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Die Jeanne-Mammen-Retrospektive in der Berlinischen Galerie Erste und letzte Bilder

Gertrud Johanna Louise Mammen, genannt Jeanne, kam 1890 in Berlin zur Welt, als jüngste Tochter einer zuvor in Paris ansässigen, deutsch-niederländischen Kaufmannsfamilie. Die gut gehende Schriftgießerei sicherte gediegenen Wohlstand und den vier Kindern, vor allem auch den drei Mädchen, eine ausgezeichnete Ausbildung, wie sie um 1900 in den Kreisen eines weltstädtisch geprägten, aufgeklärten und fortschrittlichen Bürgertums vielfach selbstverständlich war. Aber das kosmopolitische Flair zog die Eltern zurück nach Frankreich und 1901 übersiedelte die Familie erneut nach Paris. Mit dem Erlös des Berliner Betriebs kaufte sich der Vater als Teilhaber in eine florierende Glasbläserei ein – eine kluge Entscheidung, denn das Kunsthandwerk feierte im Art nouveau (Jugendstil) vor allem in der Glaskunst Triumphe. Sorglos, behütet und umfassend gebildet wuchsen die vier Geschwister in der großen Villa im Stadtteil Passy auf. Von Anfang an war die Neigung der jungen Jeanne zweigeteilt, ihre Liebe galt ebenso der bildenden Kunst wie der Literatur. »Ganze Nächte saß ich mit der Petroleumlampe über französischer Natur. Ich habe mich auf Flaubert und Zola gestürzt, auch viel Daudet zu meinem Vergnügen gelesen«, erinnerte sich noch die greise Künstlerin. Nach dem Abschluss des Lyceums begann sie mit 16 Jahren, zunächst gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Mimi, ein Kunststudium in der Damenklasse der renommierten privaten Académie Julian. Hier wurden vor allem die Grundlagen ihres markanten Zeichenstils gelegt.

Die Sache wird »ernst«

Dann aber verließ sie Ende 1908 die Metropole, in der gerade die junge Avantgarde um Paul Cézanne, Vincent van Gogh – die Kunstbewegung der Nabis und Fauves – Anerkennung fand, um ihre Studien in Brüssel, der Hauptstadt des Symbolismus, an der traditionsreichen, berühmten Kunstakademie fortzusetzen, an der die Frauen bereits in dieser Zeit studieren konnten. James Ensor, René Magritte, Fernand Khnopff und Jan Toorop hatten hier gelernt. Die enge, wechselseitige Verbindung von bildender Kunst und Literatur, die in der symbolistisch-literarischen Gedankenmalerei der belgischen Künstler wie nirgendwo sonst ihren Niederschlag fand und explizit auf der Zeichnung gründete, faszinierte und beflügelte die angehende Künstlerin. Hier an der Académie Royale wurde »die Sache ernst«, der Weg in die Profession begann. »Wir mußten furchtbar arbeiten: von acht Uhr früh bis zehn Uhr abends. Man war den ganzen Tag auf den Beinen: morgens malen, abends zeichnen, nachmittags malen, dazu die ganzen Kurse.« 1909 gewann die stolze Studentin den ersten Preis pour composition, 1910 beendete sie ihr Studium in Brüssel, ein Romaufenthalt mit Studien an der Akademie folgte.

Während dieser Jahre bis 1914 entstand Jeanne Mammens symbolistisches Frühwerk, etwa 50 aquarellierte Bleistift- und Tuschzeichnungen, Illustrationen zu literarischen Vorlagen oder auch historischen Stoffen, oft starkfarbig und symbolhaft dramatisch aufgeladen. Es handelt sich vor allem um Einzelblätter oder kleine Serien. Im Mittelpunkt steht als Hauptwerk der 14 Blatt umfassende Zyklus zu Gustave Flauberts 1874 erschienenen Roman Die Versuchung des heiligen Antonius, ein Thema, das den Dichter nahezu 30 Jahre beschäftigte und nach der Veröffentlichung vor allem die Symbolisten von Gustave Moreau und Fernand Khnopff bis zu Félicien Rops und Odilon Redon zur bildlichen Auseinandersetzung anregte. Jeanne Mammens Zyklus ist als ein »Nachzügler«, in dem sich stilistisch und motivisch alle diese Vorläufer spiegeln, ein originärer Beitrag zur westeuropäischen »Antonius«-Ikonografie. Zwei Bücher hätten sie geprägt, Gustave Flauberts Versuchung und Victor Hugos Roman Die Elenden. Hinzu kam Arthur Rimbaud, dessen bildreiche Sprache sie faszinierte und dessen Prosagedicht Illuminationen sie ins Deutsche übersetzte. Hier im Symbolistisch-Illustrativen liegen die Wurzeln ihres Schaffens, die ihre beiden Hauptthemen begründen: die Darstellung der »kleinen Leute« und die eleganten weiblichen Figuren in ungezählten Variationen. Von diesem Ursprung führt ein von harten Schnitten und existenziellen Zäsuren gekennzeichneter Weg im Leben wie im Schaffen zur letzten Werkphase Jeanne Mammens ab den 60er Jahren, in der sich die poetische Kraft ihres frühen Symbolismus mit dem Ungegenständlichen zu einer geheimnisvoll-luziden Malerei, einer Art »abstraktem Symbolismus«, verschwistert, die in der europäischen Nachkriegsmoderne einzigartig ist.

