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Mit Grenzschließungen und Abschiebungen werden die offenen Fragen der Migration nicht beantwortet »Die Zahlen müssen runter«

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»Die Zahlen müssen runter.« Dieses Mantra adressiert seit nun über einem Jahr die anhaltend hohen Ankunftszahlen von Asylsuchenden in Deutschland und wird landauf, landab von beinahe allen politischen Akteur:innen angestimmt. Obgleich die EU-weite Einigung zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) vom Mai 2024 eine baldige Linderung der empfundenen Migrationsproblematik verspricht, überschlagen sich politische Akteur:innen – nicht nur in Deutschland – mit immer neuen Vorschlägen der Verschärfung und Reglementierung des Aufnahmesystems.
Die politischen Ideen, wie die Ankunftszahlen reduziert werden können, richten sich zunächst auf die Zugangswege in das deutsche Aufnahmesystem. Durch flächendeckende Grenzkontrollen soll die Zahl der Rückweisungen erhöht, das Schlepperwesen reduziert und mithin ein Signal der Abschreckung an Nachbarländer und in die Kommunikationskanäle von Migrant:innen gesendet werden: Wir machen dicht!

Besonders aufmerksam werden die Versuche des Vereinigten Königreichs und Italiens verfolgt, Asylverfahren im Alleingang zu externalisieren, indem ankommende Asylsuchende in Drittstaaten wie Albanien oder Ruanda verbracht werden, um dort das Asylverfahren durchzuführen und die (in den meisten Fällen erwartete) Abschiebung zu vollziehen, ohne dass die Betroffenen auf dem eigenen Territorium Ansprüche stellen können. Dass viele der erdachten Abwehrmaßnahmen nicht rechtskonform sind und konsequenterweise von nationalen oder europäischen Gerichten kassiert werden – geschenkt.

»Viele der erdachten Abwehrmaßnahmen sind nicht rechtskonform.«

Die Abwehrgedanken setzen sich im Inneren fort. Dazu gehört die Einführung der Bezahlkarte für Asylbewerber:innen, die die Handlungsspielräume der Betroffenen einschränkt, oder Diskussionen über eine komplette Streichung von Asylbewerberleistungen für Ausreisepflichtige. Diese Maßnahmen werden als Abschreckungseffekt verkauft, sind aber gleichzeitig ein Beruhigungsmittel für die erregte öffentliche Meinung. Dass Asylsuchende in aller Regel nichts drin­gender anstreben, als wieder auf eigenen Beinen zu stehen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, dass es gar in der Praxis zu wenige Arbeitsgelegenheiten gibt, die den häufig traumatisierten Neuankommenden Selbstwirksamkeit und Struktur zurückgeben könnten – geschenkt.

Ein drittes Aktionsfeld ist die Steigerung der Abschiebezahlen. Gerade dieses Aktionsfeld wird immer wieder befeuert durch grausame Verbrechen einzelner Asylsuchender, die häufig zu der Gruppe jener gehören, die nach einer Ablehnung ihres Schutzersuchens ausreisepflichtig sind. Eine genauere Beleuchtung von Täterbiografien wie jener des Gewalttäters von Aschaffenburg zeigt regelmäßig, dass existierende rechtliche Möglichkeiten nicht ausgeschöpft wurden, um Abschiebungen zu vollziehen. In dem politischen Bestreben, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, werden schließlich verstärkt jene abgeschoben, die greifbar sind: häufig unbescholtene Menschen, die einer Arbeit nachgehen und sich nachhaltig bemühen, innerhalb des komplizierten deutschen Aufenthaltsrechts ihre Existenz zu legalisieren.

