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Die Manipulation von Wirklichkeit

Als am 20. Januar 2021 Joe Biden das Amt des 46. US-amerikanischen Präsidenten antrat, wurde die Präsidentschaft seines Vorgängers Geschichte. Donald Trumps Abwahl dürfte dabei auch als Zeichen gegen eine politische und rhetorische Praxis gewertet werden, die sich auf Halbwahrheiten stützt. Diesem Phänomen widmet sich die in Basel lehrende Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess in ihrem Essay Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Sie geht aus von Hannah Arendts Definition der »Tatsachenwahrheit«. Zu deren Verifikation bedürfe es der Augenzeugen oder Dokumente, Aufzeichnungen, Denkmäler aller Art, oder, im Sinne der wissenschaftlichen Erkenntnis, einen durch gegenseitige Kontrolle, Überprüfung und Kritik strukturierten Forschungsprozess der scientific community, die eine Tatsache etabliere. Die Tatsachenwahrheit gebe der diskursiven Meinungsbildung den Gegenstand vor und setze ihr zugleich Grenzen. Sie schütze sie also vor ihrer Neigung zur Spekulation.

In Abgrenzung zur Tatsachenwahrheit scheinen sich Halbwahrheiten an Tatsachen zu orientieren, tatsächlich setzen sie aber Spekulationen frei. Sie öffnen die Tür zu einem oft als »postfaktisch« bezeichneten Denken und Weltbild, in dem nicht länger die Unterscheidung von Wahrheit oder Unwahrheit über den Erfolg einer Aussage, einer Situation oder über politisches Denken und Handeln entscheidet, sondern die narrative Kohärenz oder die Konsensfähigkeit einer Aussage. Das Vertrackte an Halbwahrheiten, so Gess, bestehe darin, dass sie nicht rein unwahre Äußerungen sind, sondern teilweise auf tatsächlichen Ereignissen, teilweise auf fiktiven Inhalten basieren. Wenngleich sie vorgeben, nach der Unterscheidung wahr/falsch getroffen worden zu sein, setzen sie doch stattdessen diese Unterscheidung außer Kraft, indem sie fiktive Elemente ins Faktuale holen und eine spezifische narrative Logik aufbauen. Halbwahrheiten seien strukturelles Vorbild einer politischen Strategie, sich vermeintlich einzulassen auf die Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft, sie aber im gleichen Moment zu unterwandern.

Zurück zu Trump. Wie Gess in ihrem Essay zunächst darlegt, behauptete Trump, dass sein Freund, der deutsche Golfer Bernhard Langer, bei der Wahl 2016 in Florida in einem Wahllokal abgewiesen worden sei, während andere Wartende abstimmen durften, obwohl sie wie illegale Einwanderer ausgesehen hätten. Die Geschichte fand ihren Weg in die Medien. Langer, der als deutscher Staatsbürger in den USA nicht wahlberechtigt war, stellte die Anekdote später richtig. Er habe all das von einem Freund gehört, der es einem anderen Freund erzählt habe, der es wiederum einem weiteren Freund erzählt habe, der über Verbindungen zum Weißen Haus verfüge, wo die Geschichte dann entsprechend verzerrt worden sei. Was wie das Kinderspiel »Stille Post« klingt, ist weit weniger harmlos. Wer politisch derart redet und handelt, lullt ein, nährt Stereotype und Feindbilder, stützt falsches Bewusstsein, kann zum Brandstifter werden.

An weiteren drei Fallgeschichten aus der jüngsten Gegenwart legt Gess anschließend dar, wie auch dort mit Halbwahrheit politisch agiert und manipuliert werden sollte: Der journalistische Hochstapler Claas Relotius schrieb sich mit seinen halberfundenen scheinhaften Reportagen, die teilweise Fakten umdeuteten, ausfabulierten oder vermeintlich Faktisches erfanden, zunächst in den Olymp des Reportagejournalismus, ehe er im Herbst 2018 durch einen Spiegel-Artikel zu Fall kam, für den er Traute Lafrenz, die letzte Überlebende der Weißen Rose, interviewt hatte und der er nach einem Besuch in den USA und einem Interview Sätze in den Mund gelegt hatte, die nicht von ihr stammten. Weiterhin analysiert Gess die Aussagen und Selbstinszenierung des Verschwörungsideologen Ken Jebsen, der behauptete, Bill Gates habe die WHO gekauft und Corona in die Welt gesetzt. Schließlich untersucht Gess die Äußerungen des Schriftstellers Uwe Tellkamp im Anschluss an heftige Proteste im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2017 angesichts der Ausstellungen der politisch am rechten Rand verorteten Verlage Junge Freiheit, Manuscriptum und Antaios. Tellkamp hatte im Gestus »anekdotischer Evidenz« mit zusammengetragenen Belegen im Zuge der Kritik an der erwähnten Ausstellung öffentlich über einen medialen Meinungskorridor in Deutschland geklagt.

Das Instruktive an Gess’ Analysen ergibt sich aus dem literaturwissenschaftlich gestützten Ansatz. Die Autorin zeigt, dass die Verführung und Wirkmacht von Halbwahrheiten in deren narrativen Mustern und Strategien begründet liegt. Anders gesagt: Halbwahrheiten sind Geschichten, die Elemente empirischer Wirklichkeit aufnehmen, sie verzerren, ausdeuten, aus dem Kontext reißen. Wo aber in explizit als Literatur ausgewiesenen Geschichten uneingeschränkt gilt, dass, wer am besten erzählt, auch bestimmt, was stimmt, ist genau diese Praxis verheerend für den politischen Diskurs.

In dem nur schwer entwirrbaren Gewebe aus wahren Elementen und nur vermeintlich logischen Schlussfolgerungen verfängt und verirrt man sich leicht. Halbwahrheiten und darauf basierende Verschwörungsgeschichten finden nicht selten so massiven Zuspruch, was Gess im Rekurs auf Johann Jakob Breitinger, einen Poetologen des frühen 18. Jahrhunderts, erklärt. Breitinger beobachtete damals, dass diejenigen literarischen Szenarien beim Publikum Anklang finden, deren Plot dem Gebot der Wahrscheinlichkeit gehorcht. Menschen halten Dinge für plausibel, die keineswegs der Realität entsprechen, dagegen aber vorhandene Erwartungen erfüllen.

Wie aber ist den Halbwahrheiten beizukommen? Es genüge nicht, so Gess, die fiktive Seite dieser rhetorischen und politischen Strategie als »falschen Schein« zu entlarven, hinter der sich etwas verbirgt, das die eigentliche politische Agenda derer verfolgt, die sie in die Welt gesetzt haben. Diese Entlarvung griffe zu kurz, habe man es doch in diesen Fällen jeweils mit Positionen zu tun, die sich mit der Strategie der Halbwahrheit bereits jenseits der Möglichkeit einer immanenten Kritik und ihrer Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit bewegten. Statt eines Faktenchecks schlägt Gess vielmehr vor, einen Fiktionscheck zu betreiben. Das komplexe Geflecht der Halbwahrheiten entwirre man am besten, indem man die Verfahren und Codes, mit denen operiert wird, herausarbeitet und das Ineinandergleiten der beiden Seiten untersucht, das nicht auf einen differenzierteren Wahrheitsbegriff, sondern auf einen zynischen Relativismus aus ist, der autoritäre Züge annehmen kann. Indem Gess’ Essay den Blick für Strategien zur Aushöhlung demokratischer Prozesse schärft und die Sensibilität für narrative und rhetorische Strukturen und Strategien erhöht, ist er ein wichtiger Beitrag zu einer kritischen politischen Kultur, der außerdem die Bedeutung kritischer Literaturwissenschaft verdeutlicht.

Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit. Matthes & Seitz, Berlin 2021,160 S.,14 €.

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