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© picture alliance / dpa | Christophe Petit Tesson

Marcel Proust zum 150. Geburtstag »Ein wenig Zeit im Reinzustand«

Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gehört zu den vielbestaunten Kolossalwerken der Literatur im 20. Jahrhundert, dem Umfang nach gewaltig, der Substanz nach unerschöpflich, nach Stil und Schreibweise unvergleichlich subtil. Das siebenbändige Werk ist immer wieder mit dem Ulysses von James Joyce und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften verglichen worden, aber es ist in Wirklichkeit ein ganz für sich stehendes, singuläres Werk, vor allem durch die Kunst, die Realität durch ihre genaue Beschreibung gleichsam aufzulösen und sie gleichzeitig im Prozess der Erinnerung zurückzugewinnen.

Marcel Proust wurde 1871 in Paris geboren, er war der Sohn eines Medizinprofessors und in frühen Jahren, als Schüler des Lycée Condorcet, bereits asthmaleidend. Er kränkelte zeitlebens. Als er 20 Jahre alt war, publizierte er seine ersten literarischen Arbeiten: Essays und Erzählungen, wenig später einen Roman, ferner Übersetzungen des englischen Kunsthistorikers John Ruskin – dies alles literarische Aktivitäten, die in Deutschland vom Ruhm des späteren großen Werkes überlagert und verdrängt worden sind und erst allmählich, mit dem Erscheinen einer Proust-Gesamtausgabe, Aufmerksamkeit gefunden haben. Zu Unrecht gilt Proust als Autor eines Werks, obwohl die Recherche du temps perdu, die er 1907, im Alter von 36 Jahren konzipierte, die restlichen 15 Jahre seines Lebens in Anspruch nahm.

Der erste Band In Swanns Welt (Du coté de chez Swann) erschien 1913, als Privatdruck auf Kosten des Autors. Das Buch fand wenig Beachtung, und erst als Proust sechs Jahre später für den zweiten Band Im Schatten junger Mädchenblüte den Prix Goncourt, den angesehensten französischen Literaturpreis erhielt, wurde er einem breiteren Publikum bekannt. Das hatte auch mit Prousts Lebensweise zu tun. Der Schriftsteller, der in seiner frühen Zeit als brillanter Erzähler in der guten Gesellschaft geschätzt und umworben war, zog sich nach 1914 in seine Wohnung am Boulevard Haussmann und später in ein fast schalldichtes Zimmer in der Rue Hamelin zurück – die »asketische Zelle eines Mystikers der Kunst«, wie gesagt worden ist. Aber Proust war auch ein Märtyrer der Kunst, der schwerkrank einen Wettlauf mit der Zeit führte, um ihr sein großes Werk abzutrotzen. Die Krankheit, die ihn hemmte, half ihm zugleich: Sie lehrte ihn sehen, machte ihn zum Erinnerungsvirtuosen. Erst im Dämmerlicht seiner gegen die Welt abgeriegelten Stube begann die Welt für ihn zu leben; als Ausgeschlossener schuf er ein Kunstwerk für Ausgeschlossene, ein »Freudenbrevier für diejenigen, denen viele menschliche Freuden versagt sind«. Proust starb 1922. Mehr als ein Drittel der rund 4.500 Seiten des großen Romans erschien erst nach seinem Tod: der siebte und letzte Band erst fünf Jahre später, 1927.

Proust war wirtschaftlich unabhängig, was ihm die konsequente Entfaltung seines Talents ermöglichte. Daran mag es liegen, dass die Geldfrage und, im weiteren Sinn, die soziale Frage in seinem Werk keine oder nur eine höchst indirekte Rolle spielt. Das ist dem Verfasser gelegentlich zum Vorwurf gemacht worden, wie auch die Tatsache, dass er große Teile seines Zyklus in dem eigentlich langweiligen und überlebten Marionetten- und Lemurenreich des hohen Adels angesiedelt hat. Dies ist ebenso zutreffend wie der Kunst Prousts unangemessen. Gerade die Welt der Hocharistokratie bot ihm die Möglichkeit, wie unter einer Glasglocke zu arbeiten, die verrinnende Zeit im Akt der Erinnerung zu bannen. In diesem Sinn war er mehr ein Entzauberer als ein Verherrlicher der historischen Endzeitsituation, die er beschrieb.

