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© picture alliance / Lutz Wallroth/Shotshop | Lutz Wallroth

Für einen neutralen Staat, gegen Bilderstürmereien und Säuberungsaktionen Die Gratwanderung

Das ist schon erstaunlich: Immer wieder gibt es Aufregungen um Religion – in einer Gesellschaft, die von sich mehrheitlich der Meinung ist, sie sei doch säkular geworden. Man nimmt Anstoß an religiösen Zeichen, an allzu viel sichtbarer Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit. Moscheebauten sind nach wie vor umstritten, sind für viele Menschen in unserem Land mindestens gewöhnungsbedürftig. Der Kölner Streit um Muezzinrufe ist noch nicht ausgestanden. Und auch die unser Land geschichtlich viel länger prägende christliche Religion trifft es. So meinte man im Außenministerium, für eine G7-Konferenz im Rathaus Münster ein Kreuz entfernen zu müssen, das ein Zeugnis aus der Zeit des Westfälischen Friedens ist. Mit Rücksicht auf wen eigentlich? Ein anderes Beispiel: Die Staatsministerin für Kultur nimmt Anstoß an einem Kreuz, das Teil der historischen Rekonstruktion des Berliner Schlosses ist. Und sie unterstützt ein Projekt, das ein von unten kaum lesbares Band mit von einem Preußenkönig verquirlten Bibelsprüchen um die Kuppel überblenden soll.

Welch' eigentümlicher Kulturkampf! Mehr als Dreiviertel der Weltbevölkerung gehören einer Religionsgemeinschaft an, aber in Berlin meint man, sich von Religionszeichen distanzieren und auf die Gefährlichkeit von Religion hinweisen zu müssen, und hält dies für einen Beitrag zu einem globalen kulturellen Dialog. Dabei ist das einfach nur Provinzialismus!

Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt

Der gerade wieder veröffentlichte Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung belegt: Die Kirchenbindung nimmt hierzulande weiter ab, aber Dreiviertel der deutschen Bevölkerung bekunden sich als in irgendeiner Weise religiös beziehungsweise glauben an Gott. Die Individualisierung aber nimmt auch auf religiös-weltanschaulichem Feld weiter zu, unsere Gesellschaft ist auch in dieser Hinsicht bunter geworden und wird es noch weiter werden. Hält sie das aus? Wie gehen wir mit der gewachsenen und auch konfliktträchtigen religiös-weltanschaulich-kulturellen Vielfalt um?

Unsere Verfassung ist dabei sehr hilfreich: Im Artikel 4 des Grundgesetzes werden Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnisfreiheit und ungestörte Religionsausübung garantiert – und zwar als Grundrecht. Dieses Grundrecht ist nicht beschränkt auf das »forum internum«, etwa auf den der Öffentlichkeit entzogenen, sakralen Raum des Kultes. Zur Religionsfreiheit gehört wesentlich das Recht, seinen Glauben zu zeigen und zu bekennen, sichtbar und hörbar. Für ein öffentliches Enthaltsamkeitsgebot irgendwelcher Art gibt es keine verfassungsrechtliche Grundlage.

Selbstverständlich gilt dies für alle Bürgerinnen und Bürger, für alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften – in unserem kulturell und religiös-weltanschaulich pluraler gewordenen und werdenden Land. Diese Pluralität – wir erleben es – ist keine Idylle, sondern steckt voller Konfliktpotenzial. Und es ist nicht sicher, dass zunehmende Vielfalt den sozialen Zusammenhalt befördert und nicht doch eher gefährdet. Wie wir mit dieser konflikthaften Vielfalt umgehen, auch das entscheidet über die Zukunft unserer Demokratie als der politischen Lebensform der Freiheit!

Die wachsende kulturelle und religiös-weltanschauliche Diversität wird von nicht wenigen Menschen als belastend empfunden. Viele meinen, die Kirchen, die Religionen sollten sich gefälligst zurückhalten, Religion habe nichts anderes als reine Privatsache zu sein. Eine diffuse Angst zumal vor dem (als fremd und bedrohlich empfundenen) Islam wird gegen alle öffentliche Religion gerichtet, eine allgemein religionsfeindliche Stimmung nimmt parallel mit dem Wachstum religiöser und weltanschaulicher Vielfalt zu.

Für die Verhältnisse eines so »verschärften« Pluralismus scheint mir der Rahmen, den das deutsche Grundgesetz den Religionen bietet, durchaus angemessen. Wir haben keine Staatskirche oder Staatsreligion. (Nur in den 40 Jahren DDR gab es eine Art von Staats-Ersatz-Religion, hat sich der Staat als sinn- beziehungsweise ideologiestiftende Instanz definiert. Die Folge war eine weltanschauliche Erziehungsdiktatur, die zum Glück gescheitert ist.)

