Menü

Die Krise der Berliner Ampel ist durch Stillstand nicht zu lösen Es geht ums Ganze

So viel Bewegung gab es selten. Deutschland ächzt. Die Wirtschaft stagniert, diverse Krisen und vielfältige Belastungen dominieren die öffentliche Wahrnehmung. Auch die Kritik, der Vertrauensentzug und Beschuss der Regierung liegen auf Höchstniveau. Die Regierung regiert zwar und produziert Gesetze in Hülle und Fülle. Zugleich bleiben aber trotz Corona, Krieg, Energiewende, Inflation und nicht enden wollenden Protesten die ambitionierten Initiativen, die durch die Spitzen des politischen Systems angestoßen werden müssen, überschaubar. Dabei sind alle Regierungsparteien bei den zurückliegenden Landtagswahlen in vielfältiger Weise abgestraft worden. Doch sichtbarer, entschlossener Wandel, den die selbsternannte Fortschrittskoalition versprochen hat, bleibt bislang aus.

Die Wähler/innen der SPD ziehen sich still zurück, ohne dass es eine offene Debatte oder gar Initiativen dagegen gibt.

Warum ist das so? Die jeweiligen Problembereiche sind komplex, langfristig angelegt, hoch verrechtlicht und häufig durch auf mehrere Ebenen verteilte Kompetenzen nicht wirklich leicht zugänglich. Das Theater um das sogenannte Heizungsgesetz hat gezeigt, dass diese Regierung nicht in der Lage zu sein scheint, schwierige und tiefgreifende, aber notwendige Reformen unfallfrei auf den Weg zu bringen. Dabei stach vor allem die innerkoalitionäre Konfrontation zwischen der FDP und den Grünen hervor. Eine Partei scheint dabei jedoch besonders in sich zu ruhen: die SPD. Jedenfalls ist sie weniger denn je mit inneren Konflikten und äußerer Kritik konfrontiert. Was für die Sozialdemokratie eine eher seltene Lage ist, verhindert gleichwohl nicht, dass sich die Wähler/innen durch stillen Rückzug davon machen, ohne dass es eine offene Debatte oder gar Initiativen dagegen gibt.

Die SPD führt seit 2021 die Regierung und hat seitdem über zehn Prozentpunkte an Zustimmung eingebüßt. Sie steht für die Zeitenwende und postuliert zugleich, dass alles so bleiben soll wie es ist. Diese paradoxe Konstellation unterfordert die Bevölkerung und überfordert die Regierung. Der Bevölkerung wird suggeriert, dass die Regierung alles dafür tun werde, um sie von den Folgen des extern gedachten Wandels fernzuhalten. Es gibt beispielsweise keine Steuererhöhungen für die Starken und keine zusätzlichen Hilfen für die Schwachen; sondern alles bleibt wie gehabt. Und die Regierung ist überfordert, weil ihre materiellen Ressourcen beschränkt sind, ihre Steuerungsfähigkeit begrenzt und die Zahl ihrer Unterstützer überschaubar. Mit anderen Worten: Diese Regierung produziert selbst eine Konstellation, durch die sie weniger Ressourcen zur Verfügung hat als sie benötigt, um sich einigermaßen erfolgreich mit den großen Herausforderungen befassen zu können.

Bei den zentralen Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen, braucht es gute Übersetzer und Multiplikatoren.

Erschwert wird die Lage zudem dadurch, dass die Parteien, auch die SPD, in ihrer gesellschaftlichen Kommunikationsfähigkeit nur eingeschränkt handlungsfähig sind, vor allem im Hinblick auf die Herausforderung vom rechten Rand. Für diese spezielle Challenge kann sogar von »nur bedingt verteidigungsfähig« gesprochen werden. Das kann man vor allem daran sehen, dass die SPD bei den zentralen Themen, die den Menschen unter den Nägeln brennen – wie Migration, ökologische Transformation und Arbeit – kaum diskursfähig ist und mithin gegenwärtig wenig unterstützend für die Regierung wirken kann. Dabei brauchen die Konsequenzen einer veränderten Einwanderungspolitik, die Untiefen des ökologischen Umbaus sowie die Ansprüche an eine Arbeitsgesellschaft, deren Entwicklung in starkem Maße davon abhängig ist, dass sich möglichst viele Menschen auf Erwerbsarbeit einlassen und sich dort einbringen sowie entwickeln können, gute Übersetzer und Multiplikatoren, die nicht nur senden können, sondern auch mit den Betroffenen diskutieren.