Dass der Erzähler des Buches den gleichen Vornamen Marcel trägt wie der Autor, sollte nicht dazu verleiten, beide – bei aller Ähnlichkeit – miteinander zu verwechseln. Proust selber merkte dazu an: »Der Ich sagt, der ich aber nicht immer bin.« Auch das Wort »Kindheitserinnerungen« sollte nicht an einen autobiografischen Roman denken lassen noch gar die Vorstellung wecken, es handle sich um einen Roman, der in chronologischer Folge erzählt wird. Eigentliches Thema sind nicht irgendwelche linear und überschaubar ablaufenden Ereignisse, sondern das komplexe Nebeneinander verschiedener zeitlicher Ebenen – Kindheit und spätere Altersstufen – im Bewusstsein des Erzählers. Mit einer langen, von Erinnerungsmomenten durchsetzten Reflexion über die verschiedenen Stadien und Möglichkeiten des Einschlafens setzt das Buch ein, und diese Reflexion bringt Marcel zurück an die Orte seines früheren Lebens, so auch nach Combray, den Kindheitsort, wo er beim irisierenden Schein einer Laterna magica einschlafen musste. Sie sollte ihn beruhigen, weckte aber vor allem die Erinnerung an sagenhafte Helden und Begebenheiten. Und so stellen sich mit der einen Erinnerung nach und nach die anderen und immer weitere Erinnerungen ein.

Die unwillkürliche Erinnerung

Es gehört zu den Grundtatbeständen dieses Romans, dass wir die Wirklichkeit außer in der Erinnerung weder besitzen noch begreifen. Erinnerung als Beschwörung des im unmittelbaren Erleben noch in Dunkel gehüllten Augenblicks. Ein zentraler Begriff von Prousts Erzählkunst heißt mémoire involontaire, was sich unzulänglich mit »unwillkürliche Erinnerung« übersetzen lässt. Gemeint ist ein Erinnerungsvorgang, der das Bild des Vergangenen mit der Realität des unmittelbar Gegenwärtigen vereinigt, der der Erinnerung die Idee der realen Existenz des Erinnerten abgewinnt. Aus der Hingabe an die (seltenen) Augenblicke der mémoire involontaire ergab sich für Proust in einer langen Suche das Prinzip seiner recherche du temps perdu. Das Buch ist weder Autobiografie noch Fiktion, weder poésie noch mémoire – es ist, mit Prousts Ausdruck, poésie de la mémoire. Die »verlorene Zeit« ist nicht das beliebig verfügbare Vergangene. Die versunkenen Welten der Kindheit, die beiläufig registrierten Sinneseindrücke und Bilder, die sich mit der Zeit ablagern und das Leben jedes Menschen auf kaum durchschaubare Weise prägen, stehen als unbekannte Zeichen in jenem Buch, das sich im Innern eines jeden Menschen befindet. Das Lesen in diesem Buch stellt, mit Prousts Worten, »einen Schöpfungsakt dar, bei dem kein anderer uns ersetzen oder auch nur mit uns zusammenwirken kann«. Die Aufgabe des Schriftstellers sieht Proust darin, dies Buch, wie mühsam es auch immer ist, zu entziffern; es ist das einzige Buch, »dessen Zeichen die Wirklichkeit selbst in uns eindrückt oder eindruckt«.

Das berühmteste Beispiele für diese inneren Vorgänge findet sich bereits im ersten Band des Zyklus: die Entstehung der unwillkürlichen Erinnerung aus dem Geschmack eines in Lindenblütentee getauchten Gebäcks. Mit einem Mal ist sie da: die Erinnerung an die Sonntagmorgen der Kindheit, an denen Marcel das Zimmer seiner kranken Tante Léonie betrat und eben dies Gebäck kostete. Und noch andere Erinnerungen stellen sich unwillkürlich ein: an das graue Haus, den Garten, die Straßen und Menschen, an die Kirche. Ganz Combray und seine Umgebung steigen aus dem flachen Brunnen der Tasse Tee auf. Es sind Dinge, die der Erzähler nie bewusst wahrgenommen, sondern allenfalls unaufmerksam registriert hatte, die in den Tiefen seines Unbewussten versunken waren, unerreichbar für das bewusste Forschen des Intellekts. Aber mit dem Geruch und Geschmack des Tees und des Teegebäcks sind alle Einzelheiten in einem jähen Glücksgefühl wieder gegenwärtig: Tante Léonie, ihr Zimmer und das Dienstmädchen Françoise, das den kleinen Marcel zur Kirche begleiten soll. Proust hat die Passage in einem Brief an Antoine Bibesco vom November 1912, noch vor Erscheinen des ersten Bandes, mit den Worten kommentiert: »Das bewusste Gedächtnis, das vor allem ein Gedächtnis des Verstandes und der Augen ist, gibt uns von der Vergangenheit nur Oberflächenbilder ohne tieferen Wahrheitsgehalt wieder: ein unter ganz anderen Umständen wiedergefundener Duft hingegen, ein Geschmack, lassen in uns, ohne unser Zutun, die Vergangenheit wieder erstehen, wir fühlen, wie sehr diese Vergangenheit verschieden war von dem, woran wir uns zu erinnern glaubten und was unser bewusstes Gedächtnis so malte wie die schlechten Maler ihre Bilder: mit unechten Farben.« Eine Überschärfe der inneren Sicht zeichnet Prousts Roman aus; die Bildhaftigkeit seiner Sprache und sein Nuancenreichtum sind unvergleichlich.

Die wiedergefundene Zeit

Der Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ist der Versuch, die Gesamtheit einer ins Unterbewusste abgesunkenen Welt aus der Erinnerung wiederzufinden, mit aller Schärfe der Konturen und Leuchtkraft der Farben, in sinnlicher Unmittelbarkeit: »ein wenig Zeit im Reinzustand« (»un peu de temps à l’état pur«). Was am Ende des siebten Bandes mit diesen Worten verheißen wird, ist da als Roman längst Wirklichkeit geworden. Das Prinzip der unwillkürlichen Erinnerung sichert dem Buch seinen luftigen, gleichsam schwebenden Aggregatzustand, in den man sich träumerisch versenken kann unter völligem Ausschluss der äußeren Welt. Sobald sie den Lesenden aufstört, ist auch das innere Gleichgewicht eines Buches gefährdet, das zuweilen den Charakter eines Traums annimmt.

André Gide, zu Lebzeiten viel berühmter als Proust, bezeichnete es rückblickend als den größten Fehler seines Lebens, die Veröffentlichung des ersten Bandes der Recherche in seiner Zeitschrift Nouvelle Revue Française abgelehnt zu haben. Später bewunderte er Prousts Roman als »ein Werk langer Muße«: »Es macht den Eindruck, als ob jede Seite ihre vollkommene Erfüllung in sich selbst fände. Daher diese äußerste Langsamkeit, dieser Wunsch, nicht schneller zu gehen, diese dauernde Befriedigung.« Das heißt zugleich: Ein Leser muss sich für die Zeit der Lektüre dem Buch ganz ergeben und hingeben. »Die Forderung, Proust nicht mit anderen Büchern durcheinander zu lesen, ist absolut«, schrieb Jean Améry, »von diesem Kosmos führt kein bequemer Weg zu einem anderen, und wer Proust verlässt, sei es auch nur für Tage, um zwischendurch andere Lektüren zu pflegen, findet so leicht nicht zurück.«

Die sieben Bände des Zyklus bilden ein herrliches großes Gewebe mit zahllosen wunderbaren Einzelheiten, aber sie erschließen sich nur im Ganzen und vom Schluss des letzten Bandes mit dem Titel Die wiedergefundene Zeit. Der Autor hat die letzten Seiten des großen Werks unmittelbar nach dem Anfang geschrieben, was ein Zeichen ist für die innere Zusammengehörigkeit des Ganzen. So entstand eine großartige Romanarchitektur, über die Wolfgang Koeppen anerkennend urteilte, dass sie »wunderbar proportioniert und herrlich vermauert bis in die Wolken reicht«.

Kommentare (1)

  • Michael Feiner
    Michael Feiner
    am 06.10.2021
    1871, nicht 1881....;-)

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