Im September 1898 ist er gestorben. Einige Monate zuvor wurde Brecht geboren, und es ist eine sonderbare Vorstellung, dass die beiden Autoren wenigstens eine kleine Wegstrecke ihres Lebens gleichzeitig verbracht haben. Als Menschen und als Schriftsteller scheinen sie weit voneinander entfernt: der Bayer aus Augsburg und der Preuße aus Neuruppin/Brandenburg; der eine ein grandioser Dramatiker, der andere ein Meister der gelassenen Prosa; der eine ein Willensmensch und Weltbeweger, der andere ein leiser und genauer Chronist. Nur in ihrem nüchternen Blick auf die Wirklichkeit waren sie einander nahe. Und noch näher waren sie einander im Tod: beide gestorben in Berlin und begraben auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, nur wenige Schritte voneinander entfernt. Das wird am Ende kein Zufall sein.
Zu Lebzeiten war Theodor Fontane nicht berühmt. Was seine Zeitgenossen nicht erkannten (von allerwenigsten Ausnahmen abgesehen, abgesehen auch – wieder einmal – von der jüdischen Leserschaft), das erkennen wir von heute aus in schöner Deutlichkeit: dass er nämlich in seiner Zeit und näheren Umgebung eine Ausnahmeerscheinung war unter deutschen Schriftstellern, der Einzige, der an die großen russischen, englischen, französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts heranreicht.
Aber während Tolstoi und Turgenew, Balzac und Flaubert, Dickens und Thackeray bereits zu Lebzeiten Schule machten, war es Fontanes literarisches Schicksal, dass er jenseits unserer Grenzen lange ein Unbekannter blieb. In der französischen Tageszeitung Le Monde stand vor einiger Zeit eine respektvolle Besprechung des kleinen Romans Graf Petöfy. Mit mehr als 100 Jahren Verspätung wird Fontane jetzt auch in andere Sprachen übersetzt, in anderen Ländern entdeckt und gelesen. Das hat mit der Qualität dieses Autors zu tun. Die Quantität lässt sich ohnehin nicht übersehen, wie die Werkausgaben belegen: rund 20 Bände mit 15.000 Seiten. Daneben das ausgedehnte, hinreißende Brief-Œuvre, in seiner Zeit ohne Vergleich. Und als Krönung das späte Erzählwerk: Romane aus der berlinisch-preußisch-deutschen Gründerzeit, Gegenwartsromane, Gesellschaftsromane. Kritische Besichtigung eines Zeitalters.
Begründer des modernen Romans in Deutschland
Stendhal und Balzac, Dickens und Thackeray, Flaubert und Dostojewski, die großen Romanautoren des 19. Jahrhunderts, starben, ehe sie 60 wurden. Fontane war fast 60 Jahre alt, als er seinen ersten Roman schrieb: Vor dem Sturm – den Roman über die Kriege gegen Napoleon. Erst im Alter rüstete er sich zum eigentlichen Lebenswerk. In einem Brief an Wilhelm Hertz schrieb er: »›Ich fange erst an.‹ Nichts liegt hinter mir, alles vor mir; ein Glück und ein Pech zugleich. Auch ein Pech. Denn es ist nichts Angenehmes, mit 59 als ein ›ganz kleiner Doktor‹ da zu stehn.« Da hatte er Vor dem Sturm gerade abgeschlossen. Er war fast 80, als er den Stechlin vollendete, den letzten Roman, der postum in Buchform erschien. Dazwischen lagen anderthalb Dutzend weiterer Romane, die meist in Fontanes berlinisch-preußischer Gegenwart spielen: L’ Adultera; Irrungen, Wirrungen; Stine; Cécile; Die Poggenpuhls; Mathilde Möhring; Frau JennyTreibel; Effi Briest. Diese Bücher enthalten ein soziales Spektrum, das anders zusammengesetzt sein mag als dasjenige eines Balzac, eines Zola, aber nicht weniger vollständig ist. Hof und Adel, Militär und Geistlichkeit, das große und das kleine Bürgertum, Besitz und Bildung, der vierte Stand, Näherinnen, Putzmacherinnen, sogenannte Künstlerkreise, nicht zuletzt das Judentum in seinen Spielarten – das alles ist hier in großer Personenfülle vertreten.