Geringe Diskursfähigkeit und verengte programmatische Perspektive

Das Verhältnis zwischen Regierung und Bevölkerung scheint, nimmt man die schlechten Umfragewerte zum Maßstab, hinreichend gestört. Es sind also Korrekturen notwendig. Diese können sich nicht nur in neuer Semantik, Bildern und unausgegorenen programmatischen Versatzstücken abbilden, sondern vor allem in besseren Entscheidungen und Initiativen. Die Felder, auf denen diese Initiativen in nächster Zeit benötigt werden, sind die Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ohne zusätzliches Geld fehlen die investiven Mittel in der Verteidigungs-, Infrastruktur-, Klima- und Sozialpolitik. Und ohne diese Mittel wird weder die bundesdeutsche Verteidigungsfähigkeit noch die Politik gegen den Klimawandel, für eine verlässliche Infrastruktur und erst recht nicht für eine gute Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gewinnbar sein.

»Die Verbindungen zum traditionellen Arbeitermilieu sind der SPD verlorengegangen.« (Elmar Wiesendahl)

Insbesondere die schwächeren Gruppen, die bei der Bundestagswahl 2021 SPD wählten, haben sich in den letzten zwei Jahren wieder von ihr entfernt. Ein Teil ist sogar ins Lager der AfD gewechselt. Tatsächlich haben wir gegenwärtig hohe Zustimmungswerte bei den Arbeitern für die AfD und die CDU. Beim Blick auf die Mitgliederstruktur der SPD haben wir dieses Phänomen der Vermittelschichtung und Verrentnerung schon lange. Hierzu schreibt der Parteienforscher Elmar Wiesendahl: »Die Verbindungen zum traditionellen Arbeitermilieu als Rekrutierungsbasis der SPD sind verlorengegangen. In einem schleichenden Loslösungs- und Entfremdungsprozess hat sich die Partei sozial zu einer Aufsteiger- und Gehobene-Bildungsschichten-Partei gewandelt.« Ursächlich dafür sind sicherlich nicht nur Milieu- und Bindungsverluste im Zuge des sozioökonomischen Wandels. Schwerwiegender sind die Probleme bei der substanziellen (inhaltliche Positionen) und symbolischen (Ansprache, Emotionen, Glaubwürdigkeit) Repräsentationsstruktur der SPD, die dazu führen, dass sich die ehemalige Kernklientel der »Kleine-Leute-Partei« heute nicht mehr dort zu Hause fühlen.

Manche meinen sogar, dass ihnen mit der auch habituellen Vermittelschichtung der SPD auch das Wir-Gefühl der Klasse abhandengekommen sei und sie sich dann und deshalb auf das Wir-Gefühl der Nation eingelassen hätten.

Schutzmacht der »kleinen Leute«

Auch wenn die SPD keine starke Repräsentanz der Arbeiter- und Unterschichten in ihren Reihen mehr hat, kann und sollte sie weiterhin die Schutzmacht der »kleinen Leute« sein. Das gebietet nicht nur die Tradition, sondern auch ihre Rolle im Parteienwettbewerb; nicht zuletzt mit Blick auf die ökologische Transformation. Durch entsprechende habituelle Brücken lässt sich dies durch substanzielle und symbolische Repräsentation erreichen. Die Programmatik der SPD hat das Potenzial dafür. Jedenfalls war dies im Bundestagswahlkampf 2021 so. Allerdings sind gelegentliche programmatische Fixierungen, ein wenig Mindestlohn und ein Gewerkschaftsrat zu wenig, um den Anschluss an die unteren Schichten herzustellen, wenn nicht zugleich auch deutlich wird, dass die SPD eine Partei der Arbeit ist, die das Thema der sozialen Gerechtigkeit nicht allein auf die Höhe der Transferzahlungen reduziert.

» Es bleibt der Eindruck, die SPD sei primär die Partei der Transferempfänger und zu wenig auf die arbeitende Mitte eingestellt.«

Das Konzept der »Kleinen-Leute-Partei« verbindet sich mit dem Auf- und Ausbau des Sozialstaats, der Teilhabe an der Konsum- und Wohlstandsgesellschaft sowie dem kollektiven Schutz vor Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Altersarmut. Im Kontext der Agenda 2010 sind neben die Verteilungs- auch Ideen der Chancengerechtigkeit gerückt. Damit wurden zugleich marktliche Elemente in der Sozialpolitik eingeführt, die zulasten kollektiver Leistungen eingesetzt wurden. Korrespondierend zur Idee der Kleine-Leute-Partei ist sie die Partei der arbeitenden Mitte. Doch was tut sie in der Regierung dafür? Größter Erfolg der letzten Jahre ist die Erhöhung des Mindestlohns. Das ist aber für die Mehrheit der Menschen in der Mittelschicht kein Thema, da sie weit mehr verdienen. Andere umgesetzte Maßnahmen aus dem Arbeitsministerium scheinen kaum durchzudringen, beziehungsweise sind zu speziell und zu kleinteilig, um wirksam als Partei der Arbeit wahrgenommen zu werden. Auch im Bereich Wohnen, das sich als neue soziale Frage zu etablieren scheint und immer mehr Menschen in der Mittelschicht vor Probleme stellt, wird der Aufbruch durch die ungünstige wirtschaftliche Konstellation (hohe Zinsen, schwerfällige Bürokratie, Fachkräftemangel) kaum sichtbar. So bleibt der medial vermittelte Eindruck, die SPD sei primär die Partei der Transferempfänger; sie sei zu sehr nur auf den Staat fixiert und zu wenig auf die Lebenswelt der arbeitenden Mitte eingestellt.

