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Die Bedeutung der niederländischen Parlamentswahl für die europäische Sozialdemokratie Es wird kein einfacher Weg

Als die Niederländer am 15. März 2017 zu den Wahlurnen gingen, um die Zusammensetzung eines neuen Parlamentes zu bestimmen, waren die Befürchtungen im Land selbst wie auch in der Europäischen Union groß. Galt diese Wahl doch, neben den Präsidentschaftswahlen in Österreich im Dezember 2016 und in Frankreich im Mai 2017 sowie der Wahl zum Deutschen Bundestag im September dieses Jahres, als eine Art Schicksalswahl für Europa. In den Niederlanden bestand nämlich die durchaus realistische Möglichkeit, dass eine rechtsradikale Partei Regierungsverantwortung erlangt bzw. zumindest ein unerlässlicher Partner für die Regierungsbildung wird. Die zentrale Fragte lautete: Wie würde die Bewegung des Rechtspopulisten, EU-Gegners und Islamhassers Geert Wilders abschneiden? Wilders hatte die PVV (Partij voor de Vrijheid) nach dem für ihn erfolgreichen Kampf gegen die Europäische Verfassung 2005 gegründet und diese schnitt bei den Wahlen zum niederländischen Parlament (Tweede Kamer) wie auch bei den Wahlen zum Europäischen Parlament außerordentlich gut ab. Da die PVV nur Wilders als Mitglied führt, keine Parteitage kennt und die Kandidat/innen von Wilders handverlesen werden, kann übrigens von einer Partei im eigentlichen Sinne nicht die Rede sein.

Die Parlamentswahl 2017 sollte nun den Durchbruch bringen und den Aufstieg mit dem Premierministerposten für Wilders »krönen«. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. Zwar gewann die PVV im Vergleich zu 2012 fünf Sitze hinzu und kam auf 20, musste sich aber abgeschlagenen mit dem zweiten Platz zufriedengeben. Der Gewinner war, trotz deutlicher Verluste, die rechtsliberale VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie) unter dem bisherigen Premierminister Mark Rutte. Starke Zugewinne verzeichneten auch die linksliberalen Democraten 66, die Grünen von GroenLinks sowie die jahrzehntelang dominierenden Christdemokraten vom CDA (Christen Democratisch Appèl), die in den letzten zwei Wahlen allerdings dramatisch verloren hatten. Gedemütigt wurde hingegen die sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA) – sie verlor 29 Sitze gegenüber der Wahl von 2012 und kam nur noch auf neun, erreichte landesweit nur einen Stimmenanteil von ca. 5,7 %.

Da es in den Niederlanden keine Sperrklausel gibt, reicht zum Erzielen eines Parlamentssitzes ein Stimmenanteil von ca. 0,7 %. Eine zunehmende Zersplitterung des niederländischen Parlamentes in Klein- und Kleinstparteien sowie Ein-Themen-Bewegungen sind die Konsequenzen. So finden sich 2017 in der Zweiten Kammer u. a. eine Partei, die vorgibt, die Belange der Senioren zu vertreten, eine Tierschutzpartei, eine nationalkonservativ-intellektuelle Partei sowie eine Partei, die sich als Migrantenpartei versteht. Dazu kommen die traditionell im Parlament vertretenen konservativ- bzw. orthodox-protestantischen Parteien und die ebenfalls relativ starke linkspopulistische Socialistische Partij.

Für das relativ schwache Abschneiden der PVV gibt es offensichtlich zwei Erklärungen: Zum einen hat Wilders, wohl auf Anraten seiner Berater, keinen wirklichen Wahlkampf geführt. Er ist kaum öffentlich aufgetreten und wenn, dann hat er sich nur in seinen Hochburgen gezeigt. Die Taktik war wohl, Wilders einerseits von kritischen Diskussionen fernzuhalten, in denen er mehr als nur Propaganda hätte formulieren müssen, ihm andererseits aber auch den Nimbus des Retters zu geben, der die Niederlande vor den suggerierten Bedrohungen bewahrt und gleichsam aus dem Hintergrund auf die Bühne tritt, um dann die Geschicke des Landes zu leiten und es aus der »Elitenherrschaft« zu befreien. In einem nüchternen und calvinistischen Land wie den Niederlanden konnte eine solche Taktik nicht aufgehen.

Ein zweiter und wahrscheinlich der entscheidende Grund war das sehr eloquente Auftreten Ruttes in den Tagen vor der Wahl gegenüber Ministern der türkischen Regierung. Diese wollten, wie auch in anderen Staaten der EU, für das Verfassungsreferendum Präsident Recep Tayyip Erdoğans werben und die türkischstämmige Community in den Niederlanden mit ihren Auftritten überzeugen. Rutte und seine Regierung aus VVD und PvdA untersagten diese Auftritte und ließen bereits eingereiste Mitglieder der türkischen Regierung zu unerwünschten Personen erklären und zur Ausreise verpflichten. Mal abgesehen davon, ob eine solche Vorgehensweise politisch klug und sinnvoll ist, signalisierte sie den Niederländern aber, dass hier ein starker und unbeugsamer Ministerpräsident am Werk ist, der sich auch von »Provokationen« ausländischer Staaten nicht von seinem Kurs abbringen lässt. Wilders blieb dann im Nachgang auch nur anzuerkennen, dass er nicht anders gehandelt hätte. Viele Wähler/innen haben sich dann für Rutte entschieden – einen eindeutig konservativen Ministerpräsidenten, der aber nicht die radikalen und die für Wilders typisch menschenverachtenden politischen Positionen, z. B. in Bezug auf den Islam, vertritt. Darüber hinaus hat Rutte die Niederlande in den vergangenen fünf Jahren recht stabil und unaufgeregt durch die Wirtschaftskrise geführt. 2017 konnte das Land ein hohes Wirtschaftswachstum und deutlich sinkende Arbeitslosenzahlen vermelden.