Es ist ein großer Verdienst der von Annelie Lütgens kuratierten Berliner Ausstellung, dass sie diese Werkgruppe nicht nur umfassend präsentiert und ihr in einem gesonderten Saal viel Raum gibt, sondern im Gegenüber mit den symbolistischen Aquarellzeichnungen den Zusammenklang erstmals auch für das Publikum sinnlich erfahrbar macht. Zwei miteinander verbundene Werkerfindungen bildeten sich um 1960 heraus. Einerseits mit dem »Antonius«-Zyklus korrespondierende farbenprächtige exotisch-folkloristische Gemälde mit abstrahierten Figurinen, die durch eingearbeitetes, buntes Stanniol- und Bonbonpapier von innen zu leuchten scheinen. Andererseits die asketischen Chiffrenbilder, auf denen aus monochromen, undurchdringlich oder durchsichtig wirkenden Bildgründen fremdartige Zeichen wie eine Geheimschrift auftauchen, die sich nicht leicht oder gar nicht entschlüsseln lassen. Mit den Themen »Frau« und »Traum«, »Kreuzigung« oder »Tod« stellte Jeanne Mammen hier eine Verbindung zu den frühen symbolischen Blättern her und kehrte damit im reifen Spätwerk zu den Anfängen zurück.

Leben in einem fremden Land

Den ersten grundlegenden Einschnitt erfuhr das bis dahin weitgehend sorgenfreie Leben der jungen Künstlerin 1914. Denn mit Beginn des Ersten Weltkriegs wurden Deutschland und Frankreich zu Kriegsgegnern und damit viele hier lebende Menschen über Nacht zu feindlichen Ausländern, denen die Internierung drohte. Die Mammens flüchteten in die Niederlande und gingen dann zurück nach Berlin, das Vermögen wurde beschlagnahmt. Das Leben in einem fremden und zunehmend vom Krieg gezeichneten Land war mühsam und entbehrungsreich für die Künstlerin. »Ich kannte keinen Menschen, ich hab geheult wie ein Schloßhund, so scheußlich fand ich es in Deutschland. Ich sprach doch nur französisch«. Gleichwohl war sie, wie sich bald zeigen sollte, zur rechten Zeit am rechten Ort, wenn auch nicht freiwillig und unter äußerst prekären Umständen. Sie hatte eine ausgezeichnete Ausbildung genossen und war eine hervorragende Zeichnerin und genaue Beobachterin. Zudem brachte sie in vielen Skizzenbüchern einen wahren Fundus an schnell gearbeiteten Figurenstudien aus den Pariser und Brüsseler Jahren mit nach Berlin. Vor allem ihre auf der Zeichnung basierenden, sparsam in blassen Farben getuschten Frauendarstellungen erwiesen sich als geradezu ideal für die Wiedergabe in der rasch steigenden Anzahl von Illustrierten, Magazinen, Mode- und Lifestyle-Zeitschriften. Denn mit der relativen Stabilisierung der Weimarer Republik nach dem Ende der Inflationsjahre und der Herausbildung einer wohlhabenden bürgerlichen Mittelschicht wuchs der Hunger nach dem Amüsement in Cafés, Clubs und Nachtbars, nach Freizeitvergnügungen, Modetempeln und Mobilität, der von den einschlägigen Printmedien befriedigt wurde – auch für die Masse der kleinen Angestellten zumindest in Geschichten und Bildern. Das Klischeebild von der emanzipierten, berufstätigen und unabhängigen »neuen Frau« der »Goldenen Zwanziger Jahre« wurde letztlich hier geschaffen. 1916 konnte Jeanne Mammen erstmals vier Illustrationen im Kunstgewerbeblatt platzieren, es folgten Entwürfe für Kinoplakate und ab 1922 zunehmend Aufträge für diverse Zeitschriften, wie etwa Die schöne Frau, Die Dame, Styl, Die Deutsche Elite, Der Junggeselle, auch für Satireblätter wie Jugend, Ulk und Simplicissimus oder Kulturmagazine wie Uhu und Querschnitt. Nach 1925 zählte die Zeichnerin zu den wenigen Künstler/innen, die von ihrer Arbeit gut leben konnten. Das lag zum einen an ihrer Anpassungsfähigkeit, diese Auftragsarbeiten taten ihr nicht weh, vor allem aber lag es an dem Wiedererkennungseffekt, denn Jeanne Mammen kreierte einen bestimmten Berliner Großstadtmenschen, insbesondere Frauentypus, der durch seine halbgeschlossenen oder bis zum Strich reduzierten Katzenaugen einen ganz charakteristischen Ausdruck erhielt und zu ihrem Markenzeichen wurde; lasziv und berechnend, wollüstig oder gelangweilt, melancholisch oder in sich gekehrt. Die Künstlerin wurde berühmt und bis heute verkörpert dieser Stil für viele das typische Gesicht ihrer Zeit, das in keiner der zahlreichen Überblicksschauen zur Weimarer Republik fehlen darf.

