»Ein junger Musiker von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Phantasie hat sich in einem Anfall von Liebesverzweiflung mit Opium vergiftet. Die Dosis ist zu schwach, ihn zu töten, aber sie stürzt ihn in einen tiefen Schlaf, der von seltsamen Visionen begleitet wird (…) Die Geliebte wird für ihn zur Melodie, gleichsam zu einer fixen Idee, die er überall wiederfindet, überall hört.«
So beginnt das literarische Programm, das Hector Berlioz seiner Symphonie fantastique bei ihrer Uraufführung am 5. Dezember 1830 in Paris beifügte. Die Symphonie war der Beginn einer neuen musikalischen Epoche – auch heute lässt sich das bei einer guten Aufführung noch nachvollziehen. Berlioz war erst 27 Jahre alt, als er die Symphonie fantastique komponierte, zwei Jahre nach Beethovens Tod. Franz Liszt wohnte der Uraufführung bei, zur zweiten Aufführung im Dezember 1832 kamen berühmte Zeitgenossen wie Victor Hugo, Alexandre Dumas, Heinrich Heine, die Repräsentanten der Romantik, aber auch Niccolò Paganini, der legendäre Geiger – er erkannte an diesem Abend Berlioz’ Genie und wurde sein großzügiger Förderer. Die Symphonie fantastique war nicht unumstritten, aber Bedeutung und Neuheit des Werkes wurden sogleich erkannt. Neu war das literarische Programm, neu die Formanlage mit dem in allen fünf Sätzen wiederkehrenden Hauptthema – eine Art musikalischer idée fixe –, neu schließlich die Kühnheit der Instrumentation und der verblüffende Reichtum an Klangfarben.
Den bekenntnishaften, quasi autobiografischen Charakter seiner Symphonie hat Berlioz nicht verschwiegen: Der »junge Musiker von krankhafter Empfindsamkeit und glühender Phantasie«, von dem im Programmtext die Rede ist, war er selber. Freimütig gestand er ein, was in Paris ohnehin jedermann wusste: »Der Gegenstand dieses musikalischen Dramas ist die Geschichte meiner Liebe zu Miss Harriet Smithson, meiner Qualen, meiner schmerzlichen Träume.«
Harriet Smithson gehörte zu einer englischen Theatergruppe, die 1827 mit Shakespeare-Aufführungen Paris in einen wahren Taumel versetzte. Auch Berlioz wurde davon erfasst: zum einen für Shakespeare, der in Frankreich damals erst richtig entdeckt wurde, zum anderen für die Hauptdarstellerin Harriet Smithson, die er als Julia und Ophelia erlebte. Berlioz hat die Begegnung in seinen Memoiren das »größte Drama« seines Lebens genannt. Bald wurde aus der Begeisterung des Komponisten ein fast krankhafter Nervenzustand, zumal die englische Schauspielerin seine Leidenschaft zunächst nicht erwiderte. Erst sechs Jahre später wurde sie, unter völlig veränderten Vorzeichen, seine Frau – in einer eher unglücklichen Ehe.
Unzweifelhaft ist, dass das Shakespeare-Erlebnis Anlass und emotionaler Auslöser für die Komposition der Symphonie fantastique war. Die unerreichbare Geliebte, die sich der junge Musiker im Opiumrausch des ersten Satzes erträumt, die er im vierten Satz ermordet und im fünften in den höllischen Spuk eines Hexensabbats versetzt, kann man ohne Bedenken mit Harriet Smithson identifizieren – sie ist die idée fixe der Sinfonie. Der Komponist wiederum erscheint in diesem Werk als glühender Fantast und krankhaft-zerrissener Künstler – Inbegriff der musikalischen Romantik.
Nicht nur ein romantischer Feuerkopf
Robert Schumann schrieb über die Symphonie fantastique, dass Berlioz darin »eine neue Bahn gebrochen« habe, aber in dem literarischen Programm sah er »etwas Unwürdiges und Charlatanmäßiges«, eher ein Auswuchs der Romantik als ihre innere Erfüllung. Über den Kopfsatz schrieb er: »Berlioz kann kaum mit größerem Widerwillen den Kopf eines schönen Mörders secirt haben, als ich seinen ersten Satz.« Dabei war Berlioz nach Geschmack und literarisch-musikalischen Neigungen keineswegs ein Romantiker, wie er im Buche steht, kein Anhänger des romantischen Kultes des Grotesken à la Victor Hugo. Er war weit eher ein Statthalter der klassischen Tradition und hielt fest an klassischem Maß, an klassischer Form. Sein größtes literarisches Erlebnis vor Shakespeare war Vergil, der Dichter der lateinischen Antike. An ihm, dem Autor der Aeneis, hielt Berlioz zeitlebens fest, noch sein letztes großes Bühnenwerk, die monumentale Oper Die Trojaner, ist von dem römischen Epos inspiriert.
Das Bild von Berlioz als Feuerkopf der Romantik ist ein deutsches Missverständnis, erklärbar vielleicht dadurch, dass er zu Lebzeiten in Frankreich wenig Anerkennung fand, in Deutschland dagegen gefeiert wurde. »Deutschland«, schrieb der englische Musikwissenschaftler Wilfrid Mellers, »bewunderte Berlioz’ Orchestervirtuosität und konnte ihn aus falschen Gründen respektieren, was allerdings dem völligen Mangel an anderweitiger Anerkennung vorzuziehen war. Hundert Jahre später nun beginnen wir Berlioz in der richtigen Perspektive zu sehen, und je mehr wir das tun, umso klarer wird es, daß er mit der deutschen Romantik überhaupt nichts gemein hatte, sondern im tiefsten Sinne der französischen Kultur zugehörte.«
Ein meisterhafter Schriftsteller
Das tritt vielleicht am deutlichsten in Berlioz’ Schriften hervor, die gleichsam sein zweites Lebenswerk darstellen. Der Komponist war nämlich ein vorzüglicher Schriftsteller und Kritiker. Unter seinen Kollegen steht er mit dieser Doppelbegabung zwar nicht allein, denn auch Robert Schumann und Franz Liszt, Claude Debussy und Igor Strawinsky sind als Schriftsteller hervorgetreten, vom Sonderfall Richard Wagner ganz zu schweigen. Unerreicht unter Komponisten ist Berlioz aber durch die Gewandtheit seines Ausdrucks, die Eleganz seiner Formulierungen, die Lebendigkeit seines Stils. Seine Memoiren, die 1870, im Jahr nach seinem Tod, erschienen, gehören zu den besten Büchern dieser Gattung nicht nur in Frankreich – Autoren wie Gustave Flaubert und André Gide haben sie bewundert. Und wenn Berlioz’ Feuilletons und Kritiken heute noch lesenswert sind, dann nicht nur, weil sie von einem bedeutenden Komponisten stammen, sondern auch und vor allem in literarischer Hinsicht.
Sein Urteil war selten ausgewogen, denn er hasste den goldenen Mittelweg und alle Kompromisse. Kritik setzte für ihn innere Beteiligung des Kritikers voraus. »Keine Musik«, schrieb er, »wirkt stärker im schlechten Sinne als die, deren Hauptfehler Plattheit in Verbindung mit falschem Ausdruck ist. Da werde ich gleichsam vor Scham rot, wahre Entrüstung bemächtigt sich meiner.« Berlioz verstand Musikkritik als eine Form von Aufklärung mit dem Ziel der musikalischen Bildung des Publikums. Auch die materiellen Voraussetzungen der künstlerischen Produktion ließ er nicht außer Acht: die Abhängigkeit des Künstlers vom Geschmack des Publikums, von den Geldgebern, der Willkür der Interpreten, der Allmacht der Theaterdirektoren. Was Berlioz über Sängergagen und den Zustand der Gesangskunst schrieb, liest sich, als sei es heute verfasst: »Was die Tenöre, Soprane und Baritone verschlingen, geht über alles Glaubhafte; (…). Ein Sänger mit starker Stimme, der heute nicht jährlich hunderttausend Francs verdient, kommt sich vor wie ein Lump (…) Wer hat in dieser Sache unrecht? Ja, du mein Gott! Niemand. Retten wir einzig die Kasse! Die Kunst ist nur Chimäre; lernen wir, ohne sie fertig zu werden.«
Schöpfer des modernen Orchesters
Ohne Zweifel war Berlioz einer der originellsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, eine »in seiner Art einzige und unvergleichliche Künstlernatur«, wie Richard Wagner schrieb. Wenn sein Rang als Komponist auch unumstritten ist, dann entspricht dem keine wirkliche Beliebtheit beim Musikpublikum. Abgesehen von der Symphonie fantastique werden seine Werke im Konzertsaal oder auf der Opernbühne nur selten aufgeführt: die zweiteilige Oper Die Trojaner und Benvenuto Cellini, sein zweites Hauptwerk für das Musiktheater, seine Lieder und dramatischen Gesangsszenen, die Grande Symphonie funèbre et triomphale oder Lélio, das szenisch-oratorische Zwitterwerk, das eine Art Fortsetzung der Symphonie fantastique darstellt. Selbst das grandiose Requiem, die Sinfonie Harold in Italien, die dramatische Sinfonie Romeo und Julia und die dramatische Legende La damnation de Faust, dieser großartigste aller Versuche, Goethes Drama in Musik zu übersetzen – all diese Werke sind nicht wirklich bekannt, geschweige populär.
In ihnen zeigt Berlioz sich als Großmeister der orchestralen Instrumentation, als der eigentliche Schöpfer des modernen Orchesters, dessen klangliche Dimension er in ungeahnter Weise erweitert hat. Sein Buch zur Instrumentationslehre bildete für mehrere Generationen die Grundlage des musikalischen Handwerks, das Fundament für Nachfolger wie Rimski-Korsakow und Richard Strauss. Berlioz, schrieb der Dirigent Hans von Bülow, »hat das Orchester in einer Weise erweitert und vervollkommnet, die diese Tätigkeit zu einer Tat kunstgeschichtlicher Unsterblichkeit stempelt und das Berliozsche Orchester zu dem allein richtigen Wegweiser für alle Instrumentalkomponisten macht, welche es nicht vorziehen, die Wege der Krebse zu wandeln.« Berlioz ist, mit einem Wort, eine epochale Gestalt der Musikgeschichte. Doch blieb ihm die Aufnahme ins Pariser Panthéon verwehrt, wo neben vielen Schriftstellern kein einziger Komponist begraben liegt. Selbst seine literarische Begabung hat Berlioz im Land der Literatur den Weg dorthin nicht bahnen können.
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