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Die »Provinz« im deutschsprachigen Gegenwartsroman Epiphanie oder Apokalypse?

Das Wort »Provinz« wird bei uns häufig abwertend gebraucht. Darüber sollte man gründlicher nachdenken. Wer herablassend auf die Provinz blickt, verallgemeinert vorschnell, was zu weitreichenden Konsequenzen führen kann. »Die Rache der Dörfer«, von der kürzlich in einem Beitrag im Deutschlandfunk mit Blick auf den Wahlsieg Donald Trumps die Rede war, darf nicht weiter geschürt werden. Der Ethnologe Wolfgang Kaschuba konstatierte in dem Radiobeitrag eine »kulturelle Konfrontation zwischen dem Land und den Städten« und stellte fest: »Wir waren bisher der Meinung, dass die Vorstellung einer liberalen, einer offenen Stadtgesellschaft so etwas wie Konsens wäre, und jetzt bemerken wir, dass offenbar für größere soziale Gruppen die Vorstellung von großer Vielfalt, von großer Freiheit, von vielen Entscheidungsmöglichkeiten im Alltag, aber auch viel Verhandlungen möglicherweise eben auch eine stressige Vorstellung ist.«

Wie ländliche Räume im deutschsprachigen Roman der Gegenwart dargestellt sind, soll im Folgenden an vier Beispielen mit Fokus auf die Frage nach dem technischen Fortschritt betrachtet werden. Robert Seethalers Ein ganzes Leben erzählt von Andreas Egger, der 1933 als Waise in die Familie seines Onkels in einem abgelegenen Gebirgstal gerät. Die einzige »Zuwendung«, die er erfährt, besteht in Schlägen. Dass das Kind überlebt, grenzt an ein Wunder. Egger wächst heran, widersetzt sich eines Tages der Willkür des Ziehvaters Hubert Kranzstocker und kann sich fortan besser behaupten. Mit dem Bau einer Seilbahn kommt die Technik in das Tal. Sie bricht dort regelrecht ein, was unterschiedliche Reaktionen hervorruft: »Drei Monate später saß Egger genau an dieser Stelle auf einem Baumstumpf und beobachtete, wie eine gelbliche Staubwolke den Taleingang verdunkelte, aus der sich gleich darauf der aus zweihundertsechzig Arbeitern, zwölf Maschinisten, vier Ingenieuren, sieben italienischen Köchinnen sowie einer kleineren Anzahl nicht näher zu benennender Hilfskräfte bestehende Bautrupp der Firma Bittermann & Söhne löste und sich dem Dorf näherte. Von weitem sah der Pulk wie eine riesige Viehherde aus (…).« Die »gelbliche Staubwolke« lässt an eine Umweltkatastrophe denken, die Charakterisierung der Arbeiter als »riesige Viehherde« macht das Massenhafte und Uniforme des Fortschritts plastisch. Wenig später heißt es: »Es war das erste Mal, dass im Tal das dumpfe Knattern von Dieselmotoren widerhallte.« Der Fortschritt wird zunächst als Wunder begrüßt: »Die Einheimischen standen schweigend am Straßenrand, bis der alte Stallknecht Joseph Malitzer sich plötzlich seinen Filzhut vom Kopf riss und ihn mit einem Juchzer hoch in die Luft warf. Jetzt begannen auch die anderen zu juchzen, zu johlen und zu schreien. Seit Wochen hatte man den Frühlingsbeginn und mit ihm das Eintreffen des Bautrupps erwartet. Eine Seilbahn würde errichtet werden. (…) Es war ein gewaltiges Vorhaben.« Was sich wie eine Himmelfahrt ankündigt, erfährt in Seethalers Schilderung eine Wendung in der Wertigkeit: »Über eine Länge von fast zweitausend Metern würden Drahtseile den Himmel durchschneiden, fünfundzwanzig Millimeter dick und ineinander verschlungen wie Kreuzottern bei der Paarung.« Mit dem Schlangenvergleich ist auch die »giftige« Seite dieses Vorhabens angedeutet.

