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Der Literaturnobelpreis 2022 geht an Annie Ernaux Das Private ist politisch

In dem 1983 zuerst in Frankreich erschienenen Text La place (dt. zuerst 1998 als Das bessere Leben, 2019 erneut als Der Platz erschienen) erinnert sich Annie Ernaux, die nun mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, an ihren Vater, der, zunächst Bauer, später einen kleinen Lebensmittelladen in der Normandie eröffnete. Sie erinnert sich zugleich an ihren sozialen Aufstieg, der mit einer Entfremdung der Erzählerin von ihrem Herkunftsmilieu einhergeht. In La Place findet sich ein Satz, der nun angesichts der Entscheidung des schwedischen Nobelpreiskomitees umso schmerzlicher klingt: »Vielleicht sein größter Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hat.« Sozialer Aufstieg und Scham, ein weiteres zentrales Thema im Werk von Annie Ernaux begegnen sich in diesem Satz.
Zuerst wurde La Place 1988 im Jahr vor der Wende unter dem Titel Das bessere Leben von Barbara Scriba-Sethe übersetzt und erschien sowohl im westdeutschen S. Fischer Verlag, wie auch in »Moderne französische Prosa« im ostdeutschen Verlag Volk und Welt, dort neben Texten der hierzulande weitgehend unbekannt gebliebenen Danièle Sallenave, Mireille Best und François Bon. Damit begann die deutsche Rezeption von Annie Ernaux. Es vergingen rund zehn Jahre, ehe 2007 der Goldmann Verlag mit Eine vollkommene Leidenschaft. Geschichte einer erotischen Faszination (im Original: Passion simple), Sich verlieren. Die Geschichte einer Obsession (im Original: Se perdre) und 2010 mit Die Geschichte einer Frau (Im Original: Une femme) drei Texte von Annie Ernaux in deutscher Übersetzung herausbrachte. Auf den ersten beiden der drei genannten sieht man unbekleidete oder in Dessous gehüllte Frauenkörper. Kopf bzw. Gesicht sind abgeschnitten bzw. nur von hinten abgebildet. Eine vollkommene Leidenschaft und Sich verlieren, in deren Zentrum eine Affäre steht, sollten unzweifelhaft vom Verlag in die Erotik-Schublade gesteckt werden. Die Geschichte einer Frau wurde beworben als »Ein Leben, das exemplarisch für eine ganze Generation von Frauen steht«. Alle drei Bücher erregten in Deutschland kein größeres Aufsehen. Daran konnten auch die Klappentexte mit Zitaten aus der Elle, der Vogue und der New York Times nichts ändern. 
Es vergingen noch einmal rund zehn Jahre bis 2017 im Suhrkamp Verlag Ernaux’ autosoziografischer Text Die Jahre (im Original Les anneés, 2008) in der brillanten Neuübersetzung von Sonja Finck erschien. Die Jahre wurde ein großer Erfolg, der geradezu nach weiteren Übersetzungen verlangte. Was war in der Zwischenzeit geschehen, dass Ernaux, die von ihren ersten Veröffentlichungen an, das Projekt einer Ethnografie ihres eigenen Lebens verfolgt hatte, nun plötzlich ein solches Echo erzeugten und erzeugen? Vor welchem Hintergrund ertönt der Jubel, der auf die Entscheidung des schwedischen Nobelpreiskomitees am 6. Oktober 2022 folgte, das wie immer nach 13 Uhr mitteleuropäischer Zeit verkündet hatte, die inzwischen 82-jährige Ernaux werde mit dem Nobelpreis für Literatur 2022 ausgezeichnet, nicht ohne hinzuzufügen, man habe die Autorin bislang telefonisch nicht erreicht, den Preis werde sie aber sicherlich annehmen?
Vermutlich kommt hier zweierlei zusammen: Da ist zum einen die Konjunktur des autofiktionalen Schreibens, mit dem Autoren wie Karl-Ove Knausgård, Jon Fosse, Norbert Scheuer, Peter Kurzeck, aber auch früher schon Max Frisch in Montauk oder Marguerite Duras in Der Liebhaber in einer Mischform aus Autobiografie und Fiktion mit ihren Texten an die Öffentlichkeit traten. Bei Annie Ernaux prägt es sich in einer ganz spezifischen Weise aus.