»Den Preis werden jene zu zahlen haben, die in den Augen vieler potenziell zu der Gruppe der Unerwünschten gehören.«

All diese politischen Aktivitäten entspringen einerseits dem verständlichen Wunsch, in dem so schwierig zu steuernden Feld der »irregulären« Migration vor die Lage zu kommen, und andererseits dem verzweifelten Versuch, im Wettbewerb der Parteien das Thema Migration nicht dem äußersten rechten Rand zu überlassen, sondern Handlungsfähigkeit und Härte aus der Mitte des politischen Spektrums zu demonstrieren. Nachhaltige Prominenz ist in diesem Zusammenhang dem CDU-Entschließungsantrag – dem Fünf-Punkte-Plan des Friedrich Merz – sicher, der am 29. Januar 2025 im Bundestag erstmals eine Mehrheit rechts der demokratischen Mitte gesucht und gefunden hat. Die Skandalisierung von Migration, die sich durch dieses Papier zieht, zeigt nicht nur die stereotypen Vorstellungen seiner Verfasser, sondern befeuert und fördert die Ressentiments der migrationskritischen Bevölkerung. Den Preis werden zunächst jene zu zahlen haben, die in den Augen der Allgemeinheit potenziell zu der Gruppe der Unerwünschten gehören.

Die systematische Kriminalisierung von Menschen mit Schutzbedarf im politischen Diskurs erzeugt Resonanzwellen in der öffentlichen Meinungsbildung, die sich in einer rasant wachsenden Feindseligkeit gegen migrantisch gelesene Menschen äußert. Statistiken von Opferberatungsstellen zeigen, dass die Zahl rassistischer Gewalttaten 2023 im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel gestiegen ist! Zustimmungen zu Aussagen aus dem Spektrum gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (»Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen«, »Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden«) sind auf einem Allzeithoch. Zugleich können wir beobachten, dass die Migrationsthematik als Erklärungsfolie für beinahe alle sozial- und gesellschaftspolitischen Problembereiche herangezogen wird. Doch ist eine Fokussierung auf »Migration« auch die politische Lösung für die sichtlichen und spürbaren Baustellen unserer Lebenswelt?

Wir können dieser Fragestellung entlang eines weiteren prominenten Diskursfeldes nachgehen, das in unmittelbarem Zusammenhang mit der verspürten »Asylproblematik« steht und ein wesentliches Argument für die beschriebenen Initiativen der Externalisierung und Kontrolle liefert: der Überforderung der Kommunen. Denn es sind die Städte und Gemeinden, die für die Aufnahme von Asylsuchenden zuständig sind, während die Asylverfahren in der Hand des Bundes liegen. Die Aufgaben der Kommunen lassen sich nicht auf die Unterbringungsfrage reduzieren, sondern umfassen alle Etappen des Integrationsprozesses: angefangen bei der Organisation von Beratungsangeboten, der Einrichtung von schulischen Integrationsstrukturen für Kinder und Jugendliche bis hin zur Unterstützung beim Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt für erwachsene Geflüchtete.

»Signale der Überforderung drängen aus den Kommunen in den bundespolitischen Diskurs.«

Nach dem »langen Sommer der Migration« 2015 wurden entsprechende Infrastrukturen im ganzen Land auf- und ausgebaut. In den Folgejahren sanken die Zugangszahlen und Infrastrukturen wurden zurückgebaut. Die Coronapandemie 2020 bis 2022 reduzierte die Zugangszahlen weiter und sorgte durch die Fokussierung auf das Pandemiemanagement und die sozialen Distanzmaßnahmen für eine nachhaltige Schwächung der hauptamtlichen Infrastrukturen, wie auch des ehrenamtlichen Engagements. Auf diese geschwächte Basis trafen dann rasant steigende Zugangszahlen von Schutzsuchenden aus der Ukraine, verbunden mit erneut steigenden Asylzahlen ab 2022/23. Seither drängen Signale der Überforderung aus den Kommunen in den bundespolitischen Diskurs, allen voran im Bereich der Unterbringung, doch auch in allen nachgelagerten Bereichen des Integrationsmanagements. Und gerne werden auch diese Überforderungssignale pauschalisiert und die Suche nach Problemlösungen externalisiert. Denn Befragungen zeigen, dass die kommunalen Überforderungsanzeigen nicht überall im Lande gleich sind. Und fraglich ist, ob eine wie auch immer herbeigeführte Reduzierung der Asylzahlen die Probleme auf lokaler Ebene lösen kann.

Was zeigt die Forschung?

