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Karl Marx als Schriftsteller und Literat Der große Gesang

Misst man die großen Philosophen vorrangig an ihrer literarischen Qualität und sprachlichen Meisterschaft, wird man wahrscheinlich Friedrich Nietzsche an erster Stelle nennen müssen. Besonders seine späten Schriften, von der Fröhlichen Wissenschaft bis zu Ecce homo, sind Gipfelwerke deutscher Prosaliteratur, in denen verwirklicht ist, was sich ihr Autor von der Dichtung des Zarathustra vergeblich erhoffte: dass ihre Sprache ein Tanz sei. Von Nietzsches Sprach- und Stilkunst geht ein Sog aus, der auf Überwältigung zielt – ganz ähnlich wie von Richard Wagners Musik mit ihrer suggestiven Kunst der Übergänge. Zweifellos beruht Nietzsches Verführungskraft zu großen Teilen auf einer stilistischen Meisterschaft, die dazu verleitet, auf die Verifizierung der Aussagen zu verzichten.

Von Karl Marx, so kritisch umstritten und teilweise heftig angefeindet seine Philosophie von jeher war, wird man Ähnliches nicht sagen können. Seine Themen und Inhalte besitzen ein so großes Eigengewicht, dass sie niemals der Gefahr ausgesetzt sind, in erster Linie als ästhetische Phänomene betrachtet und beurteilt zu werden. Dabei war auch Marx ein Stilist hohen Ranges, ausgestattet mit einer ungewöhnlichen Begabung für schlagkräftige Formulierungen, aber auch mit der Fähigkeit zu geistreicher Satire, die alle seine Schriften durchdringt und selbst noch im Kapital, dem monumentalen Spätwerk, immer wieder aufblitzt. Nirgends treten diese Eigenschaften stärker hervor als in seinem berühmtesten Werk, dem Kommunistischen Manifest, dessen Eröffnungssatz zum geflügelten Wort wurde: »Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus.«

Das Manifest ist eine Mischung aus politischer Agitationsschrift und geschichtsphilosophischer Analyse, geschrieben in einer Sprache, über die gesagt worden ist, dass sie »die knappe Strenge eines Armeebefehls mit der unfehlbaren Treffsicherheit einer mathematischen Beweisführung vereinigt«. Da in dieser Programmschrift die Grundsätze des Kommunismus dargelegt werden sollten, durchaus im Sinne eines »Glaubensbekenntnisses«, dachten Marx und sein Co-Autor Friedrich Engels, als sie sich im Herbst 1847 an die Niederschrift machten, zunächst an einen kommunistischen Katechismus, nach dem Vorbild von Martin Luthers Kleinem Katechismus. Diese Absicht wurde zwar bald fallen gelassen, aber die Grundintention, wissenschaftliche Aufklärung und politische Agitation miteinander zu verbinden, wurde in das Manifest hinübergerettet. Marx brachte die Schrift auf der Grundlage eines Engelsschen Entwurfs vergleichsweise schnell, in wenigen Wochen, zu Papier, und sie wurde »die geschlossenste, wuchtigste und geformteste Arbeit, die er je vorgelegt hat«. So urteilt der Marx-Biograf Richard Friedenthal, der fortfährt: »Auch eine Kampfbroschüre muß ›Form‹ haben. Form heißt (…) hier Ordnung, Aufbau, Gliederung, Weglassung des Unwichtigen, sprachliche Prägnanz.« Das sichert dem Manifest seinen Platz in der vorderen Reihe historischer Flugschriften; außer Georg Büchners Hessischem Landboten ist ihm im 19. Jahrhundert keine andere an die Seite zu stellen.