Andreas Egger profitiert anfangs vom Seilbahnbau, wird Arbeiter bei Bittermann & Söhne, und damit wirtschaftlich von Kranzstocker unabhängig. Er heiratet, baut mit seiner Frau Marie ein Haus. Doch Marie stirbt im Haus durch eine Lawine, weil die Seilbahnbauten eine Schneise in den vormals schützenden Wald geschlagen haben. Die Technik zeigt ihre katastrophische Seite. Andreas Eggers Sehnsucht richtet sich gegen Ende des Romans dennoch in die weite Welt, die von fahrenden Autos symbolisiert wird: »An einem Morgen nicht ganz sechs Monate vor seinem Tod war Egger mit einer inneren Unruhe aufgewacht, die ihn schon mit dem ersten Blinzeln aus dem Bett und ins Freie getrieben hatte. Es war Anfang September, und dort, wo die Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke stachen, konnte er das Glänzen und Blitzen der Autos der Pendler sehen, die (…) sich (…) jeden Morgen auf der Straße auffädelten, um rechtzeitig ihre Arbeitsplätze jenseits des Tales zu erreichen. Egger gefiel diese bunte Autokette, (…). Gleichzeitig machte ihr Anblick ihn traurig. Er dachte daran, dass er die Gegend (…) nur ein einziges Mal verlassen hatte, nämlich um in den Krieg zu ziehen. (…) Und in diesem Moment überkam ihn eine so tiefe und brennende Sehnsucht, dass er meinte, es müsse ihm das Herz zergehen. Ohne sich noch einmal umzusehen, lief er los.«

Die Technik verheißt den in der Provinz Lebenden eine Verbindung zur Welt, von der hier unklar bleibt, ob sie sich einlösen ließe. Sie ist bei Seethaler janusgesichtig, Epiphanie und Apokalypse zugleich.

Ähnliches lässt sich auch in Andreas Maiers Das Zimmer beobachten. Schauplätze sind Bad Nauheim und Friedberg in der Wetterau, Kleinstädte im Einzugsgebiet von Frankfurt am Main. Maier arbeitet an einer Chronik, die von seiner Kindheit bis in die Gegenwart reicht. Eine Beschreibung des Siegeszuges der Technik, in diesem Fall des Automobils, ermöglicht den Vergleich mit Seethalers Roman: Onkel J., eine zentrale Figur in Maiers Chronik, liebt sein Auto, einen »nazibraunen« VW Variant. Er unternimmt damit Spazierfahrten, von denen eine im Jahr 1969 deutlich das Nebeneinander von ländlicher Idylle und dem einsetzenden Fortschritt zeigt: »Nun fährt J. folgende Strecke: Vom Friedhof fünfzig Meter die Schmidtstraße, dann rechts einbiegen in die Gebrüder-Lang-Straße, nach hundert Metern rechts in die Untere Liebfrauenstraße, da kommt nach weiteren hundert Metern der Mühlweg mit unserem Grundstück. Erst die Apfelbäume, dann der Ort, wo die Ställe standen, da ist gerade die Baugrube (…), dann die Firma (…).« Apfelbäume und Ställe werden von der Baugrube abgelöst – das Bild der fortschreitenden Industrialisierung könnte nicht deutlicher sein. Die Menschen in Friedberg sprechen der Technik ebenfalls entschieden zu: »Auf der Höhe der Stadtkirche wird der Verkehr dichter, eben, gegen Feierabend, scheint es viele auf die Kaiserstraße zu treiben, jetzt hat man gerade Zeit, die Arbeit vorbei und bis sechs muss man noch seine Erledigungen geschafft haben, denn später hat ja alles zu und jedes Geschäft geschlossen. Ganz Friedberg scheint mit dem Automobil auf die Kaiserstraße zu streben (…).« Ganz Friedberg mit dem Automobil – der Siegeszug der Technik mündet in eine kollektive Vision der Bewohner des Ortes: »Und so erscheint erstmals gleichzeitig in allen Köpfen an diesem Tag das Wort Ortsumgehung. Wie die Wolken über sich im Wetterauer Blau sehen sie plötzlich das Wort vor sich, als stünde es am Himmel geschrieben. Ein Wahrheitsmoment, und plötzlich ist man sehend. In diesem Augenblick ist es in allen Wetterauern auf der Kaiserstraße still, alles schweigt, alles starrt gebannt auf den nicht vorhandenen Punkt am Wetterauer Himmel.«

