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Das Echo auf Angela Merkels Autobiografie fällt überwiegend kritisch aus Eine Lichtgestalt verblasst

Es gibt sie noch, die guten, alten Merkel-Anhänger, könnte man in Abwandlung eines Werbeslogans der deutschen Edel-Firma »Manufactum« behaupten. Ihren Gefühlen Ausdruck verleihen konnten ihre Fans Ende September im Renaissance-Theater in Berlin. Vizekanzler Robert Habeck kommentierte dort das Buch Die Enttäuschung. Angela Merkel und ihre Deutschen. Dem Grünen-Politiker war das Werk des Journalisten Eckart Lohse (Frankfurter Allgemeine Zeitung, FAZ) deutlich zu kritisch ausgefallen, es sei »fast eine Abrechnung«, klagte er. Das Publikum, in dem offensichtlich West-Berliner Bildungsbürger jenseits des Rentenalters dominierten, reagierte erleichtert, wenn der Wirtschaftsminister seine große persönliche Sympathie für Merkel offenbarte. Und eher abwehrend, wenn Autor Lohse sein Urteil über die Kanzlerin erklärte. Die hatte in 16 Jahren an der Macht seiner Meinung nach zwar Krisen gut gemeistert, aber das Land nicht auf die Herausforderungen der Gegenwart vorbereitet.

Damals konnte noch niemand wissen, wie sich Angela Merkel in ihrer Autobiografie Freiheit. Erinnerungen 1954–2021 selbst zu ihrer eigenen Politik verhalten würde, denn das gemeinsam mit ihrer Büroleiterin Beate Baumann geschriebene Werk sollte erst Anfang November erscheinen – dann aber in mehr als 30 Ländern. Mehrere Wochen nach dem Buchstart sind zahlreiche tiefgreifende Analysen von Merkels Selbstbetrachtung erschienen, die sich sowohl mit dem Inhalt als auch dem Stil des 736-Seiten-Werks befassen. Und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in wichtigen Partnerländern.

Dass der Verzicht der beiden Autorinnen auf einen »Ghostwriter« der Lesbarkeit des Werks genutzt hat, bezweifeln viele Rezensenten kopfschüttelnd, »Freiheit ist ein seltsames Buch, mal witzig und lebensklug, dann hölzern, formal, steif bis zur Atemnot«, meint etwa Stefan Reinecke in der taz und ist mit diesem Urteil nicht allein. Der Text wirke im zweiten Teil »gestanzt und formelhaft«, sei »meist in rappeltrockener Sachbearbeiterprosa« geschrieben. Auch fällt vielen professionellen Lesern des Buchs auf, dass keine Geheimnisse und wenig Privates enthüllt werden. »Überraschendes, das ein neues Licht auf Merkels Kanzlerschaft werfen und Unverständliches verständlicher machen würde, sucht man in Freiheit vergebens«, urteilt etwa Berthold Kohler, Herausgeber der FAZ.

Vier zentrale Punkte identifiziert der Mainzer Historiker Andreas Rödder in der Neuen Zürcher Zeitung, die von Merkels Kanzlerschaft im Nachhinein im Gedächtnis bleiben werden: der Atomausstieg und die Energiepolitik der »Großen Transformation«, die Migrationspolitik der offenen Grenzen sowie die Russlandpolitik der pragmatischen Moderation.

Russlandpolitik im Zentrum der Kritik

Tatsächlich steht bei vielen deutschen und internationalen Rezensenten Merkels Darstellung ihrer Russlandpolitik im Vordergrund. Und das Erscheinen von Freiheit provozierte kritische Stimmen aus der Ukraine. Andrij Melnyk, in seiner Zeit als Botschafter seines Landes in Berlin als »enfant terrible« der Diplomatie bekannt, polterte auf Twitter, das Werk sei eine »K-A-T-A-S-T-R-O-P-H-E« und solle deshalb nicht gekauft werden. In dieser Frage ähnlich hart urteilte der Schriftsteller Navid Kermani in der Zeit, der nur die Darstellung ihres Lebens in der DDR gelungen findet: Dass Deutschland, während in Minsk verhandelt wurde, gleichzeitig die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland ausbaute und seine Abhängigkeit vom russischen Gas sogar noch vergrößerte, sei »zumindest erklärungsbedürftig, wenn man schon keinen schweren strategischen Fehler zugibt, den die Deutschen mit einem Preisschock, die Ukrainer mit zerstörten Städten und Hunderttausenden Toten bezahlt haben«. Und weiter: »So macht sich die große Politikerin Angela Merkel gegen Ende ihrer ungewöhnlich schönen Memoiren durch ihre Rechthaberei selbst klein.«

Mehr Dialog als Abschreckung gegenüber Russland.

Auch in einem US-Medium stellt eine Analytikerin bohrende Fragen zum Russlandkomplex. Wenn Merkel Wladimir Putin durchschaut habe, wie sie schreibe, könne man sich nur wundern, »warum sie nicht mehr politisches Kapital auf das Erreichen des Zwei-Prozent-Rüstungsziels der NATO investierte«, schreibt Liana Fix in der Washington Post und kommt zu dem Schluss: »Sie beschreibt eine zweigleisige Politik der Abschreckung und des Dialogs mit Russland, aber es war mehr Dialog als Abschreckung.« Zwar senkt in der New York Times Review of Books auch Rezensentin Elisabeth Zerofsky den Daumen und verweist darauf, dass die Autobiografie zu einem Zeitpunkt erscheint, da die Aussichten für Deutschland sehr düster werden. Doch vielen Amerikanern im progressiv-liberalen Spektrum erscheint Angela Merkel in einer Zeit, in der Donald Trump wieder ins Weiße Haus einzieht, wie eine Lichtgestalt, ein Vorbild für moderate und rationale Politik.

»Als einzige Kanzlerin in jüngerer Zeit, die freiwillig aus dem Amt scheidet, lebt sie Zurückhaltung und Nüchternheit vor und bemerkt in ihrem Nachwort, dass ›wahre Freiheit nicht nur auf den eigenen Vorteil gerichtet ist, sondern Hemmungen und Skrupel hat‹. In einer Zeit, in der der Autoritarismus auf dem Vormarsch ist, könnten ihre Memoiren nicht aktueller sein«, lobt Jacob Heilbrunn in der Los Angeles Times.

Doch das öffentliche Bild der Kanzlerin hat sich in den nur drei Jahren seit dem Ende ihrer Amtszeit verdüstert, wie der britische Economist feststellt: »Wenige Weltpolitiker sind bei ihrem Abschied so sehr gelobt worden wie Angela Merkel. Als sie als Kanzlerin 2021 nach 16 Jahren abtrat, beneidete Europa Deutschland um seine Wirtschaft. Mrs. Merkel hatte den Euro gerettet und ihre Nation durch die Pandemie geführt. Ihr Politikstil galt als vorbildlich.« Um nur wenige Sätze weiter zu dem vernichtenden Urteil zu kommen: »Wie schnell ihr Erbe zu Asche geworden ist.«

»Weder Energiewende noch Russlandpolitik, weder Migrationspolitik noch AfD-Strategie waren vom Ende her gedacht.«

Das ist nicht weit entfernt vom Urteil Andreas Rödders: »Wie auch die Memoiren offenbaren, waren weder Energiewende noch Russlandpolitik, weder Migrationspolitik noch AfD-Strategie vom Ende her gedacht«, schreibt er: »Der Sozialdemokrat Peter Struck hat einmal gesagt, Merkel sei eine gute Pilotin, der man sich bedenkenlos anvertrauen könne, wenn einem egal sei, wo man lande. Darüber ging das Land allerdings in einen Sinkflug über. Als der Co-Pilot das Steuer übernahm, verkündete er die ›Zeitenwende‹. Die Notwendigkeit der Schubumkehr blieb das Vermächtnis der Ära Merkel.«

Aber ist der Vorwurf sinnvoll, sie gehe eben nicht kritisch mit der eigenen Politik ins Gericht? »Die Forderung, dass PolitikerInnen gefälligst selbstkritisch zu sein haben, hat etwas Selbstgefälliges, Wohlfeiles. Man delegiert vermeintliches Versagen auf eine Person«, gibt taz-Autor Reinecke zu bedenken: »KanzlerInnen sind aber in dem föderalen bundesdeutschen System schwächer, als sie scheinen: eher Kompromissmaschinen als Machthaber.«

»Zu wenig unternommen, um die Schwächen des deutschen Models auszugleichen.«

Es ist nicht ohne Ironie, dass auch ein Sozialdemokrat davon abrät, die Schuld für massive Probleme der Gegenwart alleine bei der Ex-Kanzlerin abzuladen. Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder hält Merkel zwar im Tagesspiegel vor, dass in den 16 Jahren ihrer Regierung »viel zu wenig unternommen wurde, um die Schwächen des deutschen Modells auszugleichen, das auf fossilen Energien und dem starken Export beruhte«. Zugleich warnt der Professor der Universität Kassel: »Diese großen Defizite lassen sich nicht so leicht Merkel persönlich zuschreiben, wie das momentan gerne getan wird. Wer nicht probiert, die strukturellen Widersprüche und Verwerfungen des politischen und wirtschaftlichen Systems in Deutschland zu beschreiben, wird zu einem falschen Urteil kommen.«

Zudem steht nach dem krachend lauten Scheitern der Ampel ein wichtiger Aspekt von Merkels Kanzlerschaft noch mehr im Vordergrund: deren Stabilität, um die Deutschland damals beneidet wurde. »Olaf Scholz konnte seinen Laden, die Koalition wie die Partei, schon nach drei Jahren nicht mehr zusammenhalten, obwohl er wie die Kanzler, die vor Merkel kamen, im politischen System der Bundesrepublik aufgewachsen war«, merkt dazu Berthold Kohler in der FAZ an.

Dem Erfolg des Buches dürften die vielen kritischen Urteile kaum schaden. Schon Anfang Dezember meldete das Unternehmen »Media Control«, die Memoiren der früheren Kanzlerin seien mehr als 200.000 Mal verkauft worden und damit das bislang erfolgreichste Buch des Jahres. Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass viele Deutsche das Erbe Merkels doch in einem helleren Licht sehen, als das die meisten politische Beobachter tun.

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