Andererseits wurden die Neuentdeckung und der Erfolg von Annie Ernaux hierzulande maßgeblich durch den eines anderen Autors mitbefördert, dem des Soziologen und Foucault-Biographen Didier Eribon und seinem Memoir Rückkehr nach Reims, das 2016 zuerst auf Deutsch erschienen, 2017 bereits in 15. Auflage gedruckt worden war. Eribon beruft sich darin aufs Deutlichste auf das Werk der Autorin: »Meine Empfindungen erkannte ich sehr gut wieder in den Büchern, die Annie Ernaux ihren Eltern und der sie von ihnen trennenden ›Klassendistanz‹ gewidmet hat. Ernaux beschreibt dort wunderbar genau, wie es sich anfühlt, zu seinen Eltern zurückzukehren, wenn man nicht nur das Elternhaus, sondern die gesamte Familie mitsamt der Umwelt und damit eine ganze ›Welt‹ verlassen hat, der man trotz allem noch angehört. Dieses verstörende Gefühl, an einem Ort zugleich zuhause und fremd zu sein«, liest man bei Eribon, der auch mehrfach bei Auftritten darauf hinwies, dass sein Ton deutlich an dem von Ernaux geschult war. 
Eribon dankte damit aber nicht nur einem seiner großen Vorbilder, er brachte auf den Begriff, was Ernaux literarisch schon jahrzehntelang in als Projekt verfolgt hatte. In dem 2022 erschienenen Dokumentarfilm ihres Sohnes David Ernaux-Briot »Les Anneés Super 8«, der auf Super-8-Material ihres verstorbenen Ex-Mannes Philippe Ernaux basiert, beschreibt sie es so: »Der Sturz Salvador Allendes machte mir klar, dass ich schreiben musste, um meine Klasse zu rächen.« Retour a Reims machte begrifflich die von Ernaux literarisch verhandelte Klassenfrage in einem Moment wieder stark, in dem in Frankreich wie in Deutschland der Übergang von der Klassen- zur Massengesellschaft ebenso weitgehend vollzogen schien, und bereitete damit wesentlich den Boden für die neue Ernaux-Rezeption in Deutschland. 
Doch was ist dran an der Wiederbelebung des Begriffs vor dem Hintergrund von Eribons Offenlegen einer gesellschaftlichen Ungleichheit, die sich, basierend auf Pierre Bourdieu aus dem Habituellen spezifischer Sozialisationsbedingungen, dem unentrinnbaren »Stallgeruch« speist. Das Buch, das in Frankreich schon 2009 erschienen war, traf im Deutschland der späten 2010er Jahre jene Art von Klassismus 2.0, der als hässliche Nachtseite vermeintlich unbegrenzter Selbstverwirklichungs- und Selbstoptimierungs-strategien und als Produkt einer Entsolidarisierung in der Luft lag, und die Sehnsucht nach einer nicht globalisierten Welt und Zeit wachrief, in der eine halbwegs homogene, die Veränderung suchende Arbeiterklasse noch existierte. 
Auch Ernaux’ Die Jahre gibt dieser Sehnsucht Raum, handelt es sich doch dabei nicht um einen autofiktionalen Text, der wie die der vorher genannten Autoren in der ersten Person verfasst ist. Der Text ist, was in der Rezeption als »kollektive Autobiografie« bezeichnet wird, er legt er nicht nur die Strukturen der Sozialisation der Erzählerin in ihrem gesellschaftlichen Gehalt offen, er ermöglichte und ermöglicht auch eine Erfahrung, in dem den Lesern die totale Vereinzelung aufgehoben scheint. 
