Wie kein anderer deutscher Schriftsteller steht Günter Wallraff für investigative Aufklärung. Über 60 Jahre hinweg hat er gesellschaftliche Missstände aufgedeckt, unmenschliche Arbeitsbedingungen öffentlich gemacht, Mächtige in ihren Machenschaften gestört. Zunächst anonym, später mit dem Nimbus seines Namens, ist er nicht müde geworden, den Kampf mit den Reichen und Einflussreichen aufzunehmen, gipfelnd in seinem Kampf mit der Bild-Zeitung, den er Ende der 70er Jahre unter dem Namen Hans Esser führte.
Der mächtige Springer-Konzern entfesselte zunächst eine breit angelegte Kampagne gegen Wallraffs Enthüllungen und überzog ihn in den folgenden Jahren mit einstweiligen Verfügungen und Verbotsanträgen, bis das Bundesverfassungsgericht 1984 in einem Grundsatzurteil weitgehend zugunsten des Schriftstellers entschied. Damals war Wallraffs Ruhm bereits in alle Welt gedrungen, und »wallraffen« war in Skandinavien ein gebräuchliches Wort.
Kaum jemand hat im Journalismus und im Literaturbetrieb so viel bewegt wie dieser Autor, kaum jemand war allerdings auch so umstritten und angefochten wie er. Ihn schützte nicht die Aura der Kunst, er selbst erhob keinen Anspruch darauf – das gehörte zur Konsequenz seiner literarischen Arbeit. Lange Zeit durfte man ihn ungeniert diffamieren, und so konnte zeitweise der Eindruck entstehen, man habe es bei ihm mit einem hochgefährlichen Menschen zu tun: Nicht der jeweilige Missstand, sondern dessen Aufdeckung wurde offenbar als Skandal empfunden.
Als skandalös galt vor allem seine Methode, diese in der Tat ungewöhnlich soziologische Feldforschung, die bewusst mit der Verletzung von Spielregeln operierte. Dazu hat Eugen Kogon schon früh das Entscheidende gesagt: »Da es sich um illegale Maßnahmen reaktionärer Tendenz handelte, denen nachzugehen war, konnte keine ehrliche Frage um Aufklärung hinter die Lügenwand dringen. Nur der Anschein der Konspiration, der Zugehörigkeit zum Komplizentum ermöglichte, ein erstes Stück weit, Einblick. Es ist wie in Diktaturen: die Uniform allein erlaubt den Zutritt.«
Als Wallraff wegen »Amtsanmaßung« vor dem Frankfurter Schöffengericht angeklagt war, verteidigte er selbst sein Vorgehen mit den Worten: »Ich wählte das Amt des Mitwissers, um ein Stück weit hinter die Tarnwand von Verschleierung, Dementis und Lügen Einblick nehmen zu können. Die Methode, die ich wählte, war geringfügig im Verhältnis zu den rechtsbeugenden Maßnahmen und illegalen Erprobungen, die ich damit aufdeckte.«
Damit war nur die juristische und moralische Komponente seiner Arbeitsweise beschrieben. Es gab auch eine literarische, ohne die Wallraffs immense Wirkung nicht zu verstehen ist. Der Anfang lag auf einer sehr persönlichen Ebene, wo es um Überzeugungskraft und Mut geht: »Ich glaube überhaupt, manchmal müsste Kunst mit viel mehr Gefahr, vielleicht sogar Lebensgefahr verbunden sein...«, hat Wallraff gesagt. Diese beunruhigende Forderung lässt sich zwar nicht generalisieren, aber Wallraffs Arbeit war der unaufhörliche Versuch, ihr gerecht zu werden. Niemals war zweifelhaft, dass er hinter dem stand, was er tat und schrieb. Dazu passt seine Erklärung: »Ich will keine sogenannte Literatur machen.« Und an anderer Stelle: »Nicht Literatur als Kunst, sondern Wirklichkeit.«
Die Wahrheit ist konkret
Nüchtern und unverstellt beschrieb Wallraff in seinen frühen Industriereportagen die Arbeit am Fließband einer Autofabrik, in der Sinteranlage eines Stahlwerks, auf einer Schiffswerft, an der Bohrmaschine. Er übernahm schwere körperliche Arbeiten, um später darüber zu schreiben. Er hat seine Gegenstände niemals nur besichtigt, er hat sich ihnen ausgesetzt. Dazu musste er sich verkleiden und verstellen, in die Anonymität abtauchen, manchmal am Rande der Legalität.
