Der Nationalismus fordert den einzelnen Menschen auf, stolz sowie leidenschaftlich und loyal gegenüber dem zufälligen Umstand seiner Geburtskoordinaten zu sein. Man feiert diese Willkürlichkeit als nationale Besonderheit, wertet sich damit gegenüber anderen Nationen auf, während man gleichzeitig in identischen globalen Handelsketten einkauft, im selben Internet surft oder dieselben Streamingdienste nutzt. Nationen, im Westen zugleich halsstarrige Bastionen des Individualismus, verlangen zudem von ihren Bürger:innen, dass sie kollektiv so tun, als wären sie Teil einer imagined community (Benedict Anderson), als seien wir alle Darsteller:innen in einem Stück, dessen Bühne willkürlich, dessen Drehbuch widersprüchlich ist, und nun der große Kunstgriff darin besteht, vehement darauf zu bestehen, dass diese Aufführung für unser Überleben absolut entscheidend ist, also dessen Bretter buchstäblich die Welt bedeuten. Das Paradoxon liegt doch darin, dass etwa der westliche Nationalismus kulturelle Einzigartigkeit fördern, aber gleichzeitig an der großen homogenisierenden Kraft des globalen Kapitalismus teilhaben will. Wir halten eine Fahne für uns hoch, die in anderen Ländern genäht wurde, während wir Nationalgerichte essen, die zumeist eine Migrationsgeschichte haben.
»Der Nationalismus soll als letzte Verteidigungslinie gegen soziale Atomisierung dienen.«
Doch diese utilitaristische Absurdität hat ihre Tiefe: Diese scheinbar sinnlose Übung in kollektiver Selbsttäuschung dient als Grundlage für unsere Gesellschaftsverträge und Sozialsysteme. Ein Placebo, das tatsächlich die Krankheit heilt – darin könnte die Sinnlosigkeit des Nationalismus ihren Sinn haben. In einer Zeit, in der Kapitalströme keine nationalen Grenzen kennen wollen, soll der Nationalismus als letzte Verteidigungslinie gegen soziale Atomisierung dienen. Er geriert sich noch als das gesellschaftliche Äquivalent einer auf Treibsand gebauten Grenzmauer. Gerade der westliche Nationalismus erweist sich als die erfolgreichste Massenverdrängung der Menschheit – eine provozierte kollektive Vereinbarung, an etwas souverän Völkisches, also geografisch Unverwechselbares zu glauben, von dem wir wissen, dass es konstruiert ist, eben weil wir die Konstruktion brauchen, wie ein schlecht personalisiertes Betriebssystem – jeder weiß, dass es voller Fehler, veraltet und austauschbar ist, aber wir lassen es weiterlaufen, weil wir befürchten, dass die Alternativen noch schlimmer sein könnten.
Im Nationaltheater der europäischen Geschichte spielen die Deutschen die wundersamste Rolle, sie treten als eigentümlicher Stamm auf, der absolut alles bis zum bitteren Ende denken muss. Sie spielen ein Volk, das so gründlich ist, dass es seine eigene Identität dreimal hintereinander systematisch dekonstruiert.
Ein kürzer Rückblick
Es war einmal eine Region in Mitteleuropa voller kleiner selbstverliebter Fürstentümer und vieler Mundarten und Sprachen, deren Einwohner:innen vor dem Schlafengehen die Sterne lesen und Gedichte schreiben. Es sind die Deutschen von Novalis und Schiller – neugierige Seelen, die das Universum in einem Tautropfen erkennen und in einer Frühlingsblüte ein Wunder finden. Wie frühreife Kinder, die mit zu viel Fantasie gesegnet (oder gestraft) sind, blicken sie in die Tiefen des Kosmos, während andere sich damit begnügen, ihre Schafe beim Grasen zu beobachten. Ihre Herzen wiegen mit Bach, Händel oder Beethoven, ihr Geist breit aufgespannt zwischen Kant, Humboldt, Hegel oder Schopenhauer, und ihre Seelen brennen mit Goethe oder später Heine. In solchen Höhen büßen sie dann ihre Unschuld ein. Während andere europäische Nationen lautstark Kolonien sammeln und ihre Fahnen schwingen, versuchen die Deutschen ihre tragische Wandlung von universellen Träumern zu partikularen Gläubigen hinzukriegen. Sie versuchen, das Unerfassbare zu erfassen – das undefinierbare Wesen des »Deutschseins« zu definieren.