»Der große poetische Stil«

Stephan Hermlin, der Lyriker aus der DDR, ausgerechnet in Chemnitz geboren, der Stadt, die man später für knapp vier Jahrzehnte in Karl-Marx-Stadt umbenannte, schrieb in seinem Lebensbericht Abendlicht: »Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das ›Kommunistische Manifest‹; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten.« Die Schlüssigkeit wird erst an zweiter Stelle genannt. Tatsächlich hat das Manifest in einigen Passagen etwas von einem großen Gesang, eine hymnische Qualität. Von seiner wuchtigen, festgefügten, unbeirrbaren Prosa geht ein eigenartiger, fast könnte man sagen poetischer Reiz aus, der sich vielen Lesern früherer Generationen mitgeteilt hat: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen, und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst, und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.«

Dass Marx’ Beweisführung so überzeugend, ja unwiderstehlich wirkt, beruht nicht zuletzt auf ihrer Form und Sprache. Das erste Kapitel des Manifestes, nach der allgemeinen Einleitung, beginnt mit dem Satz: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« Marx ist, wie vor ihm Jean-Jacques Rousseau, ein Meister der triumphierenden Eröffnung. Hier formuliert er in bündiger Form die zentrale Idee von der überragenden Bedeutung der Ökonomie in der Geschichte. Die Ökonomie bildet nicht nur die Basis aller gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern durchdringt die gesamte gesellschaftliche Struktur bis in die feinsten Verästelungen von Politik und Rechtswesen bis hin zum Kultur- und Geistesleben. Diese Geschichtsauffassung hat Marx zehn Jahre später in der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie in die Worte gefasst: »Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«

Der berühmte Satz zeigt den Menschen nicht autonom und selbstherrlich, sondern als Knecht der Verhältnisse. Er ist somit auch nicht Herr der Geschichte: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken (…)« heißt es am Anfang der Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, der tiefdringenden Analyse des Staatsstreiches vom Dezember 1851, mit dem sich der Neffe Napoleons zum Kaiser der Franzosen machte und, wie Marx spottete, »Kaserne und Biwak, Säbel und Muskete, Schnurrbart und Kommißrock (…) die bürgerliche Gesellschaft ganz von der Sorge befreiten, sich selbst zu regieren«. Marx erhebt sich in dieser Schrift, die auch später immer wieder der Ausgangspunkt für das Phänomen von »Machtergreifungen« war, zu einer Höhe polemischer Meisterschaft, die seine Analyse aber keineswegs verfälscht, vielmehr zuspitzt und vertieft: »Im Namen der Ruhe wüste, inhaltsleere Agitation, im Namen der Revolution feierlichstes Predigen der Ruhe, Leidenschaften ohne Wahrheit, Wahrheit ohne Leidenschaften, Helden ohne Heldentaten, Geschichte ohne Ereignisse, Entwicklung, deren einzige Triebkraft der Kalender scheint (…).«

Theorie und politische Praxis

Der große französische Literaturkritiker Charles-Augustin Sainte-Beuve schrieb über Michel de Montaigne: »Der Stil ist ein goldenes Zepter, dem letzten Endes das Reich dieser Welt gehört.« Gilt das auch für Karl Marx? Und wo soll man die Wurzeln dieser Begabung suchen? Von Kindheit an war er ein leidenschaftlicher Leser, schöpfte schon früh aus den ergiebigsten Quellen. Als seine Lieblingsdichter nannte er Aischylos, Dante Alighieri, William Shakespeare und Johann Wolfgang von Goethe, als Lieblingsschriftsteller Denis Diderot, Gotthold Ephraim Lessing und Honoré de Balzac. Höher kann man nicht greifen. Wie überwältigend bereits der junge Marx auf seine Umgebung gewirkt hat, ist durch einen Brief von Moses Heß an Berthold Auerbach bezeugt: »Du kannst Dich darauf gefaßt machen den größten, vielleicht den einzigen jetzt lebenden eigentlichen Philosophen kennenzulernen (…) denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in einer Person vereinigt, ich sage vereinigt, nicht zusammengeschmissen – so hast Du Dr. Marx.« In seinen Pariser Jahren nach 1843 hatte Marx engen Kontakt zu Georg Herwegh, Michail Bakunin und Heinrich Heine. Es war die Zeit eines heftigen geistigen Gärungsprozesses und einer stürmischen philosophischen Entwicklung, in der, angeregt vor allem durch Ludwig Feuerbach, immer stärker der Gedanke hervortrat, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Philosophie »vom Kopf auf die Füße zu stellen«. In der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1843 heißt es an zentraler Stelle über die Religion: »Sie ist das Opium des Volks (…) Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« Immer wieder gelingen Marx so machtvolle Formulierungen als Quintessenzen komplexer gedanklicher Prozesse, einzigartige Prägungen, blank wie ein Stachel.