Die Szene erinnert an das biblische Motiv des Kometen, der die drei Weisen aus dem Morgenland und die Hirten nach Bethlehem führt, ein religiöser Wahrheitsmoment wird hier zum profanen, indem nur noch die Abwesenheit der religiösen Erweckung zu sehen ist.

In Juli Zehs Unterleuten stehen im Zentrum der Handlung Jule und Gerhard, eine ehemalige Studentin und ihr ehemaliger Soziologieprofessor. Genervt vom Leben in der Stadt ziehen die beiden in ein Haus im brandenburgischen Unterleuten, einem fiktiven Ort, dessen Name andeutet, dass sich die ersehnte Waldeinsamkeit dort nicht finden wird. Auch wenn es zunächst noch so aussieht: »Berlin lag nur eine Stunde entfernt und war doch weiter weg als der Mond. Die Angst, das urbane Leben zu vermissen, geriet bald in Vergessenheit (…). Stattdessen stürzte sich Jule in die Aufgabe, die bröckelnde Idylle in eine blühende Landschaft zu verwandeln.«

Man wird stutzig bei der Formulierung »weiter weg als der Mond«. Mag es in Deutschland auch sehr dünn besiedelte Gebiete geben, sind sie doch noch immer an Straßen- und Bahnnetze angebunden. Juli Zeh setzt auf drastische Gegenüberstellungen von Stadt und Land, die oft ins Klischeehafte rutschen: »Gemeinsam konnten sie tun, wovon andere nur träumten: die Dinge hinter sich lassen, statt an ihnen zu verzweifeln. Und eine große Summe von Dingen – das war die Stadt.« Wenngleich man es mit »innerer Figurenrede« zu tun hat, wirkt es doch unglaubwürdig, wie die Autorin zwei akademisch sozialisierte Menschen den Landlust-Traum gar so ungebrochen träumen lässt. Hart auf hart geht es weiter im Text: Auf dem Nachbargrundstück setzt sich ein Automechaniker und Schrottplatzbetreiber fest, der Lust daran hat, das Paar zu belästigen durch Verbrennen von Unrat, durch Lärm, durch unverschämte Blicke. Als Dorfbewohner unterhält er Beziehungen zur Polizei, sodass Jule und ihr Mann ihm ausgeliefert sind. Als in Unterleuten ein Windpark errichtet werden soll, gerät das Dorfgefüge komplett ins Wanken.

Man kann den Roman für die Komplexität des Figurengefüges loben, auch dafür, dass der Interessenkonflikt zwischen dem Paar und dem Nachbarn auf die anderen Dorfbewohner ausgeweitet wird, einen westdeutschen Grundstücksspekulanten und die Betreiberfirma für Windräder. Doch Zehs Provinzdarstellungen bleiben zweifelhaft: »Unterleuten las keine Zeitungen, sah kaum fern, benutzte das Internet nicht, interessierte sich nicht für Berlin, rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt – aus einem schlichten Grund: weil es die Freiheit liebte.« Sollen Leser/innen wirklich so von der ostdeutschen »Provinz« denken? Auch die Technik erscheint als reine Bedrohung: »Erst jetzt sickerte in Jules Bewusstsein, worum es tatsächlich ging. Sie rief sich den Blick aus dem Küchenfenster vor Augen. Das freundliche Wiegen des Weizens, das milde Licht, die aufgeklappte Allee. Mitten in das leicht ansteigende Feld setzte sie in Gedanken zehn große Windräder. Mit einem Schlag verloren Feld, Wald und Allee ihre Seele. Exit Landschaft, enter Windpark.« Im Vergleich mit den beiden vorgenannten Romanen erscheint der Einbruch des technischen Fortschritts in diesem weit weniger ambivalent, ist eher Fluch als Fluch und Verheißung gleichermaßen.

