Menü

Karl Kraus zum 150. Geburtstag Die Welt unter Anklage

Karl Kraus, geboren 1874 als Sohn eines Papierfabrikanten in Böhmen, hat fast sein ganzes Leben als freier Schriftsteller in Wien verbracht. Die im April 1899 von ihm gegründete Zeitschrift Die Fackel erschien über dreieinhalb Jahrzehnte hinweg bis zu seinem Tod im Juni 1936; sie wurde, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ausschließlich mit eigenen Beiträgen gefüllt und umfasst rund 24.000 Seiten. Den Ertrag dieser Arbeit sammelte er in Buchausgaben, aber zu seinem Gesamtwerk gehören auch Gedichte, Theaterstücke, Übersetzungen und Bearbeitungen, etwa von Offenbachschen Operetten und von Stücken Shakespeares und Nestroys. In die politische und publizistische Geschichte Wiens hat er mit seiner Zeitschrift unablässig eingegriffen. Wien und das gesellschaftliche Leben der Wiener waren ein Hauptthema der Fackel. Die Me­tro­po­le der einstigen Donaumonarchie erscheint da als Stadt des Pallawatsch, der organisierten Unordnung. Kraus schrieb über den Alltag in Wien, über die öffentlichen Themen, die in den Zeitungen gedruckten Phrasen, die alltäglichen Lügen, die Stimmen der Banalität. Das war die Welt, in die Karl Kraus mit seiner Fackel hin­ein­leuchtete, wohl wissend, dass sie nicht allein auf Wien und Österreich beschränkt war.

»Am Anfang war die Presse, und dann erschien die Welt« – Kraus’ berühmtes Diktum beschreibt vielleicht am besten die überragende Rolle, die der Presse am Ende des 19. Jahrhunderts in den bürgerlichen Gesellschaften Europas zukam. Kraus war der grandiose Chronist und Analytiker dieses Phänomens. Die Welt im Satz, die Welt in der Schlagzeile war sein großes Lebensthema; die gedruckte Welt der Worte in Gestalt der großen liberalen Tageszeitung Wiens, der Neuen Freien Presse. Für Kraus war diese Zeitung die Verkörperung einer Meinungsmacht, die Kriege ideologisch vorbereiten hilft und die Vorstellungs- und Urteilskraft der Leser untergräbt. In den Zeitungsschreibern sah er die »Herrscher der Welt«. Er zeigte und wies nach, wie Journalisten von ihren Redaktionsstuben aus den Lesern eine Realität vorgaukeln, die es gar nicht gibt.

»Journalisten gaukeln den Lesern eine Realität vor, die es gar nicht gibt.«

Phänomene, die dem Medienkonsumenten von heute vertraut sind, werden hier gleichsam an der Wurzel beobachtet und beschrieben. Kraus erkannte die Bedeutung von Reklametexten und -bildern, beschrieb das Eindringen der Werbeslogans in die Bereiche des Unbewussten, in Schlaf und Traum, und nahm damit Entwicklungen vorweg, die erst ein halbes Säkulum später durch angewandte Psychologie, Massensuggestion und hypnotische Bilder zur vollen Ausprägung kamen. Und er gelangte zu der Schlussfolgerung: »Ich bin imstande, das Antlitz der heutigen Welt mir aus dem hintern Annoncenteil zusammenzustellen.« Das kommt den Mechanismen der modernen Welt, wie sie heute das Bewusstsein der Menschen bestimmt, ziemlich nahe.

Der Komponist Ernst Krenek, ein regelmäßiger Leser der Zeitschrift Die Fackel, schrieb, das Gesamtwerk von Kraus habe »den Charakter eines gigantischen Protokolls von einer endlosen Gerichtsverhandlung [angenommen], in der die ganze zeitgenössische Welt unentwegt unter Anklage stand«. Ein normaler Arbeitstag bestand für Kraus darin, sich um zehn Uhr abends ins Caféhaus zu begeben, die Taschen vollgestopft mit Zeitungsausschnitten, die er während des Gesprächs mit Freunden herauszog und zitierte, gleichsam in freier Improvisation Aufsätze und Glossen verfertigend, die er dann nach Mitternacht an seinem Schreibtisch zu Papier brachte.