Marx war damals auf dem Weg, die traditionelle Rolle des Philosophen zu überwinden, um philosophische Erkenntnis in die Wirklichkeit, in die politische Praxis zu überführen. Unnachahmlich knapp hat er das wenig später in der letzten seiner Thesen über Feuerbach ausgedrückt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt aber drauf an, sie zu verändern.« Zwar meinte Arnold Ruge, sein Pariser Hausgenosse, Marx sei »ganz und gar zum Gelehrten geboren, aber zum Journalisten – vollständig verdorben«. Daran war nur richtig, dass Marx sein schweres Geschäft mit größter Ernsthaftigkeit betrieb, unablässig um Erweiterung und Vertiefung seines Wissens bemüht war. In den drei Jahrzehnten seines Londoner Exils nach 1849 sehen wir ihn, gebeugt über Bücher, in der Bibliothek des Britischen Museums, im Frondienst ökonomischer Analyse. Für ihn lag darin kein Widerspruch. Die Theorie, schrieb er, werde zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreife. Zwar mied er die Schauplätze der politischen Kämpfe weitgehend, nahm nur aus der Ferne daran teil als Blitze schleudernder Publizist. Aber auch in dieser Rolle war er einzigartig, niemand konnte ihm das Wasser reichen.

Philosophie und Literatur

Erst spät, 50 Jahre nach Marx’ Tod, traten seine »ökonomisch-philosophischen Manuskripte« ans Licht, geschrieben in Paris um das Jahr 1844 und nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Es sind erstaunliche Texte, in denen Philosophie, Ökonomie, Anthropologie und Geschichte einander durchdringen, eine Fundgrube an Inspirationen, wie ein Kessel, in dem es unaufhörlich brodelt, geschrieben überdies in einer lebendigen, anschaulichen, oft funkelnden Sprache. Dafür soll hier nur ein einzelnes Beispiel gegeben werden, das Geld betreffend, jene geheimnisvolle Macht, durch die sich der Mensch selber fremd wird. Marx kommt, indem er Hegels Begriff der Entfremdung auf die gewöhnliche menschliche Arbeit anwendet, zu dem Ergebnis, dass die Arbeit dem Arbeiter äußerlich und in ihrem Kern »Zwangsarbeit« ist; sie gehöre einem anderen, der sich ihr Ergebnis aneignet und darauf das Privateigentum gründet. Das Produkt der Arbeit nehme den Charakter der Ware an, sie sei die vergegenständlichte Wesenskraft des Menschen, die im Geld ihre äußerste Steigerung und ihren stärksten Ausdruck finde: »Das Geld, indem es die Eigenschaft besitzt, alles zu kaufen, indem es die Eigenschaft besitzt, alle Gegenstände sich anzueignen, ist also der Gegenstand im eminenten Besitz. Die Universalität seiner Eigenschaft ist die Allmacht seines Wesens; es gilt daher als allmächtiges Wesen.« Marx verdeutlicht das hier Gesagte mit einem Zitat aus Goethes Faust, wo Mephisto die Worte in den Mund gelegt sind:

Was Henker! freilich Händ’ und Füße

Und Kopf und H[intern] die sind dein;

Doch alles was ich frisch genieße,

Ist das drum weniger mein?

Wenn ich sechs Hengste zahlen kann,

Sind ihre Kräfte nicht die meine?

Ich renne zu und bin ein rechter Mann,

Als hätt’ ich vier und zwanzig Beine.