Wir brauchen dich hieß seine erste Sammlung von Industriereportagen, die 1966 erschien. In einer dieser Reportagen mit dem Titel »Im Stahlrohrwerk« wird der erste Arbeitstag beschrieben: »Ich finde mich zur Spätschicht kurz vor 14 Uhr beim Pförtner ein und frage mich durch. Man stellt mich zu einem Ausländer an eine Maschine. Ich soll zusehen, wie's gemacht wird, soviel habe ich begriffen. Der Ausländer – ich glaube, es ist ein Spanier – versteht kein Wort Deutsch. Er bemüht sich rührend, mir die Handgriffe an der Maschine beizubringen. Nach vier Stunden bediene ich bereits selbst eine Maschine, die zuvor nicht in Betrieb war. Ich schneide Rohre. Auf Unfallgefahren hat mich keiner aufmerksam gemacht. Da soll ich nach und nach noch selbst dahinterkommen, manchmal haarscharf an einem Unfall vorbei. Ich gerate gleich am ersten Tag mit einer Hand in die sich mit rasender Geschwindigkeit drehende Patrone, als ich ein klemmendes Rohr nachschieben will.«
In Wallraffs frühen Industriereportagen wurde eine soziale Realität erkennbar, die für die meisten, die sich des privilegierenden Umgangs mit Literatur erfreuten, bis dahin hinter Fabriktoren und anderen undurchdringlichen Mauern verborgen lag. Wallraffs Wahrheit war konkret, und das authentische Material, das er ausbreitete, ließ keinen Anspruch auf falsche Allgemeinheit sichtbar werden, gemäß Brechts Satz: »Es verändert sich die Wirklichkeit. Um sie darzustellen, muß die Darstellungsart sich ändern.« Dazu hätten die frühen Jahre der westdeutschen Bundesrepublik zwar viel Gelegenheit geben können, aber die Energien waren vor allem darauf gerichtet, das sogenannte Wirtschaftswunder hervorzubringen.
Überdies hatte die Literatur der Arbeitswelt, sofern es sie überhaupt gab, mit äußeren Widerständen zu kämpfen. Max von der Grün, ihr wichtigster Repräsentant, konnte für seinen ersten Roman Männer in zweifacher Nacht, worin er seine Erfahrungen als Bergarbeiter und das Verschüttetsein unter Tage schilderte, lange Zeit keinen Verleger finden. Die literarischen Mittel dieser »Arbeiterliteratur« blieben konventionell und orientierten sich an traditionellen Vorbildern, denn die Verbindung zu den proletarischen Autoren der 20er Jahre war weitgehend abgeschnitten. In ihren Ausdrucks- und Darstellungsformen bestätigte diese Arbeiterliteratur eher jene Wirklichkeit, gegen die sie sich zur Wehr setzte.
Bruch mit der traditionellen Arbeiterliteratur
Erst bei Wallraff, 16 Jahre jünger als Max von der Grün, wurde Brechts Erkenntnis zur literarischen Praxis. Dabei spielt es keine Rolle, ob die neue Darstellungsart, die er fand, auf einem theoretischen Konzept beruhte oder nicht. Sie bedeutete jedenfalls einen Bruch mit der traditionellen Arbeiterliteratur. Die neue Dimension, die Wallraff in die Literatur einbrachte, bestand vor allem in der Veränderung der Subjekt-Objekt-Beziehung. Das gilt besonders für die frühen Reportagen. Wallraff hat seine Gegenstände niemals nur besichtigt, er hat sich ihnen unterworfen und sie als Unterworfener, als betroffener Zeuge geschildert. Diese Methode musste zwangsläufig desto stärker in eine Krise geraten, je stärker Wallraff als Person Publizität bekam. Es konnte nicht ausbleiben, dass er selber, als Träger einer Rolle, seiner Rolle, in den Mittelpunkt seiner Reportagen und spektakulären Aktionen geriet.
Mit der Aktion auf dem Athener Syntagma-Platz, als er sich 1974 während der Diktatur der Obristen wie ein neuer Prometheus an einen Lichtmast ankettete und Flugblätter verteilte, war dieser problematische Punkt erreicht. Der Grafiker Klaus Staeck überhöhte die Aktion auf einem Plakat mit dem Titel »Die Kunst der 70er Jahre findet nicht im Saale statt«. Das war insofern problematisch, als es die Schlussfolgerung nahelegte, es gäbe nur diesen, nur Wallraffs Weg zur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit.
Drei Jahre später gelang es Wallraff, unter dem Namen Hans Esser einige Monate als Redakteur bei der Bild-Zeitung in Hannover Unterschlupf zu finden und dem Blatt nach seiner unfreiwilligen Enttarnung schwere journalistische Versäumnisse und unsaubere Recherchemethoden nachzuweisen. Der große Coup mehrte seinen Ruhm, konnte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein noch unfertiges Buch unter dem Titel Der Aufmacher allzu rasch auf den Markt geworfen wurde.
Wallraffs Integrität und Regenerationskraft war daran zu erkennen, dass er die Krise überwand. Zwei Jahre arbeitete er anonym als türkischer Gastarbeiter unter dem Namen Ali Levent Sinirlioğlu bei verschiedenen Unternehmen, unter anderem bei McDonald’s und Thyssen. Mit dem Buch Ganz unten, das über fünf Millionen Mal verkauft wurde, knüpfte er noch einmal an seine frühen Industriereportagen an.
Im Vorwort schrieb er: »Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden. Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann. Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer ›Demokratie‹. Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.«
Undercover als Markenzeichen
Mit Ganz unten war aber auch ein Wendepunkt erreicht. Aus dem simplen Grund, dass er jetzt zu bekannt war, konnte Wallraff nicht länger als anonymer Zeuge auftreten. Immer häufiger musste er von nun an die Hilfe anderer in Anspruch nehmen, um Steuerspartricks oder die Verletzung elementarer Arbeitsschutzregeln aufzudecken. Und immer häufiger beschäftigte er seit Mitte der 80er Jahre Co-Autoren, um jene elementaren Realitäten ans Licht zu bringen, die das öffentliche Bewusstsein ausspart und aussperrt.
Manche Unternehmungen waren spektakulär, wie seine Reise durch israelische Kibbuzim, nachdem Saddam Hussein Israel mit Krieg gedroht hatte, oder das kurzzeitige Asyl, das er Salman Rushdie gewährte, nachdem dieser von der Fatwa bedroht war. Wallraff widerstand auch nicht der Versuchung, sich öffentlich zu inszenieren. Als Ausdauersportler bewältigte er die Marathonstrecke in weniger als drei Stunden und befuhr auf dem Hochseekajak den Atlantik.
Als er 70 wurde, schloss er ein Bündnis mit dem Fernsehsender RTL, um als »Undercover-Spezialist« unter dem Titel Günter Wallraff deckt auf! sich selbst zum Markenzeichen zu machen. Und sein Handschlag mit dem Springer-Chef Mathias Döpfner schien anzudeuten, dass er sich nach 30 Jahren sogar einen Friedensschluss mit der Bild-Zeitung vorstellen könnte. Deren Leser, über die Hans Magnus Enzensberger einmal schrieb, ihre selbstverschuldete Unmündigkeit erwarte keinen Befreier, sind inzwischen zu Wallraff-Lesern und -Zuschauern geworden
Nun hat Reclam zum 80. Geburtstag des Schriftstellers eine Sammlung seiner Arbeiten herausgebracht, und zwar in der ehrwürdigen Reihe der Universal-Bibliothek. So ist der Dokumentarist und Reporter, der stets erklärte, keine Kunst machen zu wollen, auf seine alten Tage doch noch zu einer Art Klassiker geworden.
Günter Wallraff: Im Einsatz für Aufklärung und Menschlichkeit. Existenzielle Erfahrungen und Ermittlungen (ausgew. von Günter Wallraff und Karl-Heinz Göttert. Nachw. von Volker Weidermann und Cem Özdemir). Reclam, Stuttgart 2022, 268 S., 10,80 €.
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