Weltenrichter und großer Unnahbarer

In den Dokumenten der Zeitgenossen erscheint er als der große Unnahbare, der seine Mitwelt auf Distanz hielt, um seine Rolle als Ankläger und Richter (zuweilen Scharfrichter, sogar Weltenrichter) umso überzeugender spielen zu können. Nur einige Frauen wie Sidonie Nádherný und Helene Kann gelang es, weiter und tiefer in den Kern seiner Persönlichkeit vorzudringen und ihn in eine ungewohnte Beleuchtung zu rücken: als Menschen von »spitzbübischer Ausgelassenheit«, der »sein Herz auf der Hand trug«, und als »gesellige Natur«, mit der man lachen konnte. Wahrscheinlich war es die eigene Verletzlichkeit, die Kraus in die Lage versetzte, die Welt unter Anklage zu stellen und ein großes Gerichtsverfahren gegen sie zu eröffnen.

Seine Verletzlichkeit versetzte Kraus in die Lage, die Welt unter Anklage zu stellen.

Kraus war 40 Jahre alt, als der Erste Weltkrieg begann, La Grande Guerre, wie er in Frankreich noch heute heißt, weil er viel tiefer als der Zweite Weltkrieg eine Epochengrenze markiert, die sich im Bewusstsein der beteiligten Völker verankerte. 65 Millionen Soldaten mussten zwischen 1914 und 1918 in den Krieg ziehen, acht Millionen von ihnen verloren in diesen viereinhalb Jahren ihr Leben. Täglich wurden 6.000 Menschen getötet. 21 Millionen Soldaten wurden verwundet, über zwölf Millionen Zivilisten kamen durch Massaker, Krankheiten, Hunger und Seuchen um. Zum ersten Mal offenbarte die moderne Kriegstechnik bis zum Giftgaseinsatz ihr ganzes Vernichtungspotential.

Kraus hat den Ersten Weltkrieg in seinem berühmtesten und wohl auch bedeutendsten Werk unter dem Titel Die letzten Tage der Menschheit beschrieben. Für ihn gab es zwei entscheidende Voraussetzungen für diesen Krieg: die neue Waffentechnologie auf der einen Seite, der Verlust an menschlicher Vorstellungskraft auf der anderen. Hätte die Phantasie ausgereicht, die Wirklichkeit nur einer einzigen Stunde des großen Massensterbens zu erfassen, so war Kraus’ Überzeugung, dann hätte es diese Wirklichkeit nicht gegeben. Dass die neue Waffentechnologie das Wesen des Krieges von Grund auf verändern würde, blieb außerhalb der Vorstellungskraft der Politiker und Militärs. Diese Korruption des Bewusstseins führte Kraus auf die Wirkungsmechanismen der Presse zurück, deren Phraseologie von Heldentod und Vaterland einen Automatismus der blinden Reflexe erzeugte. Die Wirklichkeit des Krieges sah anders aus, es war nichts Heroisches im alltäglichen Sterben.

Der Verklärung des Todes in der Presse setzte Karl Kraus in seiner Zeitschrift ein anderes, wirklichkeitsnahes Bild des Krieges entgegen, indem er Berichte von Frontsoldaten abdruckte, die in einfachen Sätzen das Leben im Schützengraben schilderten, den ständigen Wechsel von gespanntem Warten und plötzlichem Granatenbeschuss. Und er dokumentierte die Zeugnisse der Kriegspropaganda, die nicht nur Journalisten, sondern auch viele deutsche Schriftsteller und Intellektuelle in millionenfacher Auflage produzierten, als trauriges Zeugnis moralischer und intellektueller Selbstzerstörung.

