Die Philosophin Isolde Charim, wissenschaftliche Kuratorin am Bruno Kreisky Forum für internationalen Dialog in Wien, entfaltet in ihrem Essay Ich und die Anderen Überlegungen, »wie die neue Pluralisierung uns alle verändert«. Gesellschaften mit einer »relativen ethnischen, religiösen und kulturellen Einheitlichkeit« seien passé, bildeten gewissermaßen die Negativfolie unserer heutigen pluralisierten Gesellschaft. Die Nationenbildung, so Charim, und damit der Nationalstaat als moderne Erfindung stellten ein Konstrukt dar, das auf einer materiellen, emotionalen und kulturellen Vereinheitlichung fuße: »Die Nationenbildung hat (…) das Staatsgebiet verdoppelt: Sie hat dem materiellen ein symbolisches Territorium hinzugefügt, um es zu jenem Gebiet zu machen, an das die Gefühle andocken konnten.«
Mit Bezug auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson begreift Charim die Nation als eine »imagined community«, eine vorgestellte Gemeinschaft. Die Erzählung von der Nation sei ein Weg gewesen, in Massengesellschaften tatsächlich Bindungen herzustellen. Homogenität einer Gesellschaft bedeutet demzufolge nicht einfach Vereinheitlichung. Homogen sei eine Gesellschaft vielmehr, wenn die Unterschiede zweitrangig werden – angesichts des Gemeinsamen, besonders augenfällig beim gleichen Gewicht einer jeden Stimme in demokratischen Wahlen. Charim fragt nun, ob die Demokratie auch »nackt« funktionieren kann – nackt, also ohne nationale Gestalt, da die Nation in der pluralisierten Gesellschaft erodiert. Zu glauben, etwa der Brexit oder das »America first« von US-Präsident Donald Trump zeige das Wiedererstarken des Nationalen, sei ein Irrtum. Vielmehr bestätige die Wiederkehr der Nationen die These von deren allmählichem Zerfall. Nation und Demokratie drifteten vielmehr auseinander. Die emotionale Gleichstimmung einer Nation sei in einem Europa der offenen Grenzen nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Wenn aber Homogenität eine Illusion ist, was tritt an ihre Stelle? Wie gehen wir mit der fundamentalen Pluralisierung um? Können wir keine vollen Identitäten, keine ungebrochenen Zugehörigkeiten mehr ausbilden? Vor allem: Kann sich eine Gesellschaft in relativ kurzer Zeit friedlich in eine multiethnische, religiös und sozial diverse Demokratie verwandeln?
Pluralisierung verändert eine Gesellschaft, wie Charim betont. Das wollten gerade diejenigen nicht wahrhaben, die nach Integration, Anpassung und Assimilation riefen. Die neue gesellschaftliche Vielfalt sei nämlich keine bloße Ansammlung unterschiedlicher Kulturen und Religionen, keine einfache Addition, denn: »Die Pluralisierung verändert uns alle.« Sie finde auf zwei Ebenen statt, als Veränderung der Zugehörigkeit zur Gesellschaft und als Veränderung der eigenen Identität. Die Selbstverständlichkeit jedweder Zugehörigkeit werde ausgeglichen, ja überflüssig: »Es gibt keinen für alle verbindlichen Typus mehr.« Wir seien es gewohnt, uns zu bestätigen, unsere unverfügbaren Merkmale zu betonen, unsere jeweilige Eigenheit expressiv darzustellen. Infolge dieser Individualität gebe es eine Vielzahl von Lebensformen. Nun aber komme die Pluralisierung der Bevölkerung hinzu und wirke zurück auf unsere Selbstwahrnehmung: »Pluralisierung bedeutet einen Individualismus eigener Art«, lautet die Kernthese dieses Buches. Wenn die eigene Identität nur eine von vielen anzutreffenden Identitäten ist, stellt »uns das täglich und immer wieder aufs Neue in Frage.« Wir können, so schlussfolgert Charim, »nicht mehr unhinterfragt, ungebrochen, selbstverständlich wir selbst sein«, anders ausgedrückt: »Wir sind weniger selbstverständlich Ich.« Die nicht-vollständige Identität ist demnach die unvermeidliche Konsequenz einer pluralisierten Gesellschaft. Sie widerfährt uns, ob wir wollen oder nicht.