Die Jahre übt in der Detailliertheit und Präzision seiner Beschreibungen einen sprichwörtlichen Zauber aus, um dessentwillen Lesen reines Glück bedeuten kann, ein Glück, das man im Moment des Lesens nicht begreift, weil man in den Zustand totaler Selbstvergessenheit geraten ist. Der harsche Wechsel zwischen konkreten Zeitbildern (»Simone Signorets Gesicht auf dem Plakat von Thérèse Raquin«) und Reflexion (»Wie das sexuelle Leben ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Leben und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte.«) erinnert an filmische Montageverfahren, wie sie aus dem Film »Menschen am Sonntag« von Walter Ruttmann oder auch den Filmen Sergej Eisensteins bekannt sind. Die Aneinanderreihung von Witzen, Redensarten, Plattitüden, die von der Erzählinstanz in Die Jahre wie durch einen Bewusstseinsstrom vorgetragen werden, machen aus dem individuellen Ich, das sich in Vielem mit dem Ich der Autorin Annie Ernaux, geboren am 1. September 1940 deckt, ein kollektives. Sie machen bewusst, wie sehr das Individuum von Sprache (bzw. Schweigen), von Moden, Liedern, politischen Ereignissen in einem Ausmaß determiniert ist, was in der Regel un- oder unterbewusst bleibt. Sie schaffen letztlich im Verzicht auf eine Instanz, die »Ich« sagt, obwohl sie von ihrer Warte aus ordnend wirkt, nicht erreichbar ist, wie die designierte Nobelpreisträgerin, die nicht ans Telefon geht, ein Moment von Gemeinschaft, das paradoxerweise mit einer Abwesenheit einhergeht.
Das Private ist nicht nur hier, sondern in Ernaux’ Schreiben vom ersten Buch, Les Armoires Vides (Die leeren Schränke) von 1974 an untrennbar mit dem Politischen verbunden, das Trennende der Subjektivität tritt in den Hintergrund, wie umgekehrt das Faktuale, das Lebensweltliche, das Reale deutlich hervortritt, während die Fiktion, das also, was nur in der Vorstellung der Erzählinstanz existiert, dahinter fast verschwindet. »Denn die Verhältnisse, sie sind so« könnte man in Abwandlung eines Brecht-Zitats sagen. 
Kein Wunder also, dass Ernaux’ Schreiben auch in den Augen der DDR-Kulturbehörden Gnade fand. Viele Beobachtungen und Befunde dieser, nennen wir sie ruhig Klassenliteratur, sind wichtig und richtig, ihre Übersetzung in Literatur höchst begrüßenswert. Die Frage aber, welche Art von Literatur denn nun genau daraus entsteht, führen zu einer Antwort, die die Möglichkeiten und Grenzen von Ernaux’ literarischem Projekt gleichermaßen markiert. In Die Jahre betrachtet die Erzählstimme die Sprache des Herkunftsmilieus: »Die Sprache, ein entstelltes Französisch, vermischt mit Dialekt, war nicht von den polternden Stimmen zu trennen, den in den Kittelschürzen und Blaumännern gezwängten Körpern, den gedrungenen Häusern mit Gärtchen, dem Gebell der Hunde am Nachmittag, und dem Schweigen vor dem nächsten Wutausbruch, genauso wie das korrekte Französisch mit der neutralen Aussprache und den weißen Händen der Lehrerin verbunden waren. Diese Sprache ohne Komplimente und Schmeicheleien, eine Sprache des kalten Regens, der grauen Kieselstrände am Fuß der Steilküste, der Nachttöpfe, die man auf dem Misthaufen entleerte, des Weins, den man nach der schweren Arbeit trank, enthielt unzählige Glaubenssätze und Regeln.«
Ernaux musste schreibend die Worte für diese Sprache erst erfinden. Die Konzentration aufs Protokollarische, Kühle, Sezierende, Verobjektivierende ermöglichte es, dem Schweigen ihres Herkunftsmilieus eine bestimmte Sprechweise entgegenzusetzen, die Bedingungen einer Existenz offenlegt. »Wenn ich dem Jahr 1958 auf den Grund gehen will, muss ich die Zerstörung aller Interpretationen akzeptieren, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Nichts glätten. Ich konstruiere keine Romanfigur, Ich dekonstruiere das Mädchen, das ich gewesen bin«, heißt es in Erinnerung eines Mädchens (frz. Memoire de fille, 2016), das 2018 in der Übersetzung von Sonja Finck bei Suhrkamp erschien und vom »ersten Mal« der jungen Annie Duchesne erzählte, von Erfahrungen der eigenen Sexualität, für die es, wie für das Herkunftsmilieu der Autorin, keine Sprache gab. 