Marx fährt fort: »Das was ich bin und vermag, ist keineswegs durch meine Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft, ist durch Geld vernichtet. Ich – meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füße: ich bin also nicht lahm; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? (…) Verwandelt also mein Geld nicht alle meine Unvermögen in ihr Gegenteil? Wenn das Geld das Band ist, das mich an das menschliche Leben, das mir die Gesellschaft, das mich mit der Natur und d[em] Menschen verbindet, ist das Geld nicht das Band aller Bande? Kann es nicht alle Bande lösen und binden?« Mit einem weiteren literarischen Zitat, diesmal aus Shakespeares Timon von Athen, entwickelt Marx den Gedanken zu seiner vollen Konsequenz, indem er die Allmacht des Goldes, des »roten Sklaven«, anspricht:

Gold? kostbar, flimmernd, rotes Gold? …

So viel hiervon macht schwarz weiß, häßlich schön;

Schlecht gut, alt jung, feig tapfer, niedrig edel. …

Ha! dies lockt euch den Priester vom Altar;

Reißt Halbgenes’nen weg das Schlummerkissen.

Ja, dieser rote Sklave löst und bindet

Geweihte Bande; segnet den Verfluchten.

Er macht den Aussatz lieblich, ehrt den Dieb

Und gibt ihm Rang, gebeugtes Knie und Einfluß

Im Rat der Senatoren; dieser führt

Der überjähr’gen Witwe Freier zu;

… Verdammt Metall,

Gemeine Hure du der Menschen, die

Die Völker tört …

Die philosophische Beweisführung wird untermauert, verstärkt, vertieft durch literarische Analogien, was dem Text eine eigene literarische Qualität verleiht. Der Fundus der Literatur, aus dem Gedächtnis abrufbar, stand Marx jederzeit zur Verfügung: »Er konnte ganze Rhapsodien des Homer wörtlich von Anfang bis Ende hersagen«, hat seine Tochter Eleanor berichtet, »und die meisten Dramen Shakespeares konnte er sowohl englisch wie deutsch auswendig«.

Das Dilemma der ästhetischen Theorie

Sammelt man Marx’ verstreute Äußerungen zu Literatur und Kunst, so lassen sich damit leicht zwei starke Bände füllen. Doch ist es fraglich, ob sich daraus eine geschlossene ästhetische Theorie entwickeln lässt, auch wenn es an Versuchen dazu niemals gefehlt hat. Diese Theorien sind ebenso unterschiedlich ausgefallen wie die zahlreichen Marxismen, die sich nach Marx’ Tod entwickelt haben, verbunden mit Namen wie Rosa Luxemburg, Franz Mehring, Georg Lukács, Ernst Bloch und Walter Benjamin bis hin zur »Kritischen Theorie« der Frankfurter Schule. Zweifellos ist die marxistische Theorie seither zu einem unentbehrlichen Instrument der ästhetischen Analyse geworden, denn sie schärft den Blick für die historischen Voraussetzungen von Kunstwerken wie auch für ihre materiellen Bedingungen, und das gilt gleichermaßen für ihre Hervorbringung wie für ihre innere Struktur. Absolut gesetzt, hat diese Theorie allerdings nicht selten zu einem ästhetischen Dogmatismus geführt, wie man ihn vom späten Lukács kennt, oder zu einer Kulturpolitik, die die Kunst dem Würgegriff eines »sozialistischen Realismus« zu unterwerfen suchte. Friedrich Nietzsche, von dem wir ausgegangen sind, war für Georg Lukács ein »Zerstörer der Vernunft« und in der DDR ein verbotener Autor. Stephan Hermlin, der bis zuletzt ein Verteidiger dieser DDR war, hat Nietzsche gegen seine Ausgrenzung zu verteidigen versucht: »Er ist ja nicht nur ein Zerstörer der Vernunft gewesen, sondern gewiß auch einer ihrer Erwecker, ein Ferment des Umsturzes.« War er vielleicht sogar eine Komplementärfigur zu Marx? Gerade im Umgang mit Kunstwerken könnte er jene Lücken ausfüllen, welche die marxistische Ästhetik niemals ganz hat schließen können.

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