1. Der Niedergang der Sozialdemokratie und das Erstarken des linken und rechten Populismus ist nicht allein ein deutsches Phänomen. In vielen europäischen Nachbarstaaten ist Ähnliches zu beobachten. Es ist unwahrscheinlich, dass dieser Niedergang in jedem Fall hausgemacht war und es sich hier um eine zufällige Parallelität handelt. Bei der Suche nach den verschiedenen Gründen des Niedergangs und Rezepturen für eine Neuaufstellung lohnt es sich deshalb, über die deutschen Grenzen zu schauen.
2. Zu den vielen Gründen des Niedergangs aufgeklärter, sozialdemokratischer Politik zählen das neue digitale Kommunikationsumfeld und die die Individualisierungstendenz des Kapitalismus verstärkende Digitalisierung. Der Aufstieg von Unternehmen wie Google und Facebook, die nun in jedem Haushalt präsent sind, prägt alle Demokratien. Diese Unternehmen schüren eine Illusion gesellschaftlicher Problemlösung und individueller Glückseligkeit durch Technik, die demokratisches Engagement und Demokratie beschädigt. Sie verbreiten zu kommerziellem Zweck den Eindruck, ständige digitale Ansprechbarkeit und Präsenz im Internet seien heute wichtiger als unmittelbare Kontakte mit Menschen und aktives, langfristiges demokratisches Engagement. Das Demokratieverständnis vereinfacht sich bis zur Erwartung sofortiger Erfüllung individueller Glücksvorstellungen. Wir müssen klar sagen: Die »Sofortigkeit« (»instantness«, Evgeny Morozov) von Instant Messaging und Einkauf per Maustaste ist in der Demokratie nicht zu haben. Demokratie erfordert langfristiges Engagement, Überzeugungsarbeit von Mensch zu Mensch und Kompromissbereitschaft. In Schüler-, Auszubildenden- und Studentenvertretungen, wie auch im Ortsverein einer Partei, wird all das eingeübt. Hier liegt vieles im Argen, diese »Brutkästen« der Demokratie müssen wiederbelebt und ernst genommen werden.
3. Die kalifornische Doktrin der globalen Unteilbarkeit des Internets und die Erklärung der Unabhängigkeit des Cyberspace (John Perry Barlow), mit der demokratische Gesetze zur Regulierung des Internets und internetbasierter Wirtschaftstätigkeit bekämpft werden, ist sichtbarster Ausdruck der anti-demokratischen Tendenz des technologischen Absolutismus.
Wir müssen den Konflikt zwischen Technikdominanz und Demokratie deutlich ansprechen und die Menschen wieder für ein unmittelbares demokratisches Engagement zurückgewinnen, zusammen mit anderen Menschen und für die Gesellschaft, in der sie leben und die sie nur gemeinsam demokratisch gestalten können. »Mehr Demokratie wagen« heißt heute, Kritik üben an der digitalen Machtkonzentration, der technologischen Entdemokratisierung und Enthumanisierung unserer Lebenswelt. Wir brauchen eine Vision von neuem, gemeinsamen Engagement, das den Menschen ihre Stimme zurückgibt, sie wieder als sprechende und denkende Wesen respektiert, sie herausführt aus der (selbst verschuldeten) Unmündigkeit der »Like Buttons« und »Retweets«, aus den durch Maschinen vermittelten, durch Big Data, Profilierung und intransparente Algorithmen verzerrten und manipulierten Online-Communitys, in denen der Mensch zum datenproduzierenden Digitalzombie mutiert und als Datenobjekt ausgebeutet wird.
4. Ganz konkret bedeutet dies, dass wir eine neue Unmittelbarkeit der Demokratie – und der Parteiarbeit – brauchen, die zwar digitale Medien besser nutzt, gleichzeitig aber das unmittelbare Zusammenwirken von Menschen mit Menschen wieder in den Mittelpunkt stellt und sich sowohl als Plattform und Schule der Demokratie als auch Ort der sozialen Durchmischung versteht. Die Unmittelbarkeit der politischen Arbeit vor Ort und zwischen Menschen, die miteinander sprechen und sich die Hand geben, sich sehen und fühlen, ist die einzig echte Quelle von nachhaltigem Engagement und nachhaltiger Solidarität. Volkspartei sein heißt auch, der Ort zu sein, an dem Menschen mit unterschiedlichem sozialen, persönlichen und beruflichen Hintergrund zusammenkommen, lernen sich zu verstehen und zusammenwirken. Während in der digitalen Welt Menschen klassifiziert, segmentiert und nach Sonderinteressen sortiert werden, muss die Volkspartei genau das Gegenteil bieten: einen hippen Ort, an dem man Menschen trifft, die man sonst eben nicht trifft. Der Ortsverein muss ganz bewusst auch ein Ort des Kampfes gegen soziale Segmentierung und digitale Vereinsamung werden.