Zehn Jahre wissenschaftliche Begleitforschung zur Geflüchtetenaufnahme ermöglichen heute ein differenziertes Lagebild und die Ableitung von Handlungsempfehlungen. Diese richten sich zunächst auf die Lage in den Kommunen, wo wie durch ein Brennglas die Komplexität der Situation deutlich wird. Klar ist, dass sich viele Systemmängel der Aufnahmeinfrastruktur nicht auf die Schnelle abstellen lassen. Fehlende Unterbringungsmöglichkeiten etwa, vor allem nach dem Abschluss des Aufnahmeverfahrens, reflektieren die grundsätzlichen Probleme im Bereich des Wohnungsmarktes und des sozialen Wohnungsbaus. Schnelle Lösungen gibt es hier nicht. Sinnvoll und logisch erscheint jedoch, dass eine rasche »Entlassung« von Geflüchteten aus dem Aufnahmesystem die Unterbringungsprobleme reduzieren kann.

Als Vergleichsfolie sollten die beträchtlichen Zahlen von Arbeitsmigrant:innen dienen, die jedes Jahr in die Bundesrepublik einreisen und auf eigene Faust eine Wohnung finden, manchmal auch mit Unterstützung ihrer zukünftigen Arbeitgeber. Flexibilisierung sollte überall dort hilfreich sein, wo Integrationswege von Geflüchteten durch systemische Schwerfälligkeit gebremst werden – sei es bei der Bewegungsfreiheit im Bereich der Wohnsitznahme, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, bei der Anerkennung beruflicher Kenntnisse oder beim Nachweis von Sprachzertifikaten. Grundsätzlich sollte der Schwerpunkt des politischen Handelns stets beim Ermöglichen liegen, nicht beim Verhindern, und dabei sollte die Handlungsmacht von Geflüchteten konsequent mitgedacht und unterstützt werden.

»Lösungsmöglichkeiten lassen sich auch durch besseres Ineinandergreifen der politischen Handlungsebenen finden.«

Im öffentlichen und politischen Diskurs wäre zu wünschen, man würde sich an den Best-Practice-Beispielen abarbeiten, aus denen sich eine Menge lernen lässt, anstatt sich durch die Fokussierung auf Bad Practice der Unmöglichkeit der Aufgabenbewältigung zu vergewissern. Dabei würde sich zeigen, dass Problem­artikulationen auf lokaler Ebene, aber auch das Spek­trum lokaler Ressourcen sehr unterschiedlich sind und daher auch viele verschiedene Lösungswege parallel zueinander existieren. Zweitens würde sich zeigen, dass sich Lösungsmöglichkeiten auch durch ein besseres Ineinandergreifen der politischen Handlungsebenen finden lassen, denn häufig arbeiten diese nicht mit- sondern gegeneinander, was Frustration bei jenen erzeugt, die die Integrationsarbeit vor Ort leisten. Grenzschließungen helfen da nicht! Vielmehr ist eine konsequente und nachhaltige Unterstützung der kommunalen Ankommens- und Integrationsinfrastrukturen geboten, und es müssen dafür politische Mehrheiten gefunden werden.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass sich eine Menge auf dem Feld der humanitären Migration ändern muss. Handlungsmacht haben Akteur:innen in Deutschland vor allem dort, wo es um Integration und Teilhabe von Schutzsuchenden geht. Diese Handlungsmacht sollte konsequent und konstruktiv ausgeübt werden. Wenn es jedoch um die Externalisierungsdimension geht und damit um den verständlichen Wunsch, eine Reduzierung der Ankunftszahlen als Pro­blemlösung anzubieten, so sollte klar sein, dass dies nur innerhalb des gemeinsamen Konstrukts des Europäischen Asylsystems und damit im Zusammenspiel aller EU-Mitgliedstaaten funktionieren wird. Politische Energie, die sich auf ein solidarisches Zusammenwirken innerhalb der EU sowie zwischen der EU und anderen internationalen Akteur:innen konzentriert, ist gut investierte Energie. Denn den weltweiten Fluchtbewegungen und irregulären Migrationen, hervorgerufen durch eine historisch zementierte globale soziale Ungleichheit und verstärkt durch Kriege und Klimakatastrophen, kann nur durch eine gemeinsame internationale Anstrengung begegnet werden.

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