Heimat als Kampfformel
Wie aber mit der Einschränkung unserer Identität umgehen? Wie kann man sowohl gleich als auch verschieden sein? Die unvermeidliche Pluralisierung zur aktiven Gestaltung einer tatsächlich pluralistischen Gesellschaft zu führen, scheint die Herausforderung der Stunde zu sein. Denn es gibt starke Gegenbewegungen. Deren Abwehr der Pluralisierung, schreibt Charim, erfolge niemals über eine Zukunftsvision, sie trete immer, ob sie nun mit der Leitkultur, dem Abendland oder dem Deutsch- und Österreichertum operiere, als Rückgriff auf. Charim verdeutlicht das an einem Beispiel aus dem Kulturbereich: Wenn Conchita Wurst in ihrer Zartheit und Anmut weibliche Zuschreibungen verkörpert und diese zugleich durch ihr männliches Attribut, den Vollbart, dementiert, verdeutliche die Kunstfigur das Prekäre vertrauter Zuordnungen. Anders Andreas Gabalier, der mit seiner in Tracht vorgetragenen Volksmusik an nostalgische Empfindungen und Ausdrucksformen anzuknüpfen versuche. Seine Tracht sei aber nur scheinbar die alte, vertraute, denn da sie auf Abwehr der Pluralisierung ziele, stelle sie eine bloße Konstruktion dar, werde zum Instrument einer aggressiven Identitätspolitik. Die »Entheimatungsängste«, von denen Wolfgang Thierse gesprochen hat, lassen »Heimat« zu einer Kampfformel werden. Als könne es durch sie die unveränderte, echte, »reine« Gesellschaft noch geben.
Für das Feld des Politischen bedeutet das eine Mixtur unterschiedlicher Erwartungen und Verhaltensweisen. Auf der einen Seite gibt es die Sehnsucht nach Partizipation, auf der anderen Seite stößt man auf Programmmüdigkeit und Skepsis gegenüber politischen Inhalten. Das traditionelle Politikverständnis, wie es sich im Gefüge von Parteien und Nichtregierungsorganisationen herausbildete, ist einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber Institutionen und verbindlichen Regeln gewichen. Heute seien »Emotionen das privilegierte Medium des politischen Subjekts, das zentrale Moment des Politischen«, schreibt Charim: »Teil der Gesellschaft sein heißt heute: wahrgenommen werden. Das ist die Währung der Demokratie.« Sie zeigt sich in dem Bedürfnis nach situativer, selbstmobilisierender Aktivität. Das hedonistische Moment eines solchen Engagements ist unübersehbar, und das Zu-Wort-Kommen-Wollen ist eines seiner Merkmale. Als grundlegendes politisches Bedürfnis der Gegenwart erweise sich der Wunsch, als Individuum in seiner Besonderheit erkannt zu werden. Den Einzelnen in der Massengesellschaft vorkommen zu lassen, sei die Erfolgsformel von Emmanuel Macron und seiner Bewegung »En Marche !« gewesen. Dem trage auch die »Liste Sebastian Kurz« in Österreich Rechnung. Ihr sei es gelungen, das Verkrustete der Österreichischen Volkspartei abzustreifen, sie dynamisch neu zu konfigurieren. Ob von unten gesteuert wie bei der »Occupy«-Bewegung oder von oben wie bei Macron oder Kurz, Charim interpretiert diese Phänomene als Abwehrformen des pluralisierten Individualismus. Sie erreichen ihren Höhepunkt im Rechtspopulismus. Die vielfältigen Formen der Migration wirken als Beschleuniger populistischer Strömungen, weil sich die emotionalen Bindungen an die bisherige Ordnung auflösen.
Emotionen ohne Bindungen – Anknüpfungspunkte für Populisten
Die tradierten Volksparteien seien die Bad Banks der Emotionen geworden, weil sich die Menschen nicht mehr wahrgenommen, durch die Botschaften und Artikulationsformen der traditionellen Parteien nicht mehr angesprochen fühlen. Wenn aber politische Leidenschaften ohne Parteibindung oder in dezidierter Abkehr von ihnen gelebt werden, wächst die Attraktivität populistischer Angebote. Emotionen ohne Bindungen können enorm destruktiv wirken und den Populismus befördern, wie allenthalben zu beobachten ist. In einem Moment, in dem sich Subjekte in ihrer Identität bedroht fühlen, bezieht sich der Populismus auf all die negativen Gefühle, die die Erosion alter Bindungen freisetzt. Der Emotionsraum, den er anbietet, greift Ängste und Ressentiments auf und verstärkt sie. Charim hält es für verfehlt, vagabundierenden Emotionen mit dem Appell an Vernunft und Rationalität zu begegnen. Nötig sei eine demokratische Politik, die nicht nur auf die Lösung sachlicher Probleme zielt, sondern die einen emotionalen Konsens herzustellen vermag, eine Politik, die Emotionen berührt. Ihr ist die Ambivalenz dieser Empfehlung wohl bewusst. Denn die Berufung auf Emotionen kann in Egoismus, Egozentrik und das Reklamieren des Opferstatus umschlagen. Die Autorin beschreibt diese Kehrseite der Emotionalisierung von Politik an Beispielen der Political Correctness.
Ihr Fazit aber lautet: Die pluralisierte Gesellschaft birgt kein Versprechen einer gemeinsamen Gesellschaft mehr. Es ist ein zutiefst verunsichernder Befund.
Isolde Charim: Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Zsolnay, Wien 2018, 224 S., 22 €.
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