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Seite des Originalmanuskriptes von "Madame Bovary" mit Korrekturen Flauberts © picture-alliance / akg-images | akg-images

Zum 200. Geburtstag von Gustave Flaubert Der Heilige des Romans

Er sei eine »der drei vordersten Namen aus der Literatur der Bürgerzeit«, hat Heinrich Mann über Gustave Flaubert gesagt: Balzac sei die Heldengestalt, Stendhal der immer Zeitgemäße, der »Heilige des Romans« aber sei Flaubert. Der prekäre Ehrentitel eines Heiligen gebührt Flaubert, weil er sein Werk in wahrer Fronarbeit hervorbrachte, in ständigem Ringen um das genaue, das richtige Wort, das mot juste nach seinem eigenen Ausdruck, in einer Schaffensintensität, ja Schaffensqual, die Flaubert als Märtyrer der Literatur erscheinen lässt.

So entstanden die berühmte Madame Bovary, der historische Karthago-Roman Salammbô und der Gegenwartsroman mit dem schwer übersetzbaren Titel L’Éducation sentimentale (Lehrjahre des Gefühls ist das beste deutsche Äquivalent); so entstand Die Versuchung des heiligen Antonius, das Werk, an dem Flaubert von Jugend an gearbeitet hat, nachdem Freunde, denen er die erste Fassung vorlas, ihm rieten, das Manuskript zu verbrennen; so entstanden schließlich die Drei Erzählungen, die bereits die Schwelle zum Spätwerk markieren, und als finales Hauptwerk die große Satire Bouvard und Pécuchet, der Flaubert seine letzten Lebensjahre aufopferte, ohne das Buch vollenden zu können – nur der erste Band wurde fertig.

Als Ertrag eines langen Schriftstellerlebens ist dieses halbe Dutzend Bücher viel und wenig zugleich. Man vergleiche Flauberts Werk mit dem Œuvre eines Balzac, das dem Umfang nach ein Vielfaches dessen umfasst. Die schiere Quantität der Menschlichen Komödie, die Fülle ihrer Gestalten, die Vielzahl ihrer Situationen, der Reichtum an Milieus, sind von Balzacs Größe nicht wegzudenken. Dass er kein peinlich sorgfältiger Stilist war und allzu oft die Freskomalerei bevorzugte, dass in seinen Romanen Kolportagehaftes neben Visionärem steht, Zeilenschinderei neben unwiderstehlich Sublimem, hat seine Ausstrahlung und Fernwirkung nicht gemindert.

Ähnliches gilt für Zola, der in gewissem Sinn Flauberts Nachfolger war: Auch sein Werk ist um ein Mehrfaches umfangreicher als das Flauberts. Man denke an die 20 Bände der Romanserie Die Rougon Macquart, die Darstellung der beiden Jahrzehnte des Zweiten Kaiserreichs, vom Staatsstreich Louis Bonapartes bis zu dessen Sturz nach der Schlacht von Sedan. Balzac und Zola hatten den Ehrgeiz, ein Bild der ganzen französischen Gesellschaft zu geben, ein Kolossalgemälde, und sie sind diesem Ziel sehr nahegekommen.

Ihr Werk fasziniert noch immer als Darstellung einer Epoche. Flaubert dagegen ist heute eigentlich nur mit drei Büchern präsent: mit Madame Bovary, der Éducation sentimentale und Bouvard und Pécuchet. Von diesen dreien nimmt Madame Bovary die Spitzenstellung ein, und die Behauptung ist nicht abwegig, dass Flaubert im Grunde der Autor dieses einen und einzigen Buches ist, so wie Cervantes trotz vieler anderer Werke der Autor des Don Quijote ist.

Der »Idiot der Familie«?

Wie Cervantes, mit dem die neuere Romanliteratur beginnt, ist Flaubert eine Gründergestalt. Er markiert den Anfang der Moderne. Die ins Unermessliche gewachsene Faszination, die von ihm ausgeht, bleibt freilich ein Geheimnis. Denn jeder Schriftsteller, der sich auf Flaubert berufen hat, hat ihn im Sinn der eigenen Bestrebungen gelesen und gedeutet. Für Proust war Flaubert der Autor, der die Feinheiten des Satzbaus in ungeahnter Weise entwickelt hat. Die Vertreter des Nouveau Roman schätzten Flaubert als Schriftsteller, der wie sie selber von einem Roman ohne eigentlichen Inhalt träumte.

Jean Améry unternahm den Versuch, einen Gegenentwurf zu Madame Bovary zu verfassen: als Kritik an Flauberts Schriftstelleromnipotenz und kunstreligiöser Besessenheit. Auch der Peruaner Mario Vargas Llosa hat Madame Bovary ein ganzes Buch gewidmet, das La orgía perpetua, »Die ewige Orgie« betitelt ist, nach einem Briefzitat von Flaubert, das lautet: »Die einzige Art, das Dasein zu ertragen, besteht darin, sich an der Literatur wie in einer ewigen Orgie zu berauschen.«