Stellen Sie sich ein Kind vor, das beim Versuch, einen Schmetterling zu fangen, dessen Flügel zerquetscht – und dann eine tausendseitige Abhandlung über die richtige Methode des Schmetterlingsfangs verfasst. Die naive Verwunderung, die sie einst dazu gebracht hat, das Universum zu umarmen, wendet sich nun nach innen und strebt nach nationaler Perfektion mit der gleichen Gründlichkeit, die sie einst auf das Verständnis des Kosmos angewendet haben. Die gutgläubigen Träumer mutieren zu gnadenlosen Utopisten und triezen sich hintereinander durch drei Utopien.
Erstens: Utopie Nationalismus – oder wie wir eine Nation aufbauen, während es alle tun, aber wir es besonders machen wollen.
Ein Volk, das uns Goethes universellen Humanismus beschert hat, beschließt also, dass der beste Weg, seine Kultur zu feiern, darin besteht, sie metaphysisch einzuzäunen. Thomas Manns Bemerkung, dass »Nationalisierung Entdeutschung sei«, ist vielleicht das eleganteste »Ich hab euch ja gewarnt« der Geschichte. Sie treten eine Bewegung los, die die deutsche Vorherrschaft beansprucht, während sie systematisch alles zerstört, was die deutsche Kultur so überlegen gemacht hat: ihren Universalismus, ihren Humanismus, ihren Optimismus, ihr Mediationstalent oder ihre Fähigkeit zur Selbstkritik. Ein Volk, das die Weltkultur erfand, will sie nun in ein völkisches Korsett zwängen.
»Die Deutschen wollen den Nationalismus zu einer metaphysischen Erfahrung machen.«
Frankreich exportiert die Ideale seiner Revolution, Großbritannien ist damit beschäftigt, die Weltkarte rot zu färben, und die Deutschen? Sie wollen den Nationalismus zu einer metaphysischen Erfahrung machen. Die Briten bauen planetenumspannend ein Imperium auf, in dem die Sonne nie untergeht, und die Deutschen schreiben philosophische Abhandlungen darüber, warum die Sonne eigentlich deutsch sein soll. Die Welt um sie herum erlebt die industrielle Revolution und erfindet die moderne Ökonomie. Die Deutschen aber halten sich durch Postulieren und Zerreden davon ab, sich in einen modernen Industriestaat zu entwickeln. Sie fühlen sich abgehängt und benachteiligt.
Zweitens: Utopie Nationalsozialismus – die ultimativ undeutscheste deutsche Bewegung oder: wie Verkennen zur Katastrophe wird.
Die Welt leidet noch unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise, die meisten Länder entscheiden sich für konventionelle Formen des Krisenmanagements: Roosevelts New Deal, die britische Nationalregierung, Frankreichs Volksfront. Aber Deutschland? Deutschland erfindet eine Form der sozialen Psychose, die so einzigartig ist, dass sie ein neues Vokabular erfordert. Victor Klemperer hält es in einem Wörterbuch fest. Seine Warnung und die vieler anderer jüdischer Intellektueller vor dieser Bewegung, »die Nazis [seien] undeutsch«, geht unter im lärmenden Rauschgefühl der Neudeutschen. Andere Länder versuchen, den Kapitalismus zu reparieren, Deutschland beschließt, seine Existenz selbst zu reparieren.
Der internationale Kontext ist hier von Bedeutung: Die Sowjetunion baut an einer Utopie, Amerika verkauft eine andere, aber Deutschland findet, dass beide nicht apokalyptisch und heroisch genug sind. In einer Welt, die bereits mit der Moderne zu kämpfen hat, gelingt es den Deutschen, einen antimodernen Modernismus zu schaffen – einen philosophischen Widerspruch, verpackt in eine politische Katastrophe, serviert mit industriellem Völkermord.
Drittens: Utopie Sozialismus – eine geteilte Körpererfahrung zwischen nationalistischem Ekel und Imperativ.