Damit aber wurde und wird noch immer das vielgestaltige und facettenreiche Gesamtwerk Jeanne Mammens auf die Dekade der 20er Jahre reduziert und vor allem Früh- und Spätwerk als Marginale ausgeblendet. Dabei sprechen bereits die neben den Auftragsarbeiten und weitgehend im Verborgenen entstandenen großen Porträtzeichnungen, figurativen Aquarellblätter und wenigen Gemälde eine andere Sprache, wie die Ausstellung eindrucksvoll belegt. Nur ein einziges Mal wurden sie Ende 1930 öffentlich in einer Ausstellung in der Berliner Galerie Gurlitt gewürdigt. Der Strich ist hier viel härter, schonungsloser, oft satirisch oder gesellschaftskritisch zugespitzt, auch die Deklassierten, die Armen, Bettler und Huren erhalten ein, immer von Sympathie geprägtes Gesicht. Der von der Galerie Gurlitt 1931 in Auftrag gegebene Zyklus von Farblithografien zu Pierre Louÿs’ Dichtung Die Lieder der Bilitis über die lesbische Liebe konnte nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr erscheinen.

Rückzug ins Wohnatelier

Um 1930 malte Jeanne Mammen zwei, avanciert modisch gekleidete und raffiniert geschminkte junge Frauen mit leeren Gesichtern zusammen mit einer Puppe, unübersehbar eine böse Parodie auf die »neue Frau«. Sie nannte das Aquarell Langweilige Puppen. Vielleicht erschienen sie ihr selbst nur noch langweilig, die immer gleichen stereotypen »Puppen«, mit denen sie mitten in der Weltwirtschaftskrise die oberflächlichen Gazetten bediente. Schneller und anders als vielleicht gedacht, sollte sich der Wunsch nach Veränderung erfüllen. 1974 schrieb sie ebenso knapp wie lakonisch: »Mit Beginn der Hitlerzeit Verbot oder Gleichschaltung aller Zeitschriften, für die ich gearbeitet hatte. Ende meiner ›realistischen‹ Periode, Übergang zu einer den Gegenstand aufbrechenden aggressiven Malweise (als Kontrast zum offiziellen Kunstbetrieb).« Sie zog sich vollkommen zurück in ihr Wohnatelier am Kurfürstendamm, machte sich »unsichtbar«, übernahm Gelegenheitsarbeiten und malte nur noch im Verborgenen. Es entstanden zahlreiche großformatige Gemälde wie Würgeengel und Trompetender Hahn, auf die sie in dem kurzen Lebensbericht anspielt. Die Bilder erinnern in ihrem kubistischen Stil an Pablo Picassos Guernica, das sie tiefbeeindruckt 1937 in Paris sah, und sind wie dieses eindeutig als apokalyptische Antikriegsvisionen und Widerstandsbilder zu verstehen.

Nach 1945 nahm Jeanne Mammen wieder rege am erwachenden Kulturleben teil, ließ sich vom Aufbruch der Nachkriegsavantgarde inspirieren und experimentierte wie diese mit Form und Material in unterschiedlichen abstrakten Ausprägungen. Angeregt von Henry Moore entstanden mehrere Skulpturen. Und wieder zog sie sich zurück in die Abgeschlossenheit des Ateliers, die erbitterten Kämpfe um Abstraktion oder Realismus konnte sie nicht verstehen. So entstand nahezu unbeeinflusst vom Streit um die wahre und freie Kunst ihr einzigartiges Spätwerk, mit dem sich im Schaffen wie im Leben ein Kreis schloss. Ihr letztes großes Chiffrenbild Verheißung des Winters hat sie auf den Tag genau datiert: 6.10.1975. Ein halbes Jahr später starb sie in Berlin.

Die Ausstellung »Jeanne Mammen. Die Beobachterin. Retrospektive 1910–1975« ist noch bis zum 15. Januar 2018 in der Berlinischen Galerie zu sehen. Der Katalog ist bei Hirmer, München erschienen und kostet im Museum 34,80 €.

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