Die Dekonstruktion ihrer Figuren, die ausdrückliche Abwendung von »Romanfiguren« und die Betonung des Politischen gegenüber dem Privaten sind die Parameter, die den Raum für Ernaux’ Schreiben abstecken, führen aber in letzter Konsequenz auch zu einer Art Anti-Literatur, deren Credo bei Ernaux selbst zu lesen ist: »Seit Kurzem weiß ich, dass der Roman unmöglich ist. Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht ›spannend‹ oder ›berührend‹ schreiben wollen. Ich werde Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat ... Keine Erinnerungspoesie, kein spöttisches Auftrumpfen. Der sachliche Ton fällt mir leicht, es ist derselbe Ton, in dem ich früher meinen Eltern schrieb, um ihnen von den wichtigsten Neuigkeiten zu berichten», heißt es in Der Platz. 
Um an dieser Stelle einem Missverständnis vorzubeugen: Der Jubel über den Nobelpreis für Annie Ernaux soll nicht zuletzt aufgrund der Strenge und Konsequenz, mit der die 1940 im nordfranzösischen Lilletot geborene Autorin, die lange Jahre als Lehrerin arbeitete, hier keineswegs angezweifelt werden. Das Verfahren einer »Ethnografie ihrer selbst« hat Ernaux in bewundernswerter, höchst erhellender Weise konsequent vorangetrieben. Doch fraglich ist, ob dieses Verfahren sich nicht selbst an ein Ende treibt, und ob und, falls ja, wie im Verzicht auf jedweden Ornat der Sprache und der Einbildungskraft nicht auch etwas verloren geht. Kaum eines der hierzulande im Kielwasser von Ernaux’ und Eribons entstandenen Büchern der Selbsterforschung als Herkunfts- und Gesellschaftserforschung jedenfalls, darunter beispielsweise Daniela Dröschers Zeige deine Klasse (2018) oder die autosoziographischen Sterbebücher Niemehrzeit (2021) von Christian Ditloff oder Papa stirbt, Mama auch (2021) von Maren Wurster, erreichen eine ähnlich glasklare Härte und Nüchternheit im Blick auf das eigene Schicksal und die eigenen Empfindungen innerhalb herrschender Verhältnisse.
Ein Wunder und zugleich kein Wunder ist, dass Annie Ernaux nun den Nobelpreis für Literatur erhält, indem sie schreibend der bürgerlichen Literatur oder was in der Moderne lange als literaturfähig galt, immer wieder eine Absage erteilt hat. Ernaux’ literarisches Erinnerungsprojekt ist das Gegenstück zu dem literarischen Erinnerungsprojekt eines Marcel Proust, dessen A la Recherche du temps perdu auch einen Meilenstein auf dem Weg der Verfeinerung bürgerlicher Subjektivität darstellt. Es wirkt damit letztlich nicht mehr wie eine Pointe, dass die Autorin für das schwedische Komitee am Telefon zunächst nicht zu erreichen war, ganz so, als verschwinde sie in ihrem Werk, in dem auch dieser Satz zu lesen ist: »Immer die Angst ODER VIELLEICHT DER WUNSCH, dass ich scheitere.« Diesen Wunsch hat ihr das Nobelpreiskomitee an diesem Donnerstag im Oktober glücklicherweise abgeschlagen und mit ihr eine Autorin ausgezeichnet, die Zeit ihres Schreibens dafür eingetreten ist, die Disbalance zwischen Gesellschaft und Individuum deutlich zutage treten zu lassen. Nicht nur die politische Dimension, die jede Literatur-Nobelpreisentscheidung für sich beansprucht, ist damit auch 2022 voll und ganz bedacht worden, auch die Frage nach den Kriterien guter Literatur dürfte dadurch neu belebt worden sein.

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