschland zu verstehen.

NG|FH: Daher siehst Du auch die aktuelle Kritik am Einigungsprozess differenzierter?

Thierse: Die Kritik am Grundmuster der deutschen Vereinigung, das sage ich auch im Nachhinein, ist eine illusionäre Kritik: 1990 sind zwei Ungleiche zusammen gekommen – ein erfolgreiches Land und ein ökonomisch, sozial und auch moralisch gescheitertes Land. Da sind die Gewichte verteilt, das eine ist der Lehrmeister, das andere der Lehrling, ein unangenehmes Verhältnis für den Lehrling, es bestätigt den alten Minderwertigkeitskomplex wieder. Bei den einen musste sich alles ändern, bei den anderen nichts: Warum sollte jemand in Freiburg im Breisgau denken, bei ihm müsse sich etwas ändern, nur weil die in Leipzig den Kommunismus erledigt haben? Das hat die Reformbedürftigkeit der Bundesrepublik überdeckt. Aber wem will ich das vorwerfen? Das ist zunächst einmal eine objektive Konstellation, aus der in bestimmter Weise missliche Konsequenzen folgen.

NG|FH: Aber vor allem war es doch eine friedliche Revolution für Demokratie und Freiheit, ist das nicht das Entscheidende, was historisch bleibt?

Thierse: In der FAZ wurde im Sommer eine Debatte angezettelt, die wirklich mit dem Satz begann: »In diesen Tagen wird uns wieder die Mär von der Opposition erzählt, deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt hat«. Das ist ein Frontalangriff gegen die historische Leistung der Ostdeutschen, mit der kindischen Vorstellung, dass wir je behauptet hätten, wir hätten es alleine geschafft.

Nein, das Jahr der Wunder 1989/90 war ein Zusammenwirken vieler Faktoren und Kräfte: Gorbatschow und Solidarność, das ökonomische und moralische Desaster der SED, die Ausreisewelle und die Kräfte des Widerstands, die Überwindung unserer Angst, der Aufbruch ins Öffentliche, ins Freie. Eine Sternstunde der deutschen und europäischen Freiheits- und Demokratiegeschichte!

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