In diesen Büchern zeigt sich Fontanes literarischer Rang, liegt seine historische Rolle. Er war, wie Heinrich Mann gesagt hat, »der Begründer und zugleich Vollender des modernen Romans in Deutschland«. »Als erster hier hat er wahrgemacht, dass ein Roman das gültige, bleibende Dokument einer Gesellschaft, eines Zeitalters sein kann …« Thomas Mann drängte es schon 1910 zu dem Bekenntnis, »dass kein Schriftsteller der Vergangenheit oder Gegenwart mir die Sympathie und Dankbarkeit, dies unmittelbare und instinktmäßige Entzücken, diese unmittelbare Erheiterung, Erwärmung, Befriedigung erweckt, die ich bei jedem Vers, jeder Briefzeile, jedem Dialogfetzchen von ihm empfinde«.
Fontanes Leistung grenzt ans Wunderbare, gleich in zweifacher Hinsicht: Wenn man sie misst an seiner Biografie, aber auch an seinen literarischen Zeitgenossen. Gab es den deutschen Roman überhaupt, bevor Fontane ihn erschuf? Es gab ihn nur als Bildungsroman, nach dem Muster von Goethes Wilhelm Meister. Was fehlte, war der Zeit- und Gesellschaftsroman. Fontane, noch weit von seiner literarischen Zukunft entfernt, schrieb 1855 aus London: »Gewisse Vorzüge des englischen Romans sind aller Welt bekannt. Dickens und Thackeray sind unübertroffen, vielleicht sogar unübertrefflich in daguerreotypisch treuer Abschilderung des Lebens und seiner mannigfachen Erscheinungen. Der letzte Knopf am Rock und die verborgensten Empfindungen des Herzens werden mit gleicher Treue wiedergegeben. Sie machen den Egoismus, die Scheinheiligkeit der Gesellschaft und die Verderbtheit bestimmter Kreise und Klassen zum roten Faden ihrer Darstellung.«
Fontane rühmte an Englands großen Autoren ihre Nähe zur Lebenswirklichkeit. Davon war der deutsche Roman weit entfernt. Er stand im Bann der Weimarer Klassik, neigte dazu, die Wirklichkeit des Lebens einem Bildungsziel oder ästhetischen Ideal unterzuordnen. Dann aber geschieht ein Wunder: der Auftritt Fontanes. Er war der erste in deutscher Sprache, der schreibend den Weg zur Lebenswirklichkeit fand, weltläufig-nüchtern und großstädtisch-urban. Fontane atmete die Luft der rasch expandierenden Großstadt Berlin, und er besaß Welterfahrung. Die war ihm nicht in die Wiege gelegt worden, gemäß seinen Worten: »Ohne Vermögen, ohne Familienanhang, ohne Schulung und Wissen, ohne robuste Gesundheit bin ich ins Leben getreten, mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlecht sitzenden Hose.«
Fontane war 30, als er, der gelernte Apotheker, den Entschluss fasste, als Journalist zu arbeiten. Zehn Jahre später lagen zwei Englandaufenthalte hinter ihm, die im ganzen Werk ihre Spuren hinterlassen haben. Und es begannen die Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Das nächste Jahrzehnt führte ihn, im Gefolge der preußischen Armeen, auf die Schauplätze der Kriege von 1864, 1866 und 1870/71. Stets war er als Schreibender präsent: mit Reisebüchern über England und Schottland, Tagebüchern aus Dänemark und Italien, Kriegsberichten aus Böhmen und Schleswig oder mit politischen Korrespondenzen aus London. Der 50-Jährige kannte Europa von Kopenhagen bis Rom, von der Atlantikküste bis Prag und Wien. Er hatte in Fingals Höhle auf den Hebriden und in die Blaue Grotte auf Capri geschaut. Zwei volle Jahrzehnte widmete er dann seiner Tätigkeit als Theaterkritiker in Berlin. Erst danach stieß er zum »Eigentlichen« vor: zur kritischen Besichtigung seines Zeitalters.
Es geschah mit Risiko. Der bürgerliche Brotberuf wurde preisgegeben zugunsten der materiell unsicheren Autorenexistenz. Fontane schrieb: »Ein Apotheker, der statt von einer Apotheke von der Dichtkunst leben will, ist so ziemlich das Tollste, was es gibt.« Aber er hat dieses Tollste gelebt und geleistet, unter Demütigungen und Entehrungen, doch mit enormem Gewinn für die menschliche Substanz seines Werkes. So wurde er zum Chronisten der Bürgerzeit. Dabei besaß er selber einige zutiefst bürgerliche Eigenschaften, voran Fleiß und Ausdauer. Sie waren die Garanten für die Stetigkeit einer Produktion, die sich durch nichts beirren ließ. Weder durch die Verlockung öffentlicher Ämter wie die Position des Sekretärs der Akademie der Künste (»Mir ist die Freiheit Nachtigall«) noch durch die Einsprüche der Ehefrau Emilie: »Sie hat mich als Schriftsteller geheirathet und muß sich schließlich darin finden, daß ich, trotz Abgrund und Gefahren, diese Art des freien Daseins den Alltagscarrieren mit ihrem Zwang, ihrer Enge und ihrer wichtigthuerischen Langeweile vorziehe.«
»Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«
Fontane schrieb rastlos und unermüdlich und beherzigte die alte Schriftstellerregel »Nulla dies sine linea« (»Kein Tag ohne Zeile«), auch wenn er sich matt und unpässlich fühlte, er wusste, dass man die Inspiration nicht herbeizwingen, sondern nur mit einer Art Demut erwarten kann. Die meisten Bücher entstanden schubweise, in mehreren Durchgängen. Fontane hatte die Geduld, ein Buch im Entwurf oder auf halber Strecke jahrelang liegen und reifen zu lassen, um es aus besonnener Distanz fertigzustellen. Er folgte der Maxime: »Es wird wie’s wird. Daß es gleich gut wird, ist schließlich auch nicht nötig und eigentlich von dem der täglich sein Pensum arbeitet auch nicht zu verlangen. In der Regel steht Dummes, Geschmackloses, Ungeschicktes neben ganz Gutem und ist Letztres nur überhaupt da, so kann ich schon zufrieden sein. Ich habe dann nur die Aufgabe es herauszupulen. Meine ganze Produktion ist Psychographie und Kritik, Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt.«
Ohne Zweifel war Fontane ein Kritiker seiner Zeit, ein Kritiker der Gesellschaft und ihrer Konventionen. Ihrer Härte und Kälte war er sich bewusst, und er zielte darauf, sie in ihrer Menschenfeindlichkeit bloßzustellen. Doch war er weit davon entfernt, im gesellschaftlichen Zustand an sich bereits ein unausweichliches Verhängnis zu sehen. Seine Gesellschaftskritik spricht die Menschen nicht von eigener Verantwortung frei. Er hat wunderbare Frauengestalten geschaffen, von denen viele – mit den Worten des Autors – »einen Knacks weghaben«. Sie geraten oft in die Rolle von Opfern in einer männlich bestimmten Gesellschaft, aber ihr Schöpfer gesteht ihnen Intelligenz, Mut, Autonomie zu, und zeigt sie charakterlich, moralisch und emotional den Männern überlegen.
Man kommt leicht in Gang, wenn von Fontane die Rede ist. Er macht es seinen Porträtisten leicht und schwer zugleich. Leicht, weil er eine breite Farbenpalette anbietet; schwer weil er ein Verwandlungskünstler ist: Balladendichter, Reiseschriftsteller, Kriegsreporter, märkischer Wanderer, Zeitungsjournalist, Aphoristiker, unermüdlicher Briefschreiber, Gelegenheitspoet, Erzähler und Romancier. Nur Theaterstücke hat er keine geschrieben, dafür 20 Jahre lang Theaterkritiken. Fontane in vielen Gestalten. Er doziert nicht, ideologisiert nicht, moralisiert nicht. Er sieht, er versteht, er stellt dar. Und so verdient er bis heute unser Interesse.
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