Nachdem die Stimmen ausgezählt waren und die Parlamentssitze verteilt, stellte sich die Frage nach der Regierungsbildung. Klar war, dass der bisherige Premierminister Rutte mit seiner VVD als Erster den Auftrag dazu erhalten würde. Als mögliche Partner blieben nach einer ersten Sondierungsrunde nur vier Parteien übrig. Der CDA erklärte sich relativ schnell bereit, in Koalitionsverhandlungen einzutreten, ebenso die linksliberale D66, schwieriger wurde es mit den Grünen. Diese hatten mit ihrem Spitzenkandidaten Jesse Klaver, der als eine Art niederländischer Emmanuel Macron bzw. Justin Trudeau angesehen wird, bei der Wahl mit annähernd 7 % Zuwachs ein starkes Ergebnis erzielt und wollten diesen Erfolg in einem möglichen Kabinett inhaltlich »vergolden«. Weder der VVD noch der CDA waren aber begeistert von der Option, in den nächsten fünf Jahren mit den Grünen regieren zu müssen – D66 hingegen wollten eine zweite eher linksliberale Partei im Kabinett haben um VVD und CDA politisch etwas entgegensetzen zu können. Als die Verhandlungen mit den vier Parteien begannen, wurde relativ schnell klar, dass gerade im Bereich der Flüchtlings- und Asylpolitik nahezu unüberbrückbare Gegensätze zwischen VVD und CDA auf der einen und GroenLinks auf der anderen Seite bestehen. D66 vertritt zwar tendenziell die Position der Grünen in dieser Frage, ist aber flexibler und kompromissbereiter. Nach mehreren Verhandlungsrunden erklärte Klaver, dass eine Einigung in dem so zentralen Thema Flüchtlings- und Asylpolitik mit VVD und CDA auf einer humanitären Basis nicht möglich wäre und deshalb die Koalitionsverhandlungen gescheitert seien.

Der Abbruch der Verhandlungen durch die Grünen war für die anderen drei Parteien nicht nachvollziehbar und löste eine kurzfristige politische Krise aus, da auch die Sozialdemokraten der PvdA eine mögliche Regierungsbeteiligung ablehnten. Nach weiteren Sondierungen kam man zu dem Ergebnis, dass nur die kleine konservative ChristenUnie (Christenunion) mit ihren fünf Sitzen eine tragfähige und verlässliche Regierung sichern könnte. Für diese neue mögliche Vier-Parteien-Konstellation ergaben sich allerdings andere Probleme. Zum einem verfügt diese Konstellation aus VVD, CDA, D66 und CU nur über 76 von 150 Sitzen in der Zweiten Kammer – die denkbar knappste Mehrheit also. Zum anderen gibt es zwischen D66 und CU bei grundlegenden ethisch-moralischen Fragen elementare Unterschiede. D66 ist beispielsweise für eine weitere Liberalisierung der Sterbehilferegelungen und für eine weitgehende Freigabe von weichen Drogen und eine stärkere EU. Die CU hingegen lehnt Sterbehilfe generell ab, ebenso Schwangerschaftsabbrüche und die Legalisierung von Drogen. Außerdem ist sie gemäßigt EU-skeptisch, ohne allerdings rechtspopulistischen Hass auf Brüssel zu schüren. Überhaupt ist die CU eine interessante Partei – zwar kommt sie als Zusammenschluss zweier kleiner protestantischer Parteien aus der calvinistischen Orthodoxie, ist aber z. B. in Fragen der Sozialstaatlichkeit, der Nachhaltigkeit, der Ökologie und des Flüchtlingsschutzes durchaus progressiv und steht den Grünen sowie D66 nahe. Die CU wird zwar schnell als konservativ bezeichnet, dies trifft aber nur bei sozial-ethischen Fragen zu, in globalen Fragen versteht sie sich durchaus als »Bewahrerin der Schöpfung« und »Verteidigerin der christlichen Nächstenliebe«.

Die Koalitionsverhandlungen wurden nicht einfach, zumal der Spitzenkandidat von D66, Alexander Pechthold, zu einem früheren Zeitpunkt eine Zusammenarbeit mit der CU nahezu definitiv ausgeschlossen hatte. Das Vertrauen zwischen den potenziellen künftigen Regierungspartnern musste also erst wachsen. Die Verhandlungen waren mühsam und alle beteiligten Parteien konnten zahlreiche Ziele ihrer Programme nicht durchsetzen.

Nach 209 Verhandlungstagen – der längsten Phase dieser Art in der niederländischen Geschichte – steht nun seit Mitte Oktober 2017 die Regierung aus VVD, CDA, D66 und CU. