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Noch immer gehen »Nation« und »Migration« nicht Hand in Hand Deutsch auf Bewährung

»Nation« und »Migration«: zwei Begriffe, die bei Menschen eine ganze Fülle an Projektionen und Emotionen erzeugen können. Je nachdem, wo die Menschen leben, woher sie stammen, welche Wunden, Traumata und Erfahrungen sie in sich tragen, werden es schöne, weniger schöne oder sogar schmerzhafte, bedeutsame oder weniger bedeutsame Assoziationen sein. Der Blick auf eine Nation, der Blick auf Migration könnte individueller kaum sein: Es hängt immer davon ab, wen man fragt.

Eingewanderte in den USA unterscheiden sich in ihrem Wahlverhalten nicht mehr von der übrigen Gesellschaft.

Was also ist der »migrantische« Blick auf die Nation? Eigentlich ganz einfach: Es gibt ihn nicht. Die Präsidentschaftswahlen in den USA im Jahr 2024 waren ein eindrückliches Beispiel dafür was eine Einwanderungsgesellschaft ausmacht: Viele Eingewanderte sind in ihren Ansichten und in ihrem Wahlverhalten nicht mehr von der nicht eingewanderten Gesellschaft zu unterscheiden (wobei »nicht eingewandert« eingeschränkt werden muss, da die dominierende weiße Bevölkerung in den USA Nachfahren von Kolonialisten sind, die den natives ihr Land gestohlen haben). Nach der US-Wahl überschlugen sich Analyst:innen darin, zu verstehen, warum ausgerechnet People of Color zum Teil für einen Kandidaten gestimmt haben, der offensichtlich rassistische Erzählungen über ihresgleichen im ganzen Land verbreitet hat.

»Es könnte sein, dass sie sagen: Ich bin keiner von denen, weißt du?« versuchte Guillermo Grenier dieses Phänomen gegenüber dem britischen Guardian zu erklären. Grenier ist Professor für Soziologie an der International University in Florida, einem Staat, in dem besonders viele Menschen lateinamerikanischer Abstammung leben. Viele von ihnen würden sich nicht in einer Reihe mit jenen »Kriminellen« und »Illegalen« sehen, gegen die Donald Trump seit dem ersten Tag seiner politischen Karriere hetzte. »Ich bin ein amerikanischer Bürger, ich wähle für dich, ich bin nicht der vergewaltigende Abschaum, ich gehöre nicht zu ihnen. Das sind die anderen, die anderen Einwanderer, nicht die Einwanderer, die wählen«, so gibt Grenier diese Einstellung wieder.

»Auch in Deutschland scheint das nationale Narrativ eingewanderte Menschen anzusprechen.«

In Deutschland sieht man ähnliche Entwicklungen. So wirbt beispielsweise die AfD gezielt um Wähler:innen, die selbst nach Deutschland eingewandert sind oder die keine deutschen Wurzeln haben. Es gibt zwar keine Zahlen darüber, wie viele Menschen mit ausländischen Wurzeln die AfD wählen; das nationale Narrativ scheint aber auch eingewanderte Menschen anzusprechen. Vor der Europawahl im Juni 2024 wandte sich der türkischstämmige Influencer Yunus Celep mit dem Aufruf an seine Community, die AfD zu wählen. »Hinter Deutschland zu stehen und sich für das deutsche Volk einzusetzen und die Werte Deutschlands zu verteidigen, sollte unsere Aufgabe sein, als diejenigen, die hier in Deutschland leben – ganz unabhängig davon, ob man einen Migrationshintergrund hat oder einheimisch ist, also deutsch praktisch«, so Celep in einem TikTok-Video. Er findet, »dass es umso wichtiger ist, die Gerechtigkeit Gottes zu verteidigen und dazu gehört auch, die Natur des deutschen Volkes zu bewahren«.

Die Abgrenzung zu »neuen« Migranten geht hier tendenziell einher mit einer Identifikation mit der deutschen Nation, ähnlich wie in den USA. Das Erzeugen von Angst vor vermeintlicher Konkurrenz mit Menschen, die neu nach Deutschland einwandern – Konkurrenz um Wohnraum, um Ressourcen, um Chancen – wirkt nicht nur bei ethnisch Deutschen, sondern auch bei Menschen, die selbst eingewandert sind. Dass die AfD – wie Donald Trump – rassistische Ausgrenzung betreibt, stört auch hier nicht alle beziehungsweise wird nicht unbedingt auf sich selbst bezogen. Man fühlt sich der deutschen Nation zugehörig, auch wenn man aus AfD-Sicht gar nicht zu dieser gehören kann.

