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Bücher über Ingeborg Bachmann und Günter Grass Entzauberte Mythen?

Ingeborg Bachmann, die 1926 in Klagenfurt geborene österreichische Lyrikerin, ist heute, 35 Jahre nach ihrem Tod, längst zur Legende geworden. Von Anfang an umgab sie die Aura der »Auserwählten«, wenn auch manche darin eine bloße Allüre zu sehen meinten. Da mag ein Buch willkommen sein, das den Mythos einer kritischen Prüfung unterzieht, indem es bereits im Titel nüchtern fragt: Wer war Ingeborg Bachmann? Seine Verfasserin, die Literaturkritikerin und derzeitige Kulturdezernentin in Frankfurt am Main, Ina Hartwig, nennt es eine »Biographie in Bruchstücken«. In der Tat handelt es sich nicht um eine umfassende Lebensbeschreibung, sondern um den Versuch einer Annäherung an Bachmanns komplexe, widersprüchliche Persönlichkeit.

Ina Hartwig will die Dichterin, die das letzte knappe Jahrzehnt ihres Lebens in Rom verbrachte, zwar nicht gerade vom Sockel holen – ihren dichterischen Rang kann man jenseits ihres Werkes vielmehr selten so stark empfinden wie in manchen Passagen dieses Buches –, doch spürt man von Anfang an ein Bestreben, andere Aspekte dieser Dichterin mit der geheimnisvollen Ausstrahlung zu beleuchten, »die dunklen Seiten der heiligen Ingeborg«, wie die Autorin in einem Interview für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sagte, voran ihre Drogensucht und ihre Männerbekanntschaften. So wird etwa ihr oft beschriebener Tod in einer römischen Klinik infolge von Brandverletzungen in Zweifel gezogen: nicht an den Verbrennungen sei sie gestorben, sondern am abrupten Entzug von Drogen und Medikamenten. Ein Arzt wird mit den Worten zitiert: »Es gibt vielerlei Spekulationen bei dieser Frau.« Damit ist der Grundakkord des Buches angeschlagen. Vieles, was Ina Hartwig an Belegen anführt, besitzt eine gewisse Plausibilität, man könnte sogar sagen: eine innere Notwendigkeit. Nur sind die Belege selbst eher dürftig, meist nur Vermutungen oder Spekulationen bis hin zu der über eine Liaison mit Henry Kissinger, und man versteht die Bedenken, die im Vorfeld gegen die Publikation aufgekommen sind und ihre Auslieferung verzögert haben.

Der Komponist Dieter Schnebel, dessen Frau mit Bachmann befreundet war, wird mit der Bemerkung zitiert, Bachmann habe sich in Rom unter die Prostituierten gemischt, um Männer für eine Nacht aufzureißen und sei deswegen vor ihrer Haustür Via Bocca di Leone 60 von einem Zuhälter geschlagen worden. Ein ihr gewidmetes Gedicht der zeitweise gleichfalls in Rom lebenden Marie Luise Kaschnitz wird angeführt, worin es heißt: »Wohnung, dieses Versteck / Mit keinem Fenster / Zur Straße hin / Via Bocca di Leone / In der doch eines Nachts / Der Schläger stand / Ausholte zum Fausthieb«. Das belegt allenfalls, dass der Zuhälter glaubte, sie würde sich unter die Prostituierten mischen. Die ganze Beweisführung dient offenbar der Absicht, die Ikone Bachmann von ihrem Heiligenschein zu befreien und einen Skandal aufzudecken, der allerdings keiner (mehr) ist.