Die wohl avancierteste Position im Blick auf das Spannungsverhältnis von Stadt und Land, von Urbanität und Provinzialität nimmt unter den hier vorgestellten Romanen Peter Kurzecks Vorabend ein, der seinen erzählerischen Ausgangspunkt im Jahr 1984 hat. Der Roman, fünfter, und durch den Tod Kurzecks 2013 letzter Band der ursprünglich auf zwölf Bände angelegten Chronik Das alte Jahrhundert, spielt in Frankfurt/M. Doch immer wieder gibt es Rückblenden nach Nordhessen, in das Dorf Staufenberg, in dem Peter Kurzeck nach der Flucht der Familie aus Böhmen lebte.

Die Technik wird im Roman häufig personifiziert, unter anderem in einer Szene, in der eine Umgehungsstraße, die sich die Friedberger in Andreas Maiers Roman noch erträumen, hier schon gebaut ist: »Muß 1977 im Frühling, im Vorfrühling. (…) Da hat längst jeder ein Auto. Die Straßen ausgebaut. Schnellstraßen. Neue Autobahnen. Der Gießener Ring. Jedes Dorf hat seinen eigenen Autobahnanschluß (…). Und die Ortsdurchfahrten alle so ausgebaut, daß man im vierten Gang durchfahren kann. Für den Massa extra Wegweiser, eine Abzweigung, eine eigene Zufahrtstraße und Reihen und Reihen von Kundenparkplätzen. Parkplätze wie Sand am Meer, sagen die Leute. Und am Rande des Parkplatzes eine Herde von Baumaschinen. Kräne, Bagger und Straßenwalzen und haben heut frei. Als ob sie hier auf der Weide. Krähen am Himmel. Und ringsum im Feld, auf den Wiesen (wo kürzlich noch Wiesen und Felder waren) auch schon die nächsten Erdlöcher, Gruben und Baustellen. (…) Schon alles berechnet, ausgemessen und abgesteckt – Zukunft, eine Zukunft, die Zukunft.«

Kurzeck anthropomorphisiert die Zivilisation und ihre Werkzeuge. Kräne, Bagger und Straßenwalzen wirken zugleich fremd und vertraut, die Sehnsucht nach einer besseren Welt, die mit falschen Mitteln angestrebt wird, erscheint hier menschlich. Doch finden sich in Vorabend nicht selten auch Blicke aus der Stadt auf das Land, die von einer ähnlichen Sehnsucht sprechen. Die Träume der Stadtbewohner und die der Dorfbewohner laufen in dieser Überlagerung auf das gleiche Ziel zu: Eine Welt, in der ein glücklicheres Leben möglich wäre. Dadurch findet eine Amalgamierung statt, die den herrschenden Verhältnissen in den Peripherien Deutschlands, ob nun denen im städtischen oder im ländlichen Raum, nahekommt. In nicht wenigen großstädtischen Gegenden, geht es »provinziell« zu, wie umgekehrt noch im hintersten Winkel Offenheit erlebbar ist, wenn offene und neugierige Menschen sich unvoreingenommen Neuem zuwenden. Dazu braucht es manches: Bildung und nicht zuletzt auch eine Literatur, die denen in dünner besiedelten Räumen nicht das Etikett »Hinterwäldler« anheftet. Im besten Fall kann die »Provinzliteratur« dazu beitragen, den Blick für diese Problematik zu öffnen und die Perspektiven auf das Verhältnis von Stadt und Land, von Urbanität und Provinzialität zu überdenken.

Peter Kurzeck: Vorabend. Stroemfeld, Frankfurt/M. 2011, 1.022 S., 39,80 €. – Andreas Maier: Das Zimmer. suhrkamp taschenbuch, Berlin 2011, 202 S., 8,99 €. – Robert Seethaler: Ein ganzes Leben. Hanser Berlin, 2014, 160 S., 17,90 €. – Juli Zeh: Unterleuten. Luchterhand Literaturverlag, München 2016, 640 S., 24,99 €.

 

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