Der demokratische Staat, nicht weltanschaulich, nicht antireligiös

Die Bundesrepublik ist geprägt durch ein besonderes Verhältnis von Staat und Kirche beziehungsweise Religion. Man hat dieses Verhältnis treffend als eines der »respektvollen Nichtidentifikation« bezeichnet. Der Staat des Grundgesetzes ist weltanschaulich neutral, er verficht selbst keine Weltanschauung, um so die Religions- und Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger zu ermöglichen. Durch diese Zurückhaltung gibt der Staat ausdrücklich Raum für die Überzeugungen seiner Bürger, die die Zivilgesellschaft prägen und damit auch den Staat tragen. Er ist also kein laizistischer Staat, auch kein Staat, der einen säkularen Humanismus vorzieht und fördert und Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt, wie es etwa Laizisten wünschen und auch ein Teil der veröffentlichten Meinung möchte.

Die grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit dagegen ist die Aufforderung an die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und ihre Mitglieder aus dem Raum des Innerlichen, des bloß Privaten herauszutreten und den Gemeinsinn mitzuformen, an der Gesellschaft mitzubauen, also öffentlich zu wirken und insofern gesellschaftlich sichtbar zu sein.

Mit anderen Worten: Der Staat ist säkular nicht dadurch, dass er Religionen ausschließt, sondern dadurch, dass er die Koexistenz einer Vielfalt religiöser wie areligiöser Überzeugungen in der Gesellschaft ermöglicht. Weil der Staat des Grundgesetzes nicht alles selbst erledigen kann und will, lädt er dazu ein, dass die Bürger aus ihrer jeweiligen Überzeugung heraus und nach gemeinsamen Regeln subsidiär zusammenwirken, über religiöse und kulturelle Unterschiede hinaus gemeinsam das soziale, kulturelle und politische Leben gestalten. Diese Einladung auszuschlagen, sollte für Christen undenkbar sein, das gilt ebenso auch für Juden, Muslime, Atheisten, Agnostiker.

Säkularer Staat – das heißt eben nicht Zurückdrängen von Religion in die Privatsphäre, heißt ebenso wenig, dass auch die Gesellschaft säkular sein oder werden müsste, und heißt nicht, dass Religion – also religiöse Menschen und Argumente – in der politischen Auseinandersetzung keine Rolle spielen dürfte.

»Mit Gott keinen Staat zu machen«, wie man sagt, also die Trennung von Staat und Kirche, die Unterscheidung von Politik und Religion zu respektieren und zu praktizieren, heißt also nicht und darf auch nicht heißen, aus dem säkularen Staat ein antireligiöses Projekt zu machen, Religion aus der politischen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit entfernen zu wollen. Darum genau aber geht immer wieder der Streit: Wie sichtbar überhaupt darf Religion sein? Welche Sichtbarkeiten soll der Staat zulassen, welche etwa verbieten? Welche Rücksichten sind zu nehmen? Welche politische Einmischung darf und muss sich der Staat verbitten? Die Rufe nach Verboten sind ja überlaut: Kopftuch, Burka, Burkini, Beschneidung, Moscheebauten und zuletzt eben das Kreuz – alles Anlässe für Aufregung und Verbotswünsche.

Aufgaben des neutralen Staates

Ich bin skeptisch und frage: Darf die Verteidigung von Liberalität in illiberale Praxis umschlagen? Wäre die Verbannung des Religiösen aus der Öffentlichkeit nicht ein Zeichen von Angst und weniger von Souveränität? Würde ein forcierter Laizismus nicht zu einem Kulturkampf führen, der pluralismusfeindliche Züge trüge? Die Verteidigung der Neutralität des Staates darf nicht zu Privilegierung von Religionslosigkeit führen.

Im Gegenteil: Der neutrale Staat hat die Pflicht, Religionsfreiheit im umfassenden Sinn zu gewährleisten. Er darf also auch nicht den Eindruck zulassen, dass die negative Religionsfreiheit der vornehmere, höherwertigere Teil von Religionsfreiheit sei und deshalb bevorzugt zu schützen wäre. Es gibt kein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht, von der Religion beziehungsweise Weltanschauung der Anderen, der Mitbürger nicht behelligt zu werden!

Der neutrale Staat darf in seiner Praxis nicht religiöse Symbole in der Öffentlichkeit schlechter stellen als nichtreligiöse. Ja, er sollte nicht einmal das Fehlen religiöser Symbole privilegieren. (Allerdings darf er auch nicht religiöse Symbole instrumentalisieren – etwa für parteipolitische, wahlpolitische Zwecke wie schon geschehen.)

Der konflikthaltigen kulturellen und weltanschaulichen Pluralität sollte der neutrale Staat jedenfalls nicht durch institutionelle Bilderstürmerei begegnen, durch Säuberung öffentlicher Räume von religiösen Symbolen. Er hat weder das Recht noch die Pflicht zur Nivellierung faktischer religiös-weltanschaulicher Pluralität! Es sei denn, es ginge nur noch um einen allerkleinsten gemeinsamen Nenner – die Unsichtbarkeit von Religion.

Allerdings bleibt der weltanschaulich neutrale Staat auf Menschen angewiesen, die sich in Weltanschauungs- und Religionsfragen eben nicht neutral verhalten – die sich aber auf Fairness und Friedfertigkeit im Verhältnis zueinander verpflichten lassen (wofür der Staat mit seinen Regeln und Gesetzen zu sorgen hat). Diese nicht neutralen Bürger mit ihrem Gottesglauben oder Unglauben sind es, die den Staat machen!

Es bleibt also strapaziös und immer eine Gratwanderung: Der Staat und seine Bürgerinnen und Bürger können sich der Anstrengung nicht entziehen, im konkreten Streit, im konkreten Fall die Religions- (und Weltanschauungs- und Meinungs-)Freiheit der einander Widerstreitenden zu respektieren und zu schützen, ohne sie zum öffentlichen Schweigen bringen zu wollen. Den Ausgleich zu finden in der immer prekären Abwägung zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit, zwischen dem Schutz und der Freiheit des persönlichen Bekenntnisses und der Rücksicht auf die gemeinsamen, kulturprägenden Traditionen.

Sichtbare Vielfalt kultureller und religiöser Prägung

Denn wer in Deutschland lebt beziehungsweise in dieses Land gekommen ist, der befindet sich nicht in einem leeren Land, sondern in einem geschichtlich und kulturell umfassend geprägten Land, zu dessen Prägungen eben auch Christentum und Aufklärung gehören. Diese Prägung ist sichtbar in der Alltagskultur wie im Erscheinungsbild unseres Landes – vom Wochen- und Jahresrhythmus des Arbeitens und Feierns bis zur baulichen Sichtbarkeit der christlichen Religion in Städten und Dörfern.

Angesichts wachsender weltanschaulich-religiöser Vielfalt durch Migration und wachsender Religionsfremdheit oder -ablehnung durch Säkularisierungsprozesse, solcherart Prägungen liquidieren zu wollen und zu sollen, kann nicht Pflicht des neutralen Staates sein. Eher sollte es seine Pflicht sein, zum Respekt gegenüber dieser Prägung einzuladen, aber ebenso zur Mitwirkung an deren lebendiger Veränderung und Weiterentwicklung.

Der einzelne Mensch mag eine Erbschaft ausschlagen können, eine Gesellschaft kann es nicht. Sie muss es – das kulturelle Erbe – annehmen, pflegen, verwandeln. (Besonders schwierig: Zur Erinnerungsgemeinschaft – ein wesentliches Element von Kultur – in Deutschland gehört die Erinnerung an den Holocaust: eine Erbschaft, die nicht auszuschlagen ist!) Der Staat, auch der säkulare Staat, ist ein Abstraktum gegenüber der Kultur. Die Kultur ist ja ein immer geschichtlich geprägtes Ensemble von Lebensstilen, Lebenspraktiken, von Überlieferungen, Erinnerungen und Erfahrungen, von Einstellungen und Überzeugungen, von ästhetischen Formen und künstlerischen Gestalten.

Als solche prägt Kultur die Identität einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation. Die Kultur und darin insbesondere die Künste schaffen Erfahrungsräume menschenverträglicher Ungleichzeitigkeit, in denen die Menschen jenseits ihrer Marktrollen – der Markt kennt uns ja nur als Produzenten und Konsumenten – agieren und sich wahrnehmen können. Hier, in der Kultur, wird über Herkunft und Zukunft, über das Bedrängende und das Mögliche, über Sinn und Zwecke, über das Eigene und das Fremde reflektiert, kommuniziert, gespielt und gehandelt.

Kultur ist eben mehr als normativer Konsens, als kollektive Werteübereinstimmung, auch mehr als der gewiss notwendige Verfassungspatriotismus. Das mag sie alles auch sein, aber Kultur ist vor allem Raum der Emotionen, der Artikulation und Berührung unserer Sinne, Raum des Leiblichen, des Sichtbaren wie des Symbolischen – und darin auch und gerade des Religiösen und des Weltanschaulichen. Kultur ist der Ort der Differenzen, ihrer Schärfung und ihrer Milderung zugleich.

Kultur ist immer – es gibt kein geschichtliches Gegenbeispiel – religions- und weltanschauungsdurchwirkt. Wie es auch umgekehrt Religion und Weltanschauung immer nur in geschichtlich-kulturell geprägter Gestalt gibt. Der gegenüber der Kultur unweigerlich abstrakte Staat – mit seinem Institutionengefüge und Regelwerk, dem Funktionieren seiner administrativen Strukturen – würde als Bilderstürmer nicht mehr neutral sein, sondern zugleich religions- und kulturfeindlich werden.

Positiv gewendet: Religionsfreundlichkeit und Kulturfreundlichkeit sind nicht gänzlich voneinander zu trennen. Deshalb muss der Staat seine Grenzen kennen, nichtautoritäre Zurückhaltung gegenüber Kultur und Religion üben, muss um Abwägungen, Ausgleiche, Anerkennungen bemüht sein und weniger mit Verboten oder Säuberungsaktionen auf kulturell-religiöse Konflikte reagieren.

Eine Gesellschaft des Respekts ist keine der Nivellierung, sondern eine Gesellschaft sichtbarer Vielfalt, vielfältiger Sichtbarkeit – von Kultur und von Religion!

Kommentare (1)

  • Martin Kokon
    Martin Kokon
    am 17.03.2023
    Ein sehr guter Artikel.

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