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Georges-Arthur Goldschmidts Buch über seinen Bruder »Ein vom historischen Unglück zutiefst gezeichneter Mensch«

Der in Paris lebende Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt hat sein Leben in Literatur verwandelt. Sein Schreiben handelt von der Kindheit in Reinbek bei Hamburg. Zwei Söhne hat die gutsituierte, ursprünglich jüdische Familie, die zum Protestantismus konvertiert ist. 1938 muss er die Heimat verlassen – ohne die Eltern. Sie werden einander nicht wiedersehen. Die Mutter Katharina stirbt 1942, der Vater Arthur nach der Lagerhaft in Theresienstadt 1947. Als Gymnasiallehrer in Paris verdient Goldschmidt seinen Lebensunterhalt und beginnt erst relativ spät zu schreiben. Gleich in seinem ersten Roman Der Spiegeltag (1982) entwirft er ein Bild der eigenen qualvollen Geschichte: die frühe Flucht, die über ein Kinderheim in Savoyen schließlich nach Paris führt. Ein weiterer autobiografischer Roman, Ein Garten in Deutschland (1988), versammelt Erinnerungssplitter an die Kindheit, bis der Zug ihn und seinen Bruder fortbringt. Die Absonderung (1991) zeigt die Schrecken der Zeit im Kinderheim: Von Heimweh gequält, muss der junge Goldschmidt die Entdeckung durch die Gestapo fürchten und Demütigung und Vergewaltigung durch seine Mitschüler erleiden. 2001 legt er Über die Flüsse vor, seine Autobiografie. In einem Gespräch sagt er: »Ich bin unfähig, etwas zu schreiben, was außer mir steht. Ich möchte gerne etwas erfinden, kann es aber nicht, insofern bin ich kein richtiger Schriftsteller. Ich schreibe, weil die Kindheit in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat, dass ich um meine Kindheit und Jugend kreise wie in einem Strudel.« Nun erfasst Goldschmidt nach über 80 Jahren mit Der versperrte Weg schreibend die Geschichte seines Bruders.

Vier Jahre trennen die Brüder Goldschmidt, den 1924 geborenen Erich und Jürgen-Arthur, so sein Vorname vor der französisierenden Umbenennung, der 1928 zur Welt kommt. Denkbar unterschiedlich sind auch die Charaktere: der akkurate, verlässliche, lernbegierige Erich und der Unordnung stiftende und wilde Jürgen-Arthur. Oder schaffen die Umstände diese Gegensätzlichkeiten? Die Geburt des Jüngeren verändert das Leben des Älteren grundlegend: »Bisher war alles glatt, gleichmäßig, so wie erwartet. Vor ihm breitet sich der ganze Weg zum Gehen oder Laufen aus; jetzt war ihm der Weg versperrt. Die Welt war für ihn nun umgekippt, alles war bedroht vom Zugreifen oder Dazwischenfahren dieses anderen, der da unerwartet auftauchte.« Mit Stricknadeln will der Ältere dem Säugling die Augen ausstechen, was die Eltern knapp verhindern. Der »Stechversuch« wird zum häufig aufgerufenen Gesprächsstoff der Familie, führt zu permanent spürbarer Nervosität. Verlogen und heimtückisch, so schildert sich Georges-Arthur Goldschmidt in seinem Roman des Bruders selbst, schiebt der Jüngere alles auf Erich, der sich immer mehr in sich selbst zurückzieht.

Der Vater Arthur Goldschmidt ist Jurist. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verliert der Oberlandesgerichtsrat 1934 seine Arbeit. Um sie vor dem Nazi-Terror zu schützen, verschicken die Eltern die beiden Söhne 1938 erst zu Verwandten nach Italien, dann in die französischen Alpen. Das Exil wird ihrer beider Rettung, und doch ist die Fremdheit zwischen den Brüdern auch in dieser »Zwischenzeit« ungeheuer. »Es ist ein sonderbares Gefühl, so nahe aneinander gelebt zu haben und so wenig vom älteren Bruder zu wissen.« Den tief patriotischen Erich, der wie die anderen Deutschen sein will, verstört die antijüdische Ausgrenzung. Er verpanzert sich – und flüchtet in die militärische Aktion. Zunächst ist Erich Mitglied der Résistance und kämpft gegen ein Deutschland, das er doch liebt. Wie muss dem Bruder zumute gewesen sein, der die militärischen Erfolge der Deutschen bewunderte, die ihn zugleich aber entsetzten? Danach meldet er sich zur Fremdenlegion. Goldschmidt schildert den starken Zugehörigkeitswunsch. Gerade, als Erich sich für die Fremdenlegion entschieden hat, trifft der Einbürgerungsbrief ein. »Er war das einzige Instrument seines Unglücks.« Er kämpft in Algerien und Vietnam, besucht die Offiziersschule und bringt es zum Rang eines Majors. Wie muss der französische Offizier, der er geworden war, die Befreiung des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof im Elsass erlebt haben?

Dass Goldschmidt diesen späten, schmalen Roman über seinen Bruder vorlegt, geht auf die Frage seines Verlegers Thedel von Wallmoden zurück, was denn aus seinem Bruder geworden sei. Sie setzt bei ihm die Energie frei, von »Erich als dem Hauptschatten seines langen Lebens« zu schreiben: »Mein Bruder war vier, als ich zur Welt kam und durch mein Erscheinen auf dieser Welt habe ich sein Leben zerstört.« Nur selten hat Georges-Arthur Goldschmidt den Bruder später wiedergetroffen. Doch nun sucht er den 2011 Gestorbenen. Er durchstreift dessen Lebensweg mit hoher Empfindsamkeit und umkreist ihn mit Fragen. Auch wenn sie kaum etwas verbindet, ist der Bruder der Einzige, mit dem er ein Schicksal teilt. Wie konnte Erich denn überhaupt Festpunkte finden, wie konnte er denn teilnehmen an seinem eigenen Leben, das ihm doch entrissen wurde, wie verwinden, dass er nicht dazugehören sollte, dass ihm per Definitionem das Menschsein abgesprochen wurde, wo er sich doch keinesfalls als Jude empfand? »Er wusste es, er gehörte verboten und doch fühlte er nichts davon in sich.« So wird Erich sich selbst verhasst, weil ihm Zugehörigkeit verwehrt ist. Goldschmidt empfindet eine fortgesetzte, absichtliche Passivität des Bruders, als lebe dieser »unter allen Umständen«. Es kommt ihm vor, als sei dieser wie unbeteiligt durch sein Leben gegangen, ja, als habe er an sich selber vorbei gelebt, wie unbeteiligt.

Wie wird einer, was er ist? »Es geht hier darum, das Leben eines vom historischen Unglück zutiefst gezeichneten Menschen nachzuerzählen, der dank des französischen Widerstands, an dem er teilnahm, immerhin dem Entsetzen, den Razzien der Deutschen und der Deportation entkam.« Im Schreiben über den Bruder tastet Goldschmidt sich an eigene aufwühlende Erinnerungen heran. Er weiß: Über den Bruder schreiben heißt auch, über sich selbst zu schreiben. Es bedeutet, sich zu entblößen, Verständnislosigkeit und Fremdheit einzugestehen. Das Verfolgt- und Ausgegrenztsein verbindet ihn mit dem Bruder, und doch hat er einen ganz anderen Weg gefunden – den, sich mitzuteilen.

Georges-Arthur Goldschmidt: Der versperrte Weg. Roman des Bruders. Wallstein, Göttingen 2021, 111 S., 20 €.

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