Zeugenschaft und Literaturklatsch

Besonders merkwürdig ist der Anhang des Buches mit Notizen über Gespräche mit Menschen, die Bachmann näher oder flüchtig gekannt haben, darunter Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Peter Handke und Klaus Wagenbach. Enzensberger wird mit der Feststellung zitiert, sie sei eine »gefährdete Person« gewesen. Aber das waren viele Autoren von Wolfgang Koeppen bis Uwe Johnson, auf je eigene Art. Klaus Reichert, der Bachmann als junger Mann in Rom besuchte, wo sie ihn durch einige römische Bars führte, gibt auf die Frage, ob sie ihn womöglich habe verführen wollen, die Antwort: »Ich hatte Sorge.« Aber galt diese »Sorge« tatsächlich ihr oder nicht eher der sexuellen Anfechtung, die er selbst offenbar empfunden hat? Von Peter Handke erfahren wir, dass er mit Ingeborg Bachmann einmal getanzt hat, das ist alles. Martin Walser wird anlässlich eines Besuchs in Rom 1970 mit der Bemerkung zitiert, »was dort geschehen sei, könne er nicht sagen«. Das lädt zu indiskreten Spekulationen ein, aber man fragt sich, was Ina Hartwig mit so nichtssagenden Mitteilungen eigentlich bezweckt. All das ist nicht viel mehr als Literaturklatsch. Marianne Frisch, mit der Max Frisch ein Verhältnis einging, als er noch mit Bachmann liiert war, spricht von ihrem »nymphomanischen« Verhältnis zu Männern, »auch zu Briefträgern und Matrosen«. In Neapel habe sie sich zudem im Strichermilieu bewegt. Ina Hartwig erklärt das aber nicht durch eine Neigung Bachmanns zu erotischen Abenteuern, sie stellt die Hypothese auf, Bachmann habe sich selbst zum Mann gemacht und Männer mit einem »schwulen Blick« angeschaut. Vermutungen wie diese liegen derzeit im Trend. Am Ende des Buches steht die erwähnte Andeutung einer Liaison mit Henry Kissinger, die in die Schlussfolgerung mündet: »Nachdem diese ungewöhnliche Beziehung nun doch in den Bereich des Vorstellbaren gerückt ist, müssen wir uns eingestehen, dass gerade anhand der Figur Kissingers die Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns in ihrer vollen, abenteuerlichen Dimension hervortritt.« So mündet die Entzauberung zuletzt in eine neue Mythologie.

Ihre Gespräche mit Zeitzeugen leitet Ina Hartwig mit der Bemerkung ein: »Einer, dessen Erinnerungen an Ingeborg Bachmann ich wahnsinnig gern gehört hätte, ist kurz vor dem schon vereinbarten Gesprächstermin gestorben: Günter Grass.« Er, der Ingeborg Bachmann in ihrer Berliner Zeit Anfang der 60er Jahre gut kannte, hätte sich kaum an Spekulationen über die Dichterin beteiligt. Zu seinem 90. Geburtstag sind jetzt mehrere neue Publikationen erschienen, darunter das Gesprächsbuch In letzter Zeit, das die Bandabschrift zweier Gespräche enthält, die der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering im Oktober und November 2014 in Behlendorf mit Grass noch führen konnte. Weitere Gespräche sollten folgen, kamen aber durch Grass’ Tod im April 2015 nicht mehr zustande. Wir haben es also, wie Detering schreibt, mit einem Fragment zu tun, gleich im doppelten Sinn: »das Fragment einer langen Unterhaltung, die noch länger hätte dauern und noch andere Themen hätte anschlagen sollen, und das Fragment eines Buches, dessen angemessenere Gestalt nun für immer unbestimmt bleiben mußte«. Sollte vielleicht etwas Ähnliches zustande kommen, wie Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens? Diese wurden literarisch aufs Genaueste ausgearbeitet, während es sich hier lediglich um Gesprächsprotokolle handelt, deren spontaner, assoziativer Charakter der Lesbarkeit des Buches allerdings zugutekommt. Detering ist vor allem Stichwortgeber, zuweilen etwas zu eifrig sich vordrängend, als wollte er Grass beweisen, in seinem Werk bewandert zu sein. Die späten Gespräche zeugen von Grass’ Wachheit und Geistesgegenwart in seinen letzten Monaten, aber auch von seinen vergeblichen Versuchen, der ihm aufgedrängten Rolle als »Gewissen der Nation« zu entkommen. Ebenfalls interessant ist es hier, über die Eifersucht Uwe Johnsons nach dem Erfolg der Blechtrommel zu lesen. Johnson besaß ein feines moralisches Sensorium, aber Grass’ Erfolg und sein bis in die USA reichender Ruhm, dem Johnson auf einer gemeinsamen Reise durch die Vereinigten Staaten begegnete, machten ihm zu schaffen. Auch in diesen Gesprächen erscheint Grass immer deutlicher als die literarische Zentralfigur der sieben Jahrzehnte nach 1945, und zwar gleichermaßen durch sein eigenes Werk, seine Rolle in der Gruppe 47 und sein politisches Wirken, nicht zuletzt durch seine weitreichenden Beziehungen und Korrespondenzen. Wie Johann Wolfgang von Goethe war er der Mittelpunkt eines weitgespannten Netzes, das in seinem Fall auch die Autoren der DDR einbezog. Diese haben ihn, von Stephan Hermlin bis zu Volker Braun, oft mehr respektiert als ihre westdeutschen Kollegen. Als Grass 1986 das Amt des Präsidenten der Akademie der Künste aufgab, schrieb ihm Hermlin in einem Brief: »Überhaupt wollte ich Ihnen sagen, dass ich Sie sehr hochschätze, und keineswegs nur als der Schriftsteller, der Sie sind (und den ein Rudel jämmerlicher Kritiker nicht zu mindern vermögen). Wir kennen uns schon lange, mindestens 25 Jahre, und es gab immer wieder, von Zeit zu Zeit, einen leisen Krach zwischen uns. Das hat aber niemals (niemals!) mein Gefühl für Sie, Ihre Fähigkeiten, Ihre Verdienste, Ihre Überzeugungen in Frage gestellt. Und so wird es bleiben.«