Im Wahlkampf 2021 hat Scholz mit der Kategorie des Respekts eine Perspektive auf die Agenda gesetzt, die anerkennt, dass jede und jeder unabhängig von der sozialen Herkunft und Stellung und unabhängig von der individuellen Lebensweise einen wichtigen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft leistet. In Kritik der Überbetonung von Meritokratie und unter Bezug auf Michael Sandel fordert er daher eine »Beitragsgerechtigkeit«, was bedeutet, »dass jede und jeder auch den Anspruch hat, dass der eigene Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl anerkannt wird«. Eine Politik des Respekts bedeutet daher für Scholz: »Sie spielt Identitätsfragen, eine Antidiskriminierungspolitik und die soziale Frage nicht gegeneinander aus. Sie ist liberal und sozial. Sie ist konsequent gegen Rassismus und Sexismus. Und sie wendet sich gegen den ›Klassismus‹ in unserer Gesellschaft, die teils subtile, teils offen verhöhnende Verachtung vieler hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger und ihrer Lebensweisen. Daher geht es für mich um Respekt und Anerkennung auf allen Ebenen.«

»Die Bürgerinnen und Bürger fühlen nicht, dass ihnen die Regierung mit Respekt entgegentritt.«

Doch so richtig und wichtig diese programmatische Akzentuierung von Scholz ist, so wenig hat sie Eingang in die intellektuellen Debatten in und um die SPD gefunden noch in die geistige Orientierung der Bundesregierung. Die Bürgerinnen und Bürger fühlen nicht, dass ihnen die Regierung mit Respekt entgegentritt, sondern fühlen sich zunehmend mit den großen Problemen unserer Zeit alleingelassen, während sich die Regierung entweder in Streit und Gezanke oder im Klein-Klein der Verwaltung verliert.

Notwendig wäre stattdessen, dass die Regierung das Signal sendet, dass sie den Normal- und Durchschnittsverdienern, aber auch den Geringverdienern in diesen unsicheren und sich rasant wandelnden Zeiten unter die Arme greift, ihnen das Leben leichter oder zumindest nicht schwerer macht und dass diejenigen, die auf der Gewinnerseite stehen, durch ein gerecht(er)es Steuersystem ihren fairen und leistbaren Anteil tragen. Kurz gesagt, sie muss den »hart arbeitenden Leuten« – wie Scholz vor gut drei Jahren in der FAZ ausgeführt hat – Respekt zollen. Nur dann kann sie von diesen Menschen auch erwarten, dass sie der Regierung folgen und »mitmachen« bei der großen Transformation. Nur dann kann sie erwarten, dass die Menschen in diesem Land noch bereit und motiviert sind, zur Arbeit zu gehen und was zu leisten.

Denn gefordert sind alle, auch die Zivilgesellschaft, die wichtige Aufgaben übernehmen muss, die die Regierung nicht leisten kann. Aber dafür müssen ihr die richtigen Rahmenbedingungen und die materiellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Zeitenwende ohne Zumutungen geht nicht. Diese Zumutungen müssen auf allen Ebenen ansetzen und zugleich bedarf es einer aktiven Absicherung für die Schwachen.

Führung und inhaltliche Orientierung

Letztlich wird es deshalb in der nächsten Etappe der konkreten Regierungspolitik um eine entscheidende Frage gehen: All die notwendigen Dinge, die dringend angegangen werden müssen, kosten Geld. Nach dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichtes und der Weigerung der Regierung, die Schuldenbremse auszusetzen, fehlt ihr aber schlichtweg das Geld, um die Transformation der Wirtschaft zu unterstützen und den Menschen auf dem Weg zur sozialökologischen Marktwirtschaft unter die Arme zu greifen.

Das heißt, entweder erschließt sie neue Einnahmequellen, etwa durch Steuererhöhungen für Wohlhabende und Gutverdiener, oder sie reformiert im Rahmen der Verfassung die Schuldenbremse. Tut sie dies nicht, wird sie die Handlungsfähigkeit zunehmend verlieren. Hinzu kommt: Wenn die Regierung den Vertrauensverlust rückgängig machen will, braucht es Führung und neue inhaltliche Orientierungen, die allen etwas abverlangt.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben