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Ein Gespräch mit Wolfgang Thierse über 1989/90 und den heutigen Umgang mit dem Nationenbegriff. »Die Nation ist eine wirksame Größe geblieben«

Wolfgang Thierse, ehemaliger Vorsitzender der Ost-SPD und später Bundestagspräsident, war einer der Hauptakteure des deutschen Einigungsprozesses, in dem es darum ging, wieder zusammenzufinden. Welche Bedeutung hatte da der Begriff der gemeinsamen Nation – und welche Fragen verbinden sich heute damit?  Klaus-Jürgen Scherer sprach für die NG/FH mit ihm.

NG/FH: Die Betonung der Nation kann Sicherheit geben oder die Flucht erleichtern vor der sozialen Realität. Sie kann Zusammenhalt und Nationalismus bedeuten. Hat sie nicht in diesem Sinne zwei Seiten?

Wolfgang Thierse: Gewiss. Wer über das Nationale heutzutage redet, und zwar nicht nur im Gestus des Verdachts, der Abwehr und der Negation, der muss dies tun im Bewusstsein der geradezu abgründigen Ambivalenz des Nationalen, zumal in der deutschen Geschichte. Nach dem Tiefpunkt des rassistischen Nationalismus, der Naziideologie und des Nazi-Verbrecherstaates ist das Nationale erklärlicherweise vielen Deutschen suspekt. Genau das verdeckt die Erinnerung daran, dass sogar in Deutschland der Nationalstaat ursprünglich eine demokratische, eine egalitäre Idee gewesen ist und sich mit ihm auch eine Emanzipationsgeschichte verbindet, wie der Blick auch in andere europäische Länder und in die USA zeigt. 

Mit der Überschrift »Fluchtpunkt Nation« assoziiert man auch das Megathema Mi-gration?

Die Tatsache, dass Deutschland dabei ist, eine Einwanderungsgesellschaft zu werden, erzwingt gewiss neue Fragen an das Verständnis von Nation und auch an unser nationales Selbstverständnis. Aber diese Tatsache erledigt nicht die Frage nach dem Nationalen, sondern verstärkt die Frage nach dem Gemeinsamen, wenn das Gemeinsame nicht mehr die ethnisch gestiftete Homogenität ist, die früher zum Kernbestand des Nationenverständnisses gehörte. Aber Deutschland ist ja trotzdem seit 1990, seit der Wiedervereinigung, ein Nationalstaat. Das nicht ernst zu nehmen und mit Verdächten zu belegen, halte ich für intellektuell unehrlich und für politisch dumm. Die Frage ist doch vielmehr, welche Art von Nationalstaat Deutschland ist und sein soll im europäischen Zusammenhang.

In der DDR jedenfalls war trotz der zwei deutschen Staaten und Systeme die Kulturnation im Alltagsbewusstsein durchaus vorhanden?

Wenn ich es richtig beobachtet habe, war für der Mehrheit der Linken im Westen, zumal die »68er«, Paris, Rom oder Washington wohl näher als Leipzig, Warschau oder Prag. Das Nationale war vergiftet durch die deutsche Geschichte, aus der man zu fliehen suchte. Modernität hieß Abschied von allem Nationalen. Im Osten bedeutete der Blick nach Westen das Gegenteil. Die Ostdeutschen haben mehrheitlich nationaler gefühlt, haben sich gegen den ideologischen Willen der SED als Teil der gemeinsamen deutschen Nation empfunden. Dieses Empfinden war für viele Trost und Hoffnung. Dafür hatte übrigens Willy Brandt, der große Internationalist, Verständnis. Er war zugleich ein deutscher Patriot geblieben, mit Sinn und Sehnsucht für die gemeinsame Nation. Das war der Unterschied zu Oskar Lafontaine, dem die Ostdeutschen fremd waren und dem die deutsche Vereinigung nicht gleichermaßen ein Herzensanliegen war wie für Willy Brandt.

Wie kehrte die Nation 89/90 zurück? Es ging in der Bürgerbewegung ja erstmal um eine demokratische DDR, dann wurde aus dem »Wir sind das Volk«, das »Wir sind ein Volk«.

Die übergroße Erwartung der ostdeutschen Mehrheit, die aus dem beschriebenen Empfinden der nationalen Gemeinsamkeit resultierte, führte zu den Wahlergebnissen des Jahres 1990. Man übergab gewissermaßen die Verantwortung für das ostdeutsche Schicksal nach der friedlichen Revolution an den so beneideten westdeutschen Staat: Die Revolution endete in einer nationalen Wende. Diese übergroße Erwartung führte dann zu den Enttäuschungen vieler Ostdeutscher und mag eine der Erklärungen sein für das Erstarken von nationalistischen, rechtsextremen Kräften in Ostdeutschland.

Kann man da noch sagen, Freiheit und nationale Einheit sind zwei Seiten einer Medaille?

Sie sind natürlich nicht immer zwei Seiten einer Medaille, wie gerade die Nationalismen und die nationalistischen Exzesse des 20. Jahrhunderts zeigen. Aber im weltgeschichtlichen Umbruch von 89/90 gehörten sie offensichtlich zusammen. In der DDR mündete unvermeidlich, weil von der ostdeutschen Mehrheit gewollt, die Freiheitsrevolution in die nationale Einheit. In Mittelosteuropa, also in den baltischen Ländern, in Polen usw. musste die Emanzipation von der Sowjetdiktatur die Form des Wiedergewinns nationaler Souveränität annehmen. Und heute kämpft die Ukraine gegen die imperialistische Aggression Putin-Russlands, um ihre nationale Souveränität und Einheit und damit zugleich um demokratische Freiheit. So verläuft Geschichte.

Aber geht ein Lob der Nation überhaupt ohne Chauvinismus?

»Eine moderne, zeitgemäße Vorstellung von Nation muss ohne Chauvinismus auskommen.«

Eine moderne, zeitgemäße Vorstellung von Nation muss ohne Chauvinismus auskommen. In einem Einwanderungsland kann und darf ja Nation nicht auf ethnischer Homogenität gründen. Sie muss aber mehr sein als die Addition von miteinander unverbundenen Minderheiten und Identitätsgruppen. Sie darf also nicht auf Aus- und Abgrenzung zielen, sondern auf ein gemeinsames Wir, auf eine politisch-kulturelle Identität. Um es leicht pathetisch zu sagen: Die deutsche Nation sollte eine Einladung sein, das wahrlich schwierige geschichtliche Erbe des Landes mit den Hoffnungen der Menschen zu verbinden, die hier eine neue Heimat gefunden haben oder finden wollen. Das ist ja eine durchaus vertraute Definition von Nation, nämlich der Wille, zusammenzubleiben.

Im 19. Jahrhundert waren Nationalismus und Sozialismus die gegnerischen Weltanschauungen. Bei Marx führt die Lösung der Klassenfrage automatisch zur Überwindung der Nation.

Theoretisch und praktisch war und ist die Gegnerschaft zwischen Nationalismus und Sozialismus fundamental. Aber: Nation ist nicht gleich Nationalismus. Historisch hat sich das Thema Nation ganz offensichtlich nicht erledigt, weder durch Klassenkampf noch durch Modernisierungsprozesse. Die Nation ist eine höchst wirksame geschichtliche Größe geblieben, das mag man bedauern oder nicht. Die Sozialdemokratie ist durch dieses Faktum immer geprägt gewesen. So internationalistisch sie gesonnen war und bleiben muss, so musste sie doch immer nationale Politik treiben.

Peter Glotz, der diese Zeitschrift lange geprägt hat, schrieb 1990 ein Buch mit dem Titel »Der Irrweg des Nationalstaats«. Sind es nicht doch Nationalstaaten, die den Unfrieden stiften? 

Die Ambivalenzen und Gefahren des Nationalstaates sind nicht zu bestreiten. Die Konkurrenz der Nationalstaaten, ihr Egoismus, ihr Verhetzungspotenzial haben zu unendlich vielen Opfern und zu zahlreichen Kriegen geführt. Deshalb ist die Europäische Union so wichtig, die eben auch eine Einzäunung der Nationalstaaten ist, nicht deren Überwindung, sondern der Mäßigung der Gefahren und Gefährdungen des Nationalstaats. Das gilt auch für den deutschen Nationalstaat.

Hat nicht jede kulturelle Gemeinschaft, wie sie unter dem Begriff der »deutschen Leitkultur« diskutiert wurde, auch eine ab- und ausgrenzende Seite? Was macht denn eigentlich die Nation aus?

Ich kenne keine hinreichend präzise und erschöpfende Definition von Nation, es gibt eine nun schon 200-jährige Debatte darüber. Man muss Nation gewiss nicht essenzialisieren, aber ihre Definition als »vorgestellte Gemeinschaft«, so der Vorschlag von Benedict Anderson, also als begriffliches Konstrukt, kann ja nicht widerlegen, dass sie nach wie vor eine wirksame Größe ist. Was macht sie aus? Gemeinsame Sprache, Lebensgewohnheiten, Wertzuschreibungen usw. Also viel Uneindeutiges und Relatives und zugleich etwas Bestimmtes und Fassbares.

Sie ist offensichtlich noch immer und wieder ein wirksamer Erfahrungsraum, neben Familie, Arbeitsort, Stadt und mehr als Europa und der Globus. Sie ist bestimmt durch die Erfahrung einer »Verwandtschaft«, die aus territorialer Nähe, aus Zusammenleben, aus Zusammengehörigkeitserlebnissen resultieren mag. Vor allem aber ist sie eine Erinnerungsgemeinschaft und eine Verantwortungsgemeinschaft, eine, nüchtern gesagt, Problemlösungsgemeinschaft. Das Wort Schicksalsgemeinschaft ist durch die Nazis endgültig verdorben.

Die Nation ist trotz Europäischer Union noch immer, und das ist mir wichtig, der wichtigste Referenzrahmen für die demokratische Gesellschaft und Politik. Politische Öffentlichkeit und der sozial- wie rechtsstaatliche Handlungsraum sind noch immer wesentlich national strukturiert, auch im gemeinsamen Europa. Genau deshalb ist es ja wichtig, ein nicht nationalistisches, nicht ausgrenzendes Verständnis von Nation und Nationalstaat zu entwickeln.

Welche Argumente könnten die Bedeutung der Nation positiver erscheinen lassen, als viele sie bisher sehen?

Vom ehemaligen Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde stammt der treffende Satz, der freiheitliche, säkulare Staat lebe von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann. Für unser Thema heißt das, der freiheitliche Staat bedarf eines kulturellen Fundaments, eines verbindenden, vielleicht gar verbindlichen Ethos, das der Staat aber nicht selbst erzwingen kann und darf, wenn er freiheitlich bleiben will.

Dessen früheren Quellen Christentum, Aufklärung, Humanismus sprudeln offensichtlich weniger kraftvoll, aber sie sind noch nicht versiegt. Und zugleich ist da noch und wieder die Nation, ihre wiederkehrende, aber doch auch gefährliche Kraft. Sie ist ernst zu nehmen, weil wir dafür sorgen müssen, dass Nationalismus nicht zur säkularen Religion werden darf. Kann das Nationale neben anderen Kräften eine der Quellen für Gemeinsinn werden? Das ist die spannende Frage. Es darf allerdings nicht die dominante Kraft werden. Ich füge hinzu, in einer offenen, sich dramatisch wandelnden Welt ist die Nation ein möglicher Ort, in dem Herkunftsneugier und Beheimatungsbedürfnis von Menschen ein Echo finden können.

Das widerspricht Positionen, wie wir sie bei Robert Menasse oder Ulrike Guérot lesen konnten: der Bundesstaat Europa als Ersatz für die Nation. Brauchen Linke keinen Nationalstaat?

Brauchen wohl weniger, jedoch sollten sie mit seinen Realitäten rechnen und diese beeinflussen und gestalten wollen. Und den Nationalstaat nicht idealistisch überspringen wollen. Das wäre gewissermaßen internationale Solidarität ohne Solidarität im eigenen Land. Das Wort nationale Solidarität ist verdächtig geworden. Es ist die Nation, die seit 150 Jahren der praktikable Solidaritätsraum ist – aber der Sozialstaat wird wohl noch lange national organisiert sein. Das muss man nicht schlecht machen und es schließt globale Solidarität, universalistisches Denken und Handeln nicht aus, sondern ein. Solidarität in der Nähe ist die Basis für Solidarität in der Ferne.

In diesem Sinne gibt es ja das Plädoyer, den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten zu überlassen.

Das sollte jedenfalls bedeuten, dass wir kollektive Gefühle ernst nehmen, deren Geringschätzung ihre Kraft übersieht und ihre Ambivalenz, ihre mögliche Gefährlichkeit durch politische Instrumentalisierung jedenfalls nicht mindert.

Global heißt es bei der Neuen Rechten »America first«, »Take back control«, »Alles für Deutschland« – und so weiter. Ist dieser völkische Nationalismus wirklich etwas ganz anderes als, sagen wir mal, demokratischer Patriotismus?

Diese Unterscheidung ist wahrlich wichtig: Demokratischer Patriotismus ist nicht ethnisch begründet. Er braucht für ein freundliches Verhältnis zur eigenen Nation nicht die Geringschätzung und Verachtung anderer Nationen. Er widerspricht der Sakralisierung von nationalem Egoismus, der Heiligsprechung des Nationalen und er weiß, dass Solidarität in der und mit der eigenen nationalen Gemeinschaft nicht erfolgreich gelebt werden kann als Solidarität gegen die anderen. Mit einem schönen Wort von Hölderlin: »Das eigene wie das Fremde müssen gelernt sein, immer wieder.«

Von Renationalisierung und Deglobalisierung ist die Rede. Abschottung gegenüber Zuwanderung, Solidarität nur im eigenen Volk, Schutzzölle gegen Konkurrenten: Was ist von diesen Rechtsaußen-Konzepten zu halten?

Ich halte die Entgegensetzung von national und europäisch, von national und global gleichermaßen für illusionär wie für gefährlich. Das sollten wir doch endgültig gelernt haben. In einer verflochtenen Welt sind Frieden und Wohlfahrt der eigenen Nation abhängig von der Wohlfahrt der anderen Nationen. Sie gelingen nur noch in einer Welt der Regeln und Verträge, des friedlichen Austausches und internationaler Gerechtigkeit. Deutschland kann nicht erfolgreich sein und bleiben durch Abgrenzung. Unser kultureller wie materieller Reichtum gründet wesentlich auf der Zuwanderung von Menschen und Ideen in den vergangenen Jahrhunderten. Was und wer fremd war, blieb es nicht. Das Fremde, die Fremden wurden deutsch, sie veränderten sich und die Deutschen mit ihnen. Integration also lohnt sich. Wer seiner selbst sicher ist, dem ist Offenheit und Angstfreiheit möglich. So verstanden können wir durchaus nationales Selbstbewusstsein wagen.

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