»Alles an ihm ist echt«

Das Zitat steht in dem gleichfalls im Steidl Verlag erschienenen Buch Alles gesagt?, einer Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass, die mit fast 1.000 Seiten und von Uwe Neumann zusammengestellt, einen ungleich größeren Radius besitzt als Deterings Gesprächsbuch. Man liest sie mit anhaltendem Interesse. Dabei mal angezogen und mal abgestoßen, da in diesem großen Mosaik die Angriffe, Gehässigkeiten, unflätigen Anwürfe, Parodien und Verballhornungen einen fast zu großen Raum einnehmen. Ganz abgesehen von den vielen Zitaten aus Romanen und Erzählungen, in denen Grass bereits zur literarischen Figur geworden ist und dem jeweiligen Autor Gelegenheit gibt, an ihm sein Mütchen zu kühlen. Grass hat, wie auch immer, eine breite Spur gezogen, breiter als jeder andere deutsche Autor seiner Zeit. Hans Werner Richter notierte schon 1963: »Geht man in ein Lokal mit ihm, ist man prominent, geht man ohne ihn, ist man nicht prominent.« Das haben viele seiner Kollegen erlebt, und die meisten haben es Grass übel genommen. Der 77-jährige, damals in Schweden lebende, Siegfried von Vegesack schrieb an Oda Schaefer, dass er sich »für den guten Grass nicht begeistern« könne, aber als er ihn zwei Monate später persönlich kennenlernte, schrieb er an dieselbe Adressatin: »Er ist ganz anders, als ich erwartet hatte: kein wilder, aufgeblasener Erfolgsautor, sondern ein fast scheuer, unbefangener, gescheiter Mann mit gütigen Augen, viel Humor, Selbstironie, – alles an ihm ist echt, nichts gemacht …!« Man erkennt daran die Wirkung von Grass auf Menschen, wenn man ihm offen und ohne Vorbehalt begegnete. George Tabori schrieb Grass anlässlich des Romans Der Butt die erstaunlichen Sätze: »Was ich meine, ist, dass Sie mein Bruder sind, der verlorene, der den ich niemals hatte, aber haben wollte. Vielen Dank für diese Erleichterung.« Die Bedeutung der Blechtrommel fasste Hans Erich Nossack bereits 1959, noch im Erscheinungsjahr des Romans, in seinem Tagebuch in die Worte: »Es kommt nicht darauf an, ob es mir gefällt oder nicht: eines scheint mir festzustehen, daß es das erste Buch der Generation nach 1945 ist, das internationalen und überzeitlichen Rang hat.« Neumanns Grass-Chronik ist eine Reise durch ein halbes Jahrhundert, eine Literaturgeschichte ganz eigener Art.

Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken. S. Fischer, Frankfurt am Main 2017, 320 S., 22 €. Günter Grass/Heinrich Detering: In letzter Zeit. Ein Gespräch im Herbst. Steidl, Göttingen 2017, 128 S., 14 €. Uwe Neumann (Hg.): Alles gesagt? Eine vielstimmige Chronik zu Leben und Werk von Günter Grass. Steidl, Göttingen 2017, 992 S., 45 €.

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