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Über die Zukunft der Bibliotheken Digital first?

Im November 2016 erklärte die Deutsche Nationalbibliothek mit Sitz in Frankfurt am Main und Leipzig, dass zukünftig die von Nutzern angeforderten Medien nur mehr als Digitalisate ausgegeben werden, sofern sie schon als solche vorlägen. »Digital first« sollte die Devise lauten. Begründet wurde die Änderung damit, dass der Bibliothek vorrangig Archivierungsaufgaben oblägen, sie keine Leihbibliothek sei. »Erhalt des Originals und des ursprünglichen Nutzungserlebnisses« nennt die Bibliothek das in ihrer Publikation Strategische Prioritäten 2017 bis 2020. Wer Bücher leihen wolle, so die Begründung zur Umstellung der Ausleihmodalitäten sinngemäß weiter, könne auf Universitätsbibliotheken oder entsprechende städtische Einrichtungen zurückgreifen. Durch mehrere Zeitungsartikel, allen voran den Artikel »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« von Thomas Thiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. November 2016, und womöglich auch durch den anhaltenden Protest einiger Nutzer der Bibliothek, die sich wochenlang jeden Samstagmittag vor der Bibliothek zusammenfanden, um gegen die Neuregelung zu protestieren und zu erwirken, dass Bücher und Digitalisate in der Ausleihe gleichwertig zur Verfügung gestellt werden, erklärte die Deutsche Nationalbibliothek Ende Februar, man werde die Regelung zum April 2017 vorerst wieder aufheben.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Bücher, werden sie gelesen, auch darunter leiden. Man könnte aber ebenso sagen, dass es zum Buch dazugehört, gelesen zu werden, dass es nur dann auch lebt. Nicht von der Hand zu weisen ist weiterhin zwar, dass Verlage angesichts des wachsenden Drucks auf den Buchmarkt und hoher Lagerkosten viele Titel nicht mehr in ihre Backlist aufnehmen, und dass Bibliotheken, die schadhafte Bücher austauschen wollen, größere Probleme bei der Neubeschaffung haben. Dennoch werden in der Deutschen Nationalbibliothek wahrscheinlich eher selten Bestseller gelesen, handelt es sich doch um eine Präsenzbibliothek. Nicht von der Hand zu weisen ist auch, dass es immer wieder Nutzer gibt, die den Büchern mutwillig schaden, es muss ja nicht gleich ein Bücherfresser wie der aus der Bibliothek des Trinity College in Dublin sein, wie ihn der Lyriker Jan Wagner in seiner Rede anlässlich des Neujahrsempfangs der Berliner Staatsbibliotheken am 29. Januar 2013 beschrieben hat. Dies ist ein Mensch, der »auf radikalste Weise jene Metapher in die Tat umsetzte, die uns allen, die wir Bücher lieben, die wir von und mit Büchern leben, nicht fremd ist: Las er doch die Bücher nicht, er verschlang sie.« Dennoch: Seit 15 Jahren selbst regelmäßige Nutzerin der Bibliothek, habe ich noch kein einziges Buch in Händen gehalten, das Spuren von Vandalismus zeigte (und es waren viele, die ich in den Lesesaal bestellt habe).

Konservatorische Einwände und Misstrauen gegen ungezogene und rücksichtslose Nutzer also in allen Ehren – die Vorstellung einer Bibliothek, in der die Nutzer nur mehr vor Bildschirmen sitzen und in PDFs lesen, während in den Archiven und Katakomben die schützenswerten Bücher leise verstauben, mutet einigermaßen seltsam an – man konnte in der Frankfurter Deutschen Nationalbibliothek nach der Änderung einen Eindruck davon gewinnen. Plötzlich war es eigenartig leer an der Ausleihe, viele Nutzer starrten in Bildschirme wie im ICE. Die Annäherung an eine Person über deren Lektüren (denn Bibliotheken sind ja bei aller geistigen Anstrengung, die dort unternommen wird, bei allem heiligen Ernst auch Orte der Kommunikation und Öffentlichkeit), wie Peter Stamm sie in seinem Roman Agnes beschreibt, war oder wäre in einer Bibliothek, in der das physische Objekt Buch immer mehr verschwindet oder verschwunden ist, kaum mehr denkbar: »Ich saß in der Public Library und studierte alte Bände der Chicago Tribune, als ich Agnes zum ersten Mal sah. (…) Vor sich auf den Tisch legte sie einige Bücher, zwei oder drei Stifte (…) Ich versuchte, die Titel der Bücher zu entziffern, die sie mitgebracht hatte. Sie schien es zu bemerken und zog den Stapel mit einer leichten Drehung gegen sich.«

Bibliotheken in zeitgenössischem Design

Wie aber sollen Bibliotheken der Zukunft aussehen? Über diese Frage wurde im Februar 2017 in der Münchner Stadtbücherei im Rahmen des Symposions »Public« diskutiert. Um Bibliotheken auch in Zukunft als Treffpunkte und Aufenthaltsorte einzurichten, als Gegenpol zur fortschreitenden Kommerzialisierung des öffentlichen Raumes, wurden zunächst diverse Bibliotheksneubauten von ihren Architekten vorgestellt, darunter die neue Stuttgarter Stadtbücherei von Eun Young Yi, die Bibliothek von Birmingham, die Francine Houben vom Büro Mecanoo erläuterte, und die zwischen 1989 und 2002 errichtete Bibliotheca Alexandrina, mit der das damals noch junge und unbekannte Büro Snøhetta schlagartig berühmt wurde. Schon an dieser Stelle wurde deutlich, wie sehr architektonische Zugangsweisen auch mit einer bestimmten Auffassung der Bibliotheksnutzer verbunden sind. Während Eun Young Yi, Schüler von Oswald Mathias Ungers, die Auffassung vertrat, ein Architekt sei gut beraten, seine Expertise nicht partizipatorischen Verfahren zu unterwerfen, standen Francine Houben und Patrick Lüth klar dafür ein, die Nutzer an baulichen Entscheidungen zu beteiligen.

Wer nun aber meint, dass diese Auffassung zu erwartbaren Ergebnissen in dem Sinne führen würde, dass eine auf partizipatorischen Grundlagen errichtete Bibliothek automatisch die bessere sei, täuschte sich. Stuttgarts neue Bibliothek, die durchaus mit hermetischen Zügen, was Äußeres und Inneres betrifft, aufwartet, wird von ihren Nutzern geradezu begeistert angenommen, wie deren Direktorin Christine Brunner berichtet. Der strenge Kubus mit der großen Innenhalle mache Lust auf Lektüren und Besuche, in diesem Haus könne man öffentlich sein, ohne sich öffentlich zu präsentieren.

Wie sehr sich Nutzer mit einem gut durchdachten und partizipative Elemente einbeziehenden Bibliotheksbau arrangieren, zeigte sich, wie Patrick Lüth von Snøhetta schilderte, an der Bibliotheca Alexandrina, deren Nutzer während des Arabischen Frühlings mit Menschenketten den Bau vor Vandalismus beschützten. Auch Francine Houben konnte aus Birmingham begeisterte Stimmen zitieren, unter anderem ein kleines Mädchen, das enthusiastisch davon sprach, sich in der Bibliothek wie zu Hause zu fühlen. In vielerlei Fragen war man sich in München nicht einig, in einer aber doch: »Was mit Medien zu machen«, sei als Ziel zu wenig, ein Ort für Bücher solle die Bibliothek auch bleiben.

Der Zauber der Haptik

Dass mit den Büchern auch ein Stück Kulturgeschichte und kulturelle Praxis verbunden sind, dass sich das Leseverhalten der jüngeren Generationen ändert, ist unbestritten. Die technischen Möglichkeiten nehmen zu, der Siegeszug des Digitalen ist nicht aufzuhalten. Und dennoch, so scheint mir, hat der Umgang mit dem physischen Produkt Buch bei aller Durchsuchbarkeit von Dateien einen entscheidenden Vorteil, den zu explizieren es eines weiteren Exkurses in die Kulturgeschichte bedarf, zur Beschreibung der sogenannten Loci-Methode. Simonides von Keos, der etwa 500 Jahre vor Christus lebte, gilt als ihr Begründer. Besagte Methode ermöglicht es, gespeicherte Informationen geordnet wiederzugeben und leichter abzurufen, indem sie Wahrnehmungen oder Informationen an einen bestimmten Raum koppelt, sie mit einem Raum verknüpft. Überliefert wird, dass Simonides, der bei einer Feier des Skopas dessen Haus kurzzeitig verlassen hatte, nach dem plötzlichen Einsturz bei seiner Rückkehr als einziger Überlebender die zermalmten Toten deshalb identifizieren konnte, weil er sich vorher genau eingeprägt hatte, an welchen Stellen im Raum sich die Gäste aufgehalten hatten. Wie das Erinnern mit einem Verknüpfen mit räumlichen Gegebenheiten zusammenhängt, mag auch derjenige nachvollziehen, der sich auf der Suche nach einem bestimmten Zitat in einem Buch oft daran erinnert, ob das Zitat nun im vorderen, mittleren oder hinteren Teil des Buches steht, ob oben links oder etwa unten rechts auf der Seite. Mit einem digitalen Lesegerät wird sich diese Lokalisierung weniger leicht vornehmen lassen, da man hier nicht mehr mit einem Text in einem physischen Buchblock zu tun hat. Er ist dem virtuellen »Buchblock« gewichen und es macht nun lediglich noch einen Unterschied, ob ein Zitat eher oben oder eher unten auf der Seite steht, in welchem Teil des Buches aber, das lässt sich nicht mehr räumlich speichern. Das Lesen ist hier ein anderes, das sinnliche Erleben und damit das Erinnern verändern sich.

Ein Exkurs zu Walter Benjamins »Ich packe meine Bibliothek aus«, spricht ebenfalls für den Zauber des physischen Buches. Auch in diesem Text wird die enge Verbindung von Buch und Inhalt, die intensive Bindung eines Buchbesitzers an eine ganz bestimmte Ausgabe eines Textes deutlich: »Am Herzen liegt mir, ihnen einen Einblick in das Verhältnis eines Sammlers zu seinen Beständen (…) zu geben. Es ist ganz willkürlich, dass ich das an Hand einer Betrachtung über die verschiedenen Erwerbungsarten von Büchern tue. Solche Anordnung oder jede andere ist nur ein Damm gegen die Springflut von Erinnerungen, die gegen jeden Sammler anrollt, der sich mit dem seinen befaßt. Jede Leidenschaft grenzt ja ans Chaos, die sammlerische aber an das der Erinnerungen.«

Bei Benjamin wird eine andere Art von Erinnerung angesprochen, keine willentliche (wie bei Simonides), sondern eine, die an Zufall, Erwerbungsgeschichten bestimmter Bücher, an das »dialektisch gespannte Dasein des Sammlers zwischen den Polen der Ordnung und der Unordnung« gekoppelt ist. Die Bibliothek als »Gehäuse« dessen »Baustein« die Bücher sind. Als unbestreitbar darf jedoch die Koppelung von Erinnertem an Physisches gelten, unzweifelhaft speichert der Raum etwas in seiner Dimensionalität und seinem geheimen Potenzial, der den Blick leitet, fixiert, den Gedächtnisspeicher stimuliert und aktiviert.

Konstatiert werden soll, dass Bibliotheken als demokratische Orte, als Orte, die »von Steuergeldern getragen werden«, wie ein Besucher der Münchner Tagung formulierte, als Agora, als Orte der Wissensakkumulation, -sedimentation und als Orte der Kommunikation vor großen Herausforderungen stehen. Wenngleich sie gezwungen sind, ihre Aufgaben in der Diversifikation einer sich ständig im Wandel befindlichen Öffentlichkeit und auch im Zeichen des digitalen Wandels, möglichst breit zu erfüllen, ist es doch mehr als schiere Nostalgie, wenn hier ein Plädoyer für das Buch als konstitutiver Bestandteil von Bibliotheken ausgesprochen werden soll. Jeder mit Digitalisierungsprojekten Befasste kennt die Tücken der Speicherung des Digitalen: Eben ließ sich die Datei noch öffnen, plötzlich ist ein »unbekannter Fehler« aufgetreten. Das Buch, so anfällig es gegen Staub, Wasser, Fraß, Vandalismus und Übersäuerung auch sein mag, wird seinen Text weniger rasch in sich verschließen. Streitschriften wie das soeben im Verbrecher Verlag erschienene Bibliodiversität. Manifest für unabhängiges Publizieren von Susan Hawthorne oder der Band von Roland Reuß Ende der Hypnose. Vom Netz und zum Buch (Stroemfeld/Roter Stern, 2012) vertiefen systematischer die hier eher assoziativ dargestellten Beobachtungen.

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