Radikalnationalistische Strömungen im Kaiserreich

Denn die deutsche Nation war noch nie offen gegenüber Menschen, die nicht deutscher Abstammung sind. Formal lässt sich das mit dem Staatsbürgerschaftsrecht von 1913 erklären. Mit der Geburt Deutschlands als »Nation« im Jahr 1871 veränderten sich die Rahmenbedingungen. Denn grundsätzlich kann sich jeder Mensch zu einer Nation bekennen – durch Erwerb der Staatsbürgerschaft. Radikalnationalistische Strömungen im Kaiserreich arbeiteten allerdings systematisch daran, das »Volk« über die »Nation« zu stellen. Die Zugehörigkeit zum Volk – durch deutsches »Blut« – sollte Voraussetzung sein, um Teil der deutschen Nation werden zu können. Nationalistische Lobbyverbände wie der »Alldeutsche Verband« waren erfolgreich: Der Deutsche Reichstag folgte ihren Vorgaben und verabschiedete im Jahr 1913 das neue Staatsbürgerschaftsrecht: »Deutsch« sollte nur werden, wer deutscher Herkunft war. Ius sanguinis (wörtlich: Recht des Blutes) also vor ius soli (Recht des Bodens) – das Abstammungsprinzip sollte in Deutschland fast 100 Jahre lang Geltung haben.

Das prägte auch die bundesrepublikanische Einwanderungsgesellschaft maßgeblich. Denn obwohl in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Menschen nichtdeutscher Abstammung nach Deutschland einwanderten, konnten sie nicht Teil der deutschen »Nation« werden. Der Weg zur Einbürgerung war ihnen grundsätzlich versperrt. Der Erwerb der deutschen Staatsbürgerschaft war eine Frage der Kulanz von Beamt:innen. Es gab keinen Rechtsanspruch. Das änderte sich erst im Jahr 1999 mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. In den Köpfen der Menschen – ob eingewandert oder nicht – setzte sich über die Jahrzehnte die Dichotomie »Ausländer versus Deutsche« fest. Menschen blieben »Ausländer«, gleich, wie lange sie oder ihre Vorfahren schon in Deutschland lebten. Diese Erzählung wirkt bis heute nach.

Das spiegelt sich bis heute in vielen politischen und gesellschaftlichen Debatten wider: Noch immer wird die Unterscheidung zwischen »echten« und »nicht echten« Deutschen gemacht. Beispielsweise nach Ausschreitungen in der Silvesternacht zum Jahresumschwung 2022/23, als in Berlin Feuerwehrleute und Polizeibeamt:innen angegriffen wurden. Die CDU-Fraktion im Berliner Senat wollte wissen, welcher ethnischen Herkunft – unabhängig vom Deutschen Pass – die Tatverdächtigen waren, und stellten eine parlamentarische Anfrage nach deren Vornamen. Die Erzählung dahinter: Ein »Ali« kann nie wirklich deutsch sein.

Kampfplatz Staatsangehörigkeitsrecht

Eines der wohl deutlichsten Zeichen, dass Menschen, die ethnisch nicht deutsch sind, in der Bundesrepublik auch heute niemals »ganz« als Deutsche zählen können, sind aktuelle Vorstöße aus Kreisen von CDU und CSU im Bund und in den Ländern, die deutsche Staatsangehörigkeit im Falle einer doppelten Staatsbürgerschaft bei bestimmten Straftaten zu entziehen. Was bedeutet das? Allein die Initiative bedeutet nichts anderes als die Forderung nach einer gesetzlichen Festschreibung von »echt« deutsch und »nicht echt« deutsch. Das bedeutet: Menschen, die ihre Wurzeln nicht in Deutschland haben, sollen für immer Deutsche auf Bewährung bleiben. Ein Fehler, eine Straftat – und sie sollen nicht mehr Deutsche sein. Wie normalisiert diese alte Erzählung »Ausländer vs. Deutsche« ist, zeigt die größtenteils ausbleibende mediale und politische Reaktion auf diesen politischen Vorstoß.

»Faktisch existieren Staaten ohne Migration nicht. Sie ist eine Konstante der Weltgeschichte«

»Nation« und »Migration« könnten, grundsätzlich, Hand in Hand gehen. Faktisch existieren Staaten ohne Migration nicht – das war schon immer so, das wird immer so bleiben. Migration ist eine Konstante der Weltgeschichte. Eine »Nation« könnte ein gemeinschaftliches Gebilde sein, in dem Menschen nicht nebeneinander, schon gar nicht gegeneinander, sondern miteinander leben. Ein echtes Miteinander würde Menschen nicht abverlangen, ihre Traditionen und Prägungen aufzugeben; es gäbe Wertschätzung für alle individuelle Erfahrungen, Werte und Sichtweisen (nein, damit sind keine menschenfeindlichen Einstellungen gemeint, von frauenverachtenden bis zu antisemitischen und rassistischen Denkmustern).

Dabei würde nichts verloren gehen, sondern Neues entstehen. Es wäre mehr als ein Zusammenschluss verschiedener Nationalitäten oder Herkünfte; es könnte etwas entstehen, was in Deutschland nie entstanden ist, weder vor dem Mauerfall noch danach. Menschen, die nicht nach Herkunft, Vermögen, Klasse, sexueller Orientierung oder anderer künstlicher Maßstäbe getrennt würden, sondern die den Reichtum der Gemeinschaft in eben diesen Unterschieden erkennen würden.

Die Zeichen deuten allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Spaltende Narrative reißen weltweit demokratische Gefüge auseinander – der Kampf um die Definition der »Nation« und die Verächtlichmachung von Migration sind dabei auch in Deutschland zentrale Spaltungserzählungen. Es bräuchte neue Erzählungen; diese sind im politischen Raum allerdings kaum zu finden. Dabei verbindet Menschen wohl weniges so sehr wie das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Egal, woher sie kommen.

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