Der Vortragsredner

Der Große Krieg lag erst wenige Jahre zurück, als Kraus einen kollektiven Gedächtnisverlust konstatierte. In seinem Stück Dieletzten Tage der Menschheit lässt er den »Nörgler« sagen: »Alles was gestern war, wird man vergessen haben; was heute ist, nicht sehen; was morgen kommt, nicht fürchten. Man wird vergessen haben, daß man den Krieg verloren, vergessen haben, daß man ihn begonnen, vergessen, daß man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.« Kraus wandelte sich in dieser Zeit zum öffentlichen Rezitator. Der Schriftsteller Bruno Frei schrieb: »Nach Jahren des verstümmelten Wortes war endlich das befreiende Gericht über die ›große Zeit‹ zusammengetreten. Richter und Nachrichter war Karl Kraus. ›Durch die Nacht der Nächte leuchtet ein trost- und hoffnungsspendender Stern: nicht mehr Österreicher zu sein.‹« Auch Elias Canetti hat im zweiten Band seiner Lebensgeschichte Die Fackel im Ohr – sie führt den Namen von Kraus’ Zeitschrift bereits im Titel – aus historischem Abstand die enorme Wirkung beschrieben, die von den öffentlichen Rezitationen Karl Kraus’ im Wien der 20er Jahre ausging.

Kraus’ Stimme tobt sich mit einer verzehrenden und bedrohlichen Gewalt aus.

Die 300. Vorlesung am 17. April 1924 war die erste, die der damals 19-jährige Canetti besuchte. »Als er Platz nahm und zu sprechen begann«, heißt es in seinen Erinnerungen, »überfiel mich die Stimme, die etwas unnatürlich Vibrierendes hatte, wie ein verlangsamtes Krähen. Aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch, denn die Stimme änderte sich gleich und änderte sich weiter unaufhörlich, und sehr bald schon staunte man über die Vielfalt, deren sie fähig war … Die Dynamik eines solchen bis auf den letzten Platz gefüllten Saals unter der Einwirkung jener Stimme, die auch in den Augenblicken nicht aussetzte, in denen sie verstummte, läßt sich so wenig wiedergeben wie das Wilde Heer der Sage. Aber ich glaube, sie käme diesem am nächsten. Man stelle sich das Wilde Heer vor, in einem Saale niedergelassen, durch den, der es herangeholt hat, eingesperrt und zum Stillsitzen gezwungen und dann immer wieder zu seiner eigentlichen Natur hervorgerufen.«

Es gibt Tondokumente, die Canettis Befund bestätigen: Kraus’ Stimme tobt sich darin aus mit einer ebenso verzehrenden wie bedrohlichen Gewalt. Rudolf Fernau nannte die Kraus’schen Lesepodien »Hinrichtungsstätten«, auf denen niemand sich sicher fühlen durfte und sogar Be­rühmt­heiten wie Hofmannsthal, Schnitzler, Werfel gezüchtigt und geschlachtet wurden. Canetti scheute sich nicht, Kraus mit Goebbels zu vergleichen, den Kämpfer gegen die Phrase als »Meister der Phrase« zu beschreiben. Der Zwiespalt der Wirkungsgeschichte zwischen »Anbetungs-Orgie« und »Haßgestammel« hat wohl keinen Kraus-Adepten so tief zerrissen wie diesen seinen frühen Zuhörer. Doch ein halbes Jahrhundert, nachdem er den Fackelträger seiner Wiener Jahre als »Hitler der Intellektuellen« entlarvt hatte, überraschte Canetti die Zuhörer seiner Stockholmer Nobelpreisrede mit dem Bekenntnis, er nehme diesen Preis stellvertretend entgegen für vier Landsleute der einstigen Donaumonarchie: Franz Kafka, Hermann Broch, Robert Musil und – Karl Kraus.

