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Der Brexit – Schaukampf am Pokertisch

Michael Bloomberg, der frühere Bürgermeister von New York, hat über den Brexit gesagt, er sei »das Dümmste, was je ein Land getan hat« – mal abgesehen von der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Sicher ist, dass sich die britischen Wähler und das politische System Großbritanniens, ganz besonders die Konservative Partei, in eine Sackgasse manövriert haben und nun nicht mehr wissen, wie sie da wieder herauskommen können. Seit 1945 hat es die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs vermieden, sich über ihre Rolle in der modernen Welt klar zu werden und die eigene Zukunft öffentlich zu diskutieren. Man zog es vor, sich »durchzuwurschteln«. Als das Commonwealth aber zerbrach und damit der Zugang zu den überseeischen Märkten versperrt war, rang sich die britische Regierung aus wirtschaftlichen Gründen zu der Einsicht durch, dass ihr nichts anderes übrig bleibe, als dem gemeinsamen Markt doch beizutreten. Von Anfang an waren die Briten allenfalls halbherzige Europäer. Bis heute beginnt Europa für die allermeisten Briten erst in Calais.

Zugleich glaubte das Vereinigte Königreich, sich stets auf seine special relationship mit den USA verlassen zu können. Das war eine Fiktion, die bis heute tief im mythischen Selbstverständnis der Briten verankert ist und für die USA stets von großem Nutzen war, weil sie auf diese Weise sozusagen durch die Hintertür einen bequemen Zugang zu Europa erhielten, während die Briten dadurch verleitet wurden, sich auf der internationalen Bühne als das Schwergewicht zu fühlen, das sie in Wirklichkeit nicht waren.

Aber durch die Entscheidung des ehemaligen konservativen britischen Premiers David Cameron, ein Referendum über das zukünftige Verhältnis Großbritanniens zur EU durchzuführen, wurden die Briten plötzlich in eine öffentliche Debatte hineingestoßen, die sie in den vergangenen 70 Jahren ängstlich vermieden hatten. Die Kampagne für das Referendum dauerte nur wenige Wochen, aber sie wurde emotional und hasserfüllt geführt und hatte zur Folge, dass heute nahezu alle öffentlichen Debatten vergiftet sind und sich Unzufriedenheit und Wut ausbreiten. Die Nation ist heute tiefer gespalten denn je. Das gilt für die alten Risse entlang der Klassengrenzen, die kulturellen und historischen Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden und zwischen England und den keltischen Randbereichen wie Wales und Schottland, für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Aber seit dem Referendum kommt noch die Spaltung zwischen Jung und Alt hinzu und zwischen den Brexit-Befürwortern und den Proeuropäern. Die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs ist in sich gespalten, Freundschaften und Familien leiden darunter, in allen Parteien bekämpfen sich rivalisierende Gruppen mit unlauteren Mitteln, am auffälligsten in der regierenden Konservativen Partei unter Theresa May. Die Konservative Partei kämpft ums nackte Überleben, und es ist zu befürchten, dass sich Partei und Regierung in einer aussichtslosen Lage befinden.

Die Konservativen unter Cameron, die das Referendum einleiteten, um ihre rechte Flanke gegen die an Popularität gewinnenden Antieuropäer von UKIP zu sichern, haben sich verrechnet. Es gelang ihnen zwar UKIP zurückzudrängen, aber den Kollateralschaden ihres vermeintlich listigen Manövers hatten sie nicht vorausgesehen: Das Referendum ergab eine knappe Mehrheit für den Austritt aus der EU.

Die Konservative Partei hat keine Chance, die nächsten Wahlen zu überleben, wenn es ihr nicht gelingt, die 27 anderen Mitglieder der EU für einen für Großbritannien günstigen Deal bezüglich der Bedingungen und Kosten für den Brexit zu gewinnen. Nicht einmal ein Kompromiss hinsichtlich der Abschlussrechnung könnte die Regierung Theresa Mays noch retten. David Davis, der Unterhändler auf britischer Seite, pokert nicht eben geschickt und hofft noch immer, dass sein Gegenspieler, EU-Chefunterhändler Michel Barnier, zuerst die Nerven verliert und Zugeständnisse macht. Danach sieht es aber nicht aus. Die Verhandelnden auf EU-Seite haben ihre Bedingungen wiederholt klar gemacht. Sie haben auch immer wieder die Höhe der Scheidungskosten beziffert: 60 Milliarden Euro. »Es geht nur darum, die Konten auszugleichen, wie bei jeder Scheidung«, so Barnier.

Aber für die britische Regierung und für die britische Presse ist die Sache nicht so einfach. Sie bezichtigen die EU der Erpressung, behaupten, dass man sie in Brüssel zwingen möchte, die Katze im Sack zu kaufen. Die britische Regierung möchte genau wissen, was sie als Gegenleistung erhält, bevor sie eine Zahl für die Abschlussrechnung nennt. Im Artikel 50 des Unionsvertrags selbst steht nichts über Geld und Verpflichtungen, und entsprechend hat David Davis deutlich gemacht, dass seiner Meinung nach das Vereinigte Königreich überhaupt keine Zahlungen zu leisten habe, wenn es zu keiner Vereinbarung über die Trennung komme. Davis spielt auf Zeit und er kann es, weil der Artikel 50 eine Frist von zwei Jahren für den Abschluss der Austrittsverhandlungen vorschreibt.

Als Geste des guten Willens hat die britische Seite eingewilligt, der EU 20 Milliarden Euro für 2019/20 zu überweisen, möchte sich aber bezüglich weiterer Zahlungen nicht festlegen. Theresa May hat darüber hinaus vage angedeutet, dass das Vereinigte Königreich »seine Verpflichtungen erfüllen werde«. Aber die EU möchte die Zusicherung erreichen, dass Großbritannien »alle Verpflichtungen« erfüllt, was bedeuten könnte, dass es weitere 30 Milliarden Euro für bereits vereinbarte Projekte zu zahlen hätte, obwohl die Gelder noch gar nicht ausgegeben sind.

Da die Begleichung von Schulden nach EU-Recht nicht erzwungen werden kann, bleibt für Michel Barnier nur die Möglichkeit, darauf zu setzen, dass die Briten die EU nicht ohne eine Vereinbarung verlassen wollen und nicht riskieren möchten, ihre internationale Glaubwürdigkeit als verlässliche Handelspartner zu verlieren. Werden David Davis und Theresa May das Risiko eingehen, die Glaubwürdigkeit Großbritanniens aufs Spiel zu setzen, um ihre Partei und ihre Karrieren zu retten? Wer wird als Erster die Nerven verlieren, Barnier oder Davis? Verpassen Sie nicht die nächste Folge in diesem nervenzerreißenden Krimi!

(Aus dem Englischen von Johano Strasser.)

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