»Die Teilung nach dem Krieg war die Institutionalisierung einer geistigen, psychischen Erfrierung.«
Die binäre Teilung nach dem Krieg ist nicht nur eine territoriale Teilung – sie ist die Institutionalisierung einer geistigen, psychischen Erfrierung – des eiskalten Kriegs. Der DDR gelingt zunächst das Unmögliche: Sie macht den sowjetischen Sozialismus deutscher als den Sozialismus der Sowjets. Das ändert sich, nachdem Moskau Ulbricht abgesetzt hat und die Marionette Honecker kommt. Ostdeutsche, einst Freigeister, die der Welt die Romantik geschenkt haben, werden zu hirnlosen Automaten abgerichtet, die mehrmals täglich Kampfsprüche, Partisanenlieder oder sozialistische Mottos schmettern im Paradies eines bürokratisch-sozialistischen Losungsperfektionismus.
Westdeutsche hingegen, diese ehemaligen metaphysischen Abenteurer, wenden sich der Anbetung der Deutschen Mark zu und finden in der wirtschaftlichen Präzision die Sicherheit, die die intellektuelle Leidenschaft nicht bieten konnte. Westdeutschland ist erfolgreich, weil es endlich das macht, was die Deutschen seit Anbruch des 19. Jahrhunderts nicht mehr hingekriegt haben: nicht zu deutsch zu sein. Die Kinder Goethes und Schillers schreiben nun Gebrauchsanweisungen und etablieren sich als die scheuen Techniker.
Meister des Kompromisses
Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser deutschen Dreifaltigkeit der Selbstzerstörung in der Tatsache, notorisch zu spät zur Party zu kommen und dann das Bedürfnis zu verspüren, einen großen Auftritt hinzulegen. So löst die späte Vereinigung Deutschlands im Jahr 1871 schon eine Art historische Unruhe aus. Während andere Jahrhunderte Zeit haben, ihre Fehler zu machen, komprimiert Deutschland die politische Entwicklung mehrerer Säkula in wenigen Dekaden.
Das Wunder des heutigen Deutschlands ist nicht sein wirtschaftlicher Erfolg oder seine politische Stabilität – es ist die Errungenschaft, absichtlich langweilig zu sein. In einer Welt, die wieder in Richtung Extremismus kippt, hat Deutschland die radikale Mitte mit derselben Gründlichkeit eingenommen. Die Deutschen sind zu Meistern des Kompromisses, zu Verfechtern der Bürokratie und zu Experten für gekonnte Mäßigung geworden.
Es ist vielleicht die deutscheste aller Lösungen – Weisheit durch die systematische Beseitigung aller anderen Möglichkeiten zu erlangen. Die ultimative Synthese entsteht also nicht durch die Auflösung von Widersprüchen, sondern dadurch, dass wir die Widersprüche so satt haben, dass wir mit dem Chaos zu leben lernen. In der heutigen Welt des aufkommenden Nationalismus und der neo-utopischen Versprechungen ist das vielleicht die nützlichste Lektion von allen.
»Nationalismus ist die Identitätsprügel zur Eindeutigkeit, die Optionen gehen flöten, es wird eng. Diese bewusste Identifizierung wird da zum Kerker.«
Nationalismus ist als Schwimmweste für die westlichen Zivilisationen, angstgetrieben und völlig imaginär, zu unserer stursten Fiktion geworden. Dabei vergessen wir schnell, dass die deutsche Weltkultur in einer Zeit ihrer geografisch wie metaphysisch größten Uneindeutigkeit entstand. Nationalismus aber ist die Identitätsprügel zur Eindeutigkeit, die Optionen gehen flöten, es wird eng. Diese bewusste Identifizierung wird da zum Kerker.
Im Deutschland des 21. Jahrhunderts scheitert der Nationalismus aber noch einmal anders am Deutschsein, denn deutsch ist heute ein Begriff der rechten Szene. Die Deutschdefinition des undeutschen Nationalsozialismus ist unser historisches Erbe. Deshalb muss Links antideutsch sein, anstatt hier für Aufklärung, Auflockerung und einen echten Neuanfang zu sorgen. Die Deutschen heute sind im Prinzip wieder identitätslos, was nicht so schlimm wäre, weil sie wieder universell sein können. Aber sie treten halt ihr kulturelles Erbe mit der bewährten Perfektion an: Selbsthass wird systematisch praktiziert. Und sie nehmen diesen Hass sehr ernst. Aber kann Nationalismus heute eine Option für uns sein, wenn er verlangt, sich selbst zu lieben und zu ehren und die anderen zu hassen?
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