Heute ist vieles an Kraus’ gewaltigem Œuvre historisch geworden, unzugänglich, schwer verständlich, der Erläuterung bedürftig. Ohne Kommentar strampelt man wie ein Fisch auf dem Treibsand der Glossen und Kommentare, deren satirische Spitzen sich auf Ziele richten, die mit der Zeit vergangen oder in ihren Zusammenhängen nicht mehr unmittelbar greifbar sind. Hans Wollschlägers Auswahl aus dem Gesamtwerk, jetzt wieder neuaufgelegt, kann hilfreich sein, einen Weg durch dieses Labyrinth zu bahnen. Kraus traktierte mit derselben Vernichtungsenergie große und kleine Gegenstände, als wolle er vorwegnehmend Adornos Satz illustrieren, dass sich das »schlechte Ganze« in jedem seiner Details reproduziert. Oft geht er sehr nah an die Gegenstände heran, reibt sich an ihnen auf, weil die Grundbewegung des Ekels und der Empörung über die Lüge zuletzt auch die eigenen Energien erschöpft und verbraucht.

Seine Gedanken finden meist nur im Kleinen zu überzeugender Form.

Hinzu kommt, dass seine Gedanken meist nur auf kleinem Raum zu einer überzeugenden Form finden, die Formung im größeren Maßstab gelang ihm nur selten. So schwankt der Leser zwischen Bewunderung und Gereiztheit über eine moralische Empfindlichkeit, die sich fast wahllos an allen möglichen Gegenständen abarbeitet, und ihre intellektuelle Erregung unablässig am großen Wörterbuch der Gemeinplätze und der cloaca maxima der Presse nährt. So wurde Kraus zum »Fürsten der Querulanten«, wie ihn Walter Benjamin genannt hat. Sein Zorn war maßlos und besaß etwas Zermalmendes. Durch Sprache und Kritik machte er sich zum Herrn der Welt, und die Welt hatte ihm zu diesem Zweck dienstbar zu sein.

Die dritte Walpurgisnacht

Kraus starb 1936, drei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Er setzte seine quasi dokumentarische Erfassung der Wirklichkeit auch in diesen Jahren fort, als politischer Realist ohne den »Kinderglauben an das Wort«. Er schrieb die Dritte Walpurgisnacht und nannte sie »die umfassendste Beschreibung des Unbeschreiblichen, die je in einem Halbjahr auf einem Schreibtisch entstanden ist«. Sie beginnt mit dem berühmten Satz »Mir fällt zu Hitler nichts ein«. Er ist zuweilen anklagend gegen Kraus verwendet worden, obwohl das Buch nicht nur dem Zwang gehorcht, »über ein Versagen Rechenschaft zu geben«, sondern sich zu einer imponierenden Abrechnung mit dem Nazi-Regime erhebt. Kraus veröffentlichte das Buch nicht, aus Furcht es könnte als bloße Satire missverstanden werden. So erschien die Dritte Walpurgisnacht erst 1952, 16 Jahre nach dem Tod ihres Autors. Seine Analyse lotete tief und brachte Hitlers Drittes Reich, »das Leben des Staats, der Wirtschaft, der kulturellen Übung auf die einfachste Formel: die der Vernichtung…«

Wir wissen nicht, ob Kraus’ eschatologische Hoffnung mit dieser Prognose verbraucht war, widerlegt werden konnte sie nicht. Eine Wirklichkeit war an die Macht gelangt, der, nachdem es ihr gelungen war, das Wort in Gestalt der Lüge in eine gefährliche Waffe zu verwandeln, mit Worten nicht beizukommen war. Das Gedicht »Man frage nicht«, das Kraus im Oktober 1933 in der 888. Nummer der Fackel veröffentlichte, schloss mit der Zeile: »Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte«.

Das Karl Kraus Lesebuch (Hg. von Hans Wollschläger). Wallstein, Göttingen 2024, 440 S., 32 €.

Friedrich Pfäfflin (Hg.): Karl Kraus und Georg Jahoda. Der Satiriker und sein Drucker und Verleger. Wallstein, Göttingen 2023, 360 S., 42 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben