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Die SPD muss die Verteilungsfrage neu entdecken Dilemma einer halbierten Volkspartei

1983 verkündete der liberale Vordenker Ralf Dahrendorf das »Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts«. Der Grund sei, dass die Sozialdemokratie ihre historische Mission erfüllt habe. Der Kapitalismus sei gezähmt, der Sozialstaat umfassend aufgebaut, Wachstum, Arbeit, Vernunft, Staat und Internationalismus fest etabliert. Das Programm sei zwar noch attraktiv, aber irgendwie seien wir alle längst Sozialdemokraten geworden: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen«. Keiner dieser Gründe kann 35 Jahre später Gültigkeit beanspruchen. Im Gegenteil. Aber dennoch bewahrheitete sich Dahrendorfs Prognose des Niedergangs in der Wahlarena mit empirischer Wucht.

1983 vertraten die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas noch 33 % der westeuropäischen Wählerschaft, die SPD erzielte 38,2 %. Noch 1998, als die SPD mit 40,9 % nach bitteren 16 Oppositionsjahren wieder Regierungsverantwortung übernahm, erreichten die westeuropäischen Sozialdemokraten noch immer einen Stimmenanteil von rund 33 %. Danach folgte der Absturz. Die SPD verlor in den folgenden zwei Jahrzehnten die Hälfte ihrer Wählerschaft. Im westeuropäischen Durchschnitt kam die Sozialdemokratie nur noch auf magere 18 % (2017). In den Niederlanden, in Frankreich oder Griechenland kollabierten die sozialdemokratischen Parteien. In Osteuropa ist die Lage dramatisch. Hatte Dahrendorf also doch recht? Tatsache ist, dass die Sozialdemokratie selbst zutiefst beunruhigt ist, es auf jeden Fall sein sollte. Das gilt auch in hohem Maße für die SPD.

Die neue Macht der großen Unternehmen ist größer denn je; der Staat ist gegenüber den deregulierten Märkten und ihren globalen Spielern geschwächt und die Arbeiter sind in Scharen zur Union, der Linkspartei und den Rechtspopulisten übergelaufen. Die unteren Schichten haben sich zudem fast ganz aus der politischen Beteiligung verabschiedet. Es sind allerdings nicht Dahrendorfs Gründe, die der SPD zu schaffen machen, sondern der politische Raum für die Sozialdemokratie ist geschrumpft. Zum Teil hat dies nur schwer zu beeinflussende strukturelle Gründe; zu einem anderen Teil aber tragen die Sozialdemokraten selbst Schuld an der gegenwärtigen Misere. Es ist eben nicht der Erfolg, sondern der Misserfolg sozialdemokratischer Regierungspolitik. Die Unterschichten wurden vom Gesamtwachstum abgehängt, das verbindende Band zwischen den Klassen und Milieus wurde weder verteilungspolitisch noch kulturell erneuert. Einerseits sind der Sozialdemokratie die Wähler aus allen Milieus weggelaufen. Andererseits ist ihre historische Mission, den Kapitalismus zu zähmen, aktueller denn je.

Der sozialdemokratische Raum

Ein politischer Raum wird durch Konfliktachsen und die Parteien definiert, die in diesem Raum miteinander um die Gunst der Wähler kämpfen. Da ist zunächst die traditionelle Links-Rechts-Achse, bei der es um Fragen der Umverteilung durch den Staat, vor allem um Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik geht. Sie spielt bei den Wählerpräferenzen noch immer eine größere Rolle als es im politischen Diskurs häufig angenommen wird. In dem Maße, in dem sozialdemokratisch-keynesianische Konzepte an Bedeutung verloren, weil sich die politischen Kräfteverhältnisse veränderten, die Wirtschaftswissenschaften und maßgeblichen Regierungen sich einem neoliberalen Paradigma zuwandten, ist auch die SPD in klassischen Wirtschafts- und Verteilungsfragen weit in die Mitte gerückt. Damit räumte sie Positionen, die es der Partei DIE LINKE erlaubte, sich dort als gesamtdeutsche Partei zu etablieren. Zur Rechten begrenzte die Merkel-CDU mit ihrer Wende in der Geschlechter-, Familien- und Gesellschaftspolitik sowie wahlopportunistischen Zugeständnissen in Wirtschafts- und Sozialfragen den Wahlerfolg der SPD unter den Mitte-Wählern. Die SPD-Führung hatte die Rechnung ohne die demoskopisch kalkulierende Wirtin im Kanzleramt gemacht.

Seit ungefähr drei Jahrzehnten entwickelt sich in Europa eine neue kulturelle Konfliktlinie. Sie überlagert die traditionelle Links-Rechts-Achse. Sie trennt autoritär eingestellte untere (Bildungs-)Schichten von liberal eingestellten höheren Schichten. Erstere fühlen sich von den Kosmopoliten und ihren neuen Diskurs- und Moralregeln, die ihren eigenen Lebenswelten fremd sind, bevormundet. Letzteren sind die liberalen Freiheitsrechte, multikulturelle Einstellungen und die eigene Selbstverwirklichung zur progressiven Heimat geworden. Es sind nicht zuletzt jene Mittelschichten und ihre Kinder, die die SPD nach 1968 für sich gewann. Diese zeigen sich heute im kosmopolitischen Gewand und treten in moralischer Gestik für offene Grenzen ein, ohne die materiellen Folgelasten auf dem Arbeits-, Wohnungs- oder Bildungsmarkt selbst tragen zu müssen. Die Verteilungspolitik wurde zum Teil durch Moralpolitik ersetzt. Es ging dann um wahr oder unwahr, gut oder böse – und nicht mehr um mehr oder weniger, Ausbeutung oder Nicht-Ausbeutung oder die antagonistische Differenz zwischen Arbeits- und Kapitalinteressen.

Unter den kulturell progressiven, aber umverteilungsabgeneigten Schichten sind mittlerweile DIE GRÜNEN deutlich erfolgreicher als die Sozialdemokraten. Der verstärkt postmaterialistisch-kosmopolitische Diskurs innerhalb der SPD hat daran nichts geändert. Zusätzlich begrenzt nun auch noch die AfD den Mobilisierungsraum der Sozialdemokratie. Für den Rechtspopulismus erwiesen sich jene Wählergruppen als anfällig, die kulturell autoritäre Neigungen sowie Abstiegsängste haben, die nationale Identität der Multikulturalität vorziehen, die Immigration begrenzen wollen, der europäischen Integration eher skeptisch gegenüberstehen sowie solche, die sich durch kulturelle Vorgaben der kosmopolitischen Eliten in ihrem Erfahrungsraum herabgesetzt und domestiziert fühlen.

Sozioökonomisch nach links und kulturalistisch in die Mitte

Die sozioökonomische und die kulturelle Konfliktlinie erzeugen einen Mehrfrontenwettbewerb für die SPD, die diesbezüglich in einem Dilemma steckt. Rückt sie in sozioökonomischen Fragen zu weit nach rechts, erntet DIE LINKE die Stimmen enttäuschter SPD-Wähler. Rückt die SPD stärker in den linken Raum, verliert sie bürgerliche Wähler in der Mitte an die Merkel-CDU. Berücksichtigt die SPD umweltpolitische Belange zu wenig, stehen DIE GRÜNEN bereit, den ökologischen SPD-Wählern eine neue politische Heimat zu bieten. Folgt sie den kosmopolitischen Neigungen ihrer besser verdienenden Mittelschichten und plädiert für offene Grenzen in der Immigrationsfrage, verliert sie unter den traditionellen Arbeitern und vielfach sogenannten »kleinen Leuten«. Die AfD ist schon längst zum Auffangbecken dieser Enttäuschten geworden, die sich in den Diskursen der SPD-Kosmopoliten nicht mehr zu erkennen vermögen.

In sozioökonomischen Fragen ist die SPD dennoch zu weit nach rechts gerückt, in Identitätsfragen zu sehr eine Partei der bessergestellten Kosmopoliten geworden. Es ist diese Mischung aus externen Restriktionen und selbst verschuldetem Profilverlust im politischen Raum, die die SPD auf eine halbierte Volkspartei schrumpfen ließ, der gerade die Arbeiterschaft und damit auch Teile der Mittelschicht abhandengekommen ist.

Die SPD galt bis in die 50er Jahre als klassische Arbeiterpartei. Angesichts einer sich rasant ausdifferenzierenden Gesellschaft glich diese Heimat einem Turm, der ihre Mehrheitsfähigkeit verhinderte. Den Turm hat die SPD nach 1959 verlassen und hat es nach 1968 zu beachtlichen Wahlerfolgen unter Arbeitern und modernen Mittelschichten gebracht. Heute hat sie in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen eine gleich schwache Präsenz. Nirgendwo dominiert und prägt sie.

Was tun?

Zur Einordnung Folgendes: Mit Blick auf die kommenden Wahlen geht die größte Herausforderung für die SPD nach wie vor von den Unionsparteien aus. Denn die Bürger/innen haben Schwierigkeiten, die Unterschiede zwischen den beiden Parteien hinreichend zu erkennen. Dabei liegt neben allen inhaltlichen Differenzen, die häufig nur den Feinschmeckern der Politikbeobachtung bewusst sind, eine entscheidende in der Art des politischen Zugangs. Beide Parteien haben über Jahrzehnte große Verdienste bei der Integration dieser Gesellschaft und der damit einhergehenden Konflikte, Zumutungen und Ausgleiche. Während die Unionsparteien in der Regel eher den Modus der passiven Ausgleichspartei verkörperten, womit sie konservative, hierarchische Rollenzuordnungen und monetäre Transferleistungen bevorzugten, repräsentierte die Sozialdemokratie den Modus des aktiven, emanzipationsorientierten Ausgleichs zugunsten der weniger Privilegierten der Gesellschaft. Gerade die faire Ausgestaltung der Arbeitswelt, aber auch die staatlich gestützte Eröffnung fairer Lebenschancen und die Ermöglichung sozialen Aufstiegs, waren Kern des sozialdemokratischen Programms. Will sich die Sozialdemokratie erneuern, muss sie diese aktive, emanzipationsorientierte Haltung profilierter und souveräner vertreten. Dies bedeutet aber auch, den Anspruch zu haben, eine an politischen Gegenwartsherausforderungen orientierte Realitätspartei souveräner Art zu sein, die zwischen den Klassenlagen und Milieus aktiv vermittelt und in diesem Sinne zwischen Staatsapparat und Zivilgesellschaft pendelt. Dies schließt Umverteilung ebenso ein, wie die Re-Regulierung von Arbeitsmärkten und die effektive Umsetzung des Mindestlohns, der im Übrigen um eine wirksame Strategie des Tarifvertrags ergänzt werden sollte. Die SPD muss ein verstärktes Interesse an den neuen sozialen Risiken entwickeln. Also an den gering Qualifizierten, den Alleinerziehenden, den Familien und denen, die jenseits der Erwerbsarbeit nach gesellschaftlichem Anschluss suchen. Dazu und zur Finanzierung des Gemeinwohls müssen die Reichen und Superreichen endlich einen größeren Anteil leisten. Sie waren die einseitigen Nutznießer von verfehlter Steuerpolitik, Privatisierung und Globalisierung. Es ist nur gerecht, wenn sie einen Teil an die Gesellschaft zurückgeben, die sie so reich werden ließ.

Wie kann die SPD verlorenes Terrain zurückerobern? Was Sigmar Gabriel 2009 in seiner Dresdner Rede ankündigte, dorthin zu gehen, wo es stinkt und kracht, wurde zu wenig eingelöst. Die politische Kärrnerarbeit in Berlin-Neukölln, Dortmund-Nord oder Duisburg-Marxloh hatte keine Verbindung zu den selbstreferenziellen kosmopolitischen Diskursen akademischer Kreise in der Bundeshauptstadt. Die Lebenswelten gleichen heute eher dem »Entweder-oder« als dem »Sowohl-als-auch«. Aber gerade das kritisch-solidarische Miteinander von werteorientierten Pragmatikern und politischen Visionären benötigt die SPD, um den politischen Raum neu zu strukturieren, zu besetzen und wieder auszudehnen.

Als Partei eines neuen Realismus, die kommunitaristische Arbeitermilieus und kosmopolitische Mittelschichten gleichermaßen berücksichtigt, die Alltagsarbeit und Visionen zusammendenkt – dafür wird die SPD gebraucht. Um ihrer eigenen Tradition in einer neuen Zukunft gerecht zu werden, bedarf sie eines substanzielleren Verhältnisses zu den Gewerkschaften. Dieses darf sich nicht in diplomatischen Beziehungen der Spitzenfunktionäre erschöpfen. Notwendig ist eine lebendige Kooperation auf der kommunalen Ebene und in den Betrieben, wo die Sozialdemokratie kaum mehr präsent ist.

Der Platz der SPD ist nicht die Zuschauertribüne. Die Idee eines Trainingslagers in der Opposition passt nicht zu den Regenerationsmöglichkeiten eines hochvernetzten politischen Systems, in dem eine Partei wie die SPD durch die Länder noch immer mitregiert. Für eine souveräne Partei, die sich als Gerechtigkeits- und Fortschrittspartei versteht, gehören Koalitions- wie Regierungsfähigkeit mit politischer Erneuerung zusammen.

Die SPD muss jene Themen stark machen, die den Menschen unter den Nägeln brennen: Rente, Mieten, Pflege, Gesundheit, Bildung, Investitionen und eine ebenso humanitäre wie sozialverträgliche Einwanderungspolitik. Es geht um die tatsächliche Bändigung des Kapitalismus, nicht um ein wohlfeiles abstraktes Projektpathos in der Opposition. Die Oppositionsrolle als links zu projektieren und Regierungsverantwortung als rechts zu diffamieren, entspricht eher der politischen Kultur von Studentenparlamenten als der Notwendigkeit, das größte Land Europas verantwortlich zu regieren.

Reicht das alles? Die große Zeit der Volksparteien ist vorbei. Weder die deutsche, die österreichische noch die skandinavische Sozialdemokratie werden an die glorreiche Vergangenheit der 60er und 70er Jahre anknüpfen können. Aber auch als 25 %- oder 30 %-Partei kann man die Gesellschaft fairer gestalten. In der Opposition lässt sich da wenig bewerkstelligen. Aber auch eine Regierungsbeteiligung alleine richtet es nicht. Die SPD muss macht- und wertebewusst auf Augenhöhe mit dem Koalitionspartner handeln. Konflikte sind da nicht zu vermeiden und linksliberale Identitätspolitik genügt nicht, auch wenn sie viel leichter durchzusetzen ist. Die Ehe für alle, Transgender-Toiletten und die Klimapolitik sind wichtige Politikfelder. Lebenschancen werden aber vor allem in den Kernbereichen sozialdemokratischer Politik verteilt: der Steuer-, Arbeitsmarkt-, Renten-, Gesundheits- und Bildungspolitik. Hier muss die Sozialdemokratie erneut Profil und Glaubwürdigkeit erwerben. Dies sind die unumgänglichen Mühen der sozialdemokratischen Ebene. Die Gipfel der Vereinigten Staaten von Europa können danach immer noch bestiegen werden.

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