5. Die Erfahrung des Niedergangs der Piratenpartei lehrt: Technik löst keine politischen Probleme und schafft keine nachhaltige Solidarität. Eine digitale Modernisierung der SPD für Wahlkämpfe und Organisation ist jedoch unabdingbar. Offen bleiben sollten wir für digitale Versuche bei inhaltlicher Arbeit, die Solidarität und nachhaltiges Engagement auch in Fachgremien fördern könnten. Offenheit ist aber kein naiver Heilsglaube. Es gibt bisher kein belastbares empirisches Material, das beweist, dass digitale soziale Netzwerke Menschen zu nachhaltigem politischen Engagement führen und Solidarität dauerhaft sichern. Was Studien bisher zeigen: Wer politisch aktiv ist, erhält durch das Digitale einen neuen Kanal für seine Aktivität. Wer nicht politisch interessiert oder aktiv ist, wird durch soziale Medien auch nicht zum dauerhaften Engagement bewegt. Im Gegenteil: Die weniger Aktiven verfallen in »Slacktivism«, eine Kombination von Relaxtheit (slacker bedeutet Faulenzer) und Aktivität (activism), bei dem Beitragszahlungen, Veranstaltungsbesuche und Gespräche durch »Retweeten« und Drücken des »Like Buttons« ersetzt werden – der Mensch also das Sofa nicht mehr verlässt und seine letzte rudimentäre Lebensäußerung in der Nebenwelt des Digitalen durch Knopfdruck tätigt. Soziale Medien haben die Wirkung von Drogen, sie machen abhängig und labil. Insider berichten, dass sie mit dem Ziel der Abhängigkeit programmiert werden. Es ist kein Zufall, dass man vom »User« spricht, einem Begriff aus der Drogenszene. Emanzipatorische Politik braucht auch deshalb eine kritische Haltung zu ihnen.
6. Der Widerspruch zwischen der notwendigen Komplexität konstruktiver politischer Programme und dem Niedergang der Langtextpresse sowie der Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne wird in der digitalen Kommunikation noch dramatischer. Das digitale Kommunikationsumfeld, mit dem kleinen Bildschirm des Mobiltelefons als zentralem Kommunikationsort, reicht für die rotzige Anti-Message in zwei Zeilen und befördert damit die »Pöbeldemokratie« (Constanze Kurz). Konstruktive Politik in der gleichen Kürze zu verbreiten ist schwer und oft unmöglich. Die Verkürzungen und Filterblasen der digitalen sozialen Netzwerke sind ein Rückschritt aus der Aufklärung in die neue selbst verschuldete digitale Unmündigkeit. Wir müssen die ersten sein, die Neugründungen und Start-ups im Bereich von Medien und Journalismus mit Ethos den Weg ebnen und sie im Kampf mit den quasi-monopolistischen Strukturen von Facebook und Google unterstützen, die nun den Löwenanteil der Anzeigeneinnahmen, die früher Pressepluralität finanzierten, auf sich vereinigen. Denn wir brauchen ein Kommunikationsumfeld, das unsere Politiken überhaupt noch vermitteln kann und auch die Aufnahme- und Dialogfähigkeit der Menschen fördert, anstatt diese verarmen zu lassen. Dazu gehört auch die Unterstützung der klassischen Qualitätspresse und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als zentrale Pfeiler der Demokratie.
7. Die anti-aufklärerische Verkürzung des Digitalen geht mit der Verkürzung durch Populisten einher, sie verstärken sich gegenseitig in der Radikalität und Undifferenziertheit. Wir sehen gerade, wie Donald Trump dabei scheitert, Weltprobleme und Weltpolitik mit einfachen Sprüchen (»America First«) und 140-Zeichen-Tweets (neuerdings 280 Zeichen) zu lösen. Es ist zentral für die Zukunft von Demokratie und Sozialdemokratie, dass wir das Scheitern von Trump und den konservativen britischen Brexit-Advokaten als wichtige Machtakteure des neuen Populismus in der digitalen Welt kritisch und laut begleiten. Nichts ist ein besseres Lernerlebnis als ein in der realen Welt gescheiterter Populismus, z. B. der des Hamburger »Richters Gnadenlos« Ronald Schill.
8. Der Zersplitterung der Parteienlandschaft in thematisch verengte und radikalisierte Kleinstparteien setzen wir ein neues Konzept von Stimmigkeit und Glaubwürdigkeit eines gemeinwohlorientierten politischen Gesamtpakets der Volkspartei entgegen. Tatsächlich entsteht ein Großteil der Komplexität unserer neuen Welt, und damit auch der Politik in dieser neuen Welt, daraus, dass vieles mit vielem zusammenhängt. Die Digitalisierung ist ein Beispiel für eine horizontale Politikaufgabe, die ein hohes Maß an Koordination von vielen Einzelmaßnahmen erfordert und in alle Fachgebiete der Politik hineinreicht. Die Zusammensetzung eines Gesamtpakets, orientiert am Gemeinwohl, ist der zentrale Glaubwürdigkeitsvorteil einer Volkspartei gegenüber den verengten Programmen der kleinen Parteien, die sich auf besondere Anliegen konzentrieren, die zwar viel Spezielles fordern, dies aber nicht durchsetzen können und die darüber hinaus auch nicht die Stimmigkeit der Politik insgesamt garantieren. Wir übernehmen Verantwortung für das Ganze und nicht nur für Sonderinteressen. Die Passgenauigkeit und langen Linien politischer Orientierung an unseren Werten sind unsere zentralen Stärken. Pflegen wir sie.
9. Traditionell wurde die SPD mit konsequenter Programmarbeit identifiziert, die breit und langfristig angelegt war. Diese trug auch zur Qualifizierung unserer Mitglieder bei, was wiederum die Partei attraktiv machte. Wir müssen wieder mehr Energie in diese qualifizierende und qualifizierte Programmarbeit stecken. Dafür brauchen wir einen neuen Schulterschluss mit der technischen Intelligenz von heute. Wir werden die Anhänger/innen der neuen digitalen Technologien aber nur für uns gewinnen, wenn wir konsequent weiter auf dem Weg von der Klassenpartei zur Weltanschauungs- und Wertepartei gehen. Denn viele Menschen aus dieser Szene sehen sich als Unternehmer, arbeiten frei oder in Start-ups, und auch wenn ihre Arbeitsverhältnisse kurzfristig und prekär sein mögen, so sehen sie sich nicht als Teil der traditionell durch die SPD vertretenen Arbeiterschaft. Jeder, der unsere Werte teilt, ist willkommen! Dabei ist es unerheblich, ob diese Überzeugung aus der eigenen wirtschaftlichen oder persönlichen Situation, aus religiösen oder politischen Lehren, persönlicher Ethik oder Moralvorstellungen resultiert – die Gründe, warum Menschen zur Sozialdemokratie kommen, waren und bleiben vielfältigster Art.
10. Die klassischen Lehren sozialdemokratischer Politik zum Verhältnis von Markt und Staat (»So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig«) brauchen eine Ergänzung um eine neue Theorie des Umgangs mit digitaler Macht. Im globalen digitalen Kapitalismus vereinigen wenige Unternehmen drei Kernelemente von Macht in ihrer Hand, nämlich gewaltige wirtschaftliche Macht, den zunehmend erdrosselnden Zugriff auf die Presse und die Foren des öffentlichen Diskurses sowie die angsteinflößende Detailkenntnis unserer individuellen Lebensgewohnheiten mit dem Effekt der Selbstzensur in unserem Verhalten (»Chilling Effect«). Die Sozialdemokratie als Partei der Freiheit und der Freiheitsrechte, als Partei der Begrenzung privater und staatlicher Macht zugunsten von Freiheit und Demokratie, muss eine neue Theorie und neue Handlungskonzepte entwickeln, um in diesem in der Globalisierung zentralen Bereich Kompetenz und Glaubwürdigkeit zu erlangen. Vergessen wir dabei nicht, dass der Zugriff auf persönliche Daten durch die Großkonzerne auch eine gewaltige Umverteilung von Reichtum darstellt, die Einschränkung digitaler Macht also eine Aufgabe sozialer Gerechtigkeit ist.
11. Für die Glaubwürdigkeit der Problemlösungskompetenz der Sozialdemokratie in Deutschland und Europa ist es wichtig, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in der Programmarbeit und auch in den Kampagnen zu erhöhen. Niemand wird glauben, dass die Herausforderungen der digitalen Macht, der Migration, der Finanzmärkte oder von Krieg und Frieden in der Welt noch durch den Nationalstaat gelöst werden können. Anstelle der zögerlichen und bisweilen defensiven Haltung zu Europa, wie wir sie etwa in der Labourpartei in Großbritannien vorfinden, muss ein offensiveres praktisches Zusammenwirken zwischen den sozialdemokratischen Parteien und innerhalb der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE) bei der Programmarbeit treten, basierend auf einer Reform der europäischen Parteistrukturen und grenzüberschreitenden Organen zu innerparteilicher Kommunikation und Entscheidungsfindung. Die SPD wird eine Neuaufstellung in einem Europa, in dem die Sozialdemokratie in anderen Mitgliedsstaaten entweder verschwindet oder wenig europafreundlich ist, nicht schaffen. Es ist deshalb wichtig und richtig, dass die SPD als Teil ihres eigenen Erneuerungsprozesses auch Verantwortung für die Erneuerung der Sozialdemokratie in Europa übernimmt und diese mitdenkt.
(Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.)
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