In diesem Zusammenhang lässt sich auf keinen Fall Sartres Riesenessay Der Idiot der Familie übergehen, der auf 2.000 Seiten von Flaubert handelt und aus der Analyse seiner später von ihm selber verworfenen Jugendwerke eine Art »Psychobiografie« des Schriftstellers herleitet. Auch für Sartre war Flaubert vor allem der Autor der Madame Bovary, auch für ihn erfüllt sich Flauberts Genie in diesem Roman, und nicht zufällig bricht der Riesenessay mit dem Jahr 1857, dem Erscheinungsjahr der Madame Bovary, ab. Sartre vermied allerdings den Begriff »Genie«, der für ihn eine bürgerliche Mystifikation darstellt, sprach stattdessen von Flauberts »Künstler-Neurose«: In ihr drücke sich zugleich die »objektive Neurose« der bürgerlichen Epoche aus. Die Wurzeln der Neurose suchte Sartre in Flauberts Kindheitsgeschichte, in einer Reihe von hysterisch erlebten Misserfolgen, in seiner langandauernden sprachlichen Zurückgebliebenheit, dem dadurch bedingten passiven Weltverhältnis, er suchte sie vor allem in Flauberts Familiengeschichte.

Der Anfang der Kunstreligion

Sartre wies darauf hin, wie wichtig für Flaubert das gesprochene Wort, der Klang der Stimme war, wie er in seiner Klause in Croisset die Sätze modulierte und mit lauter Stimme heulte, bevor er sie niederschrieb, und sie stundenlang seinen nicht immer dazu aufgelegten Freunden vorlas – die Brüder Goncourt sprachen in ihrem Tagebuch von »Brüllarien«. Die bloß geschriebene Sprache, die dem Ohr nicht eingeht, hat Flaubert nie völlig befriedigt.

Sartre zeigte auch, dass Flaubert, wenn er Dummheiten aufspießte, Banalitäten entlarvte und Meinungen verhöhnte, wenn er die gedankenlosen Klischees der Zeitgenossen für sein Wörterbuch der Gemeinplätze sammelte und inventarisierte, Krieg gegen sich selber führte, den Krieg des illusionslosen Realisten Flaubert gegen sein anderes Ich, den sentimentalen Romantiker.

Flaubert war 35 Jahre alt und ein noch weitgehend unbekannter Autor, als Madame Bovary erschien, zunächst als Fortsetzungsroman in der Revue de Paris. Was hinter ihm lag, waren literarische Fingerübungen: ein Jugendroman mit dem Titel Erinnerungen eines Narren, die Novelle November, eine erste Fassung der Éducation sentimentale und die ursprüngliche Fassung der Versuchung des heiligen Antonius. Nichts davon hatte Bestand vor seinen selbstkritischen Augen, das Gebot der »Sachlichkeit« und »Objektivität« legte er sich selbst wie eine Kasteiung auf.

Am Roman der Madame Bovary arbeitete er fünf Jahre, der Mühsal des Schaffens und der Qual des einzig richtigen Ausdrucks bis zum Martyrium hingegeben. »Ich habe in der letzten Woche fünf Tage gebraucht, um eine Seite zu schreiben!« heißt es in einem Brief an Louise Colet. »Wie sehr ich meine Bovary satt habe! (…) Ich habe nie in meinem Leben etwas Schwierigeres geschrieben als das, was ich jetzt schreibe, einen trivialen Dialog! Diese Szene in der Herberge wird mich vielleicht drei Monate kosten, ich weiß es nicht. Ich möchte manchmal heulen, so sehr spüre ich meine Ohnmacht. Aber ich will lieber darüber krepieren, als sie weglassen.«

Flauberts Briefe sind voll von solchen Stoßseufzern der Verzweiflung, des Überdrusses. Nur der vollkommene Ausdruck, das richtig gesetzte Wort, der vollendete Silbenfall, die rhythmisch gegliederte Periode, mit einem Wort: der »Stil« war der Lohn, den er für seine unerbittliche Isolierung und das Opfer seines Lebens erhielt. Dem entspricht die Beobachtung der Brüder Goncourt, die Flaubert in seiner Schreibstube besuchten: »Auf dem Tisch liegen Seiten seines Romans, die fast nur aus Streichungen bestehen.«

Mit Flauberts eigenen Worten: »Ich führe ein bitteres Leben, das jeder äußeren Freude bar ist und bei dem ich nichts anderes habe, um mich aufrecht zu erhalten, als eine Art anhaltender Verbissenheit, die manchmal vor Ohnmacht heult, doch die beständig ist. Ich liebe meine Arbeit mit einer frenetischen, pervertierten Liebe, wie ein Asket sein härenes Hemd, das ihm den Bauch zerkratzt.« Er war, um noch einmal Heinrich Manns Wort aufzugreifen, der »Heilige des Romans«. Man könnte auch sagen: der Anfang der Kunstreligion. Vor 200 Jahren, am 12. Dezember 1821, wurde Gustave Flaubert in Rouen geboren.

Literatur zum Thema: Gustave Flaubert: Lehrjahre der Männlichkeit (Aus dem Französischen von Elisabeth Edl). Hanser, München 2020, 800 S., 42 €. – Gustave Flaubert: Bibliomanie (Aus dem Französischen von Erwin Rieger). Insel, Frankfurt am Main 2021, 68 S., 8 €. – Michel Winock: Flaubert (Aus dem Französischen von Horst Brühmann und Petra Willim). Hanser, München 2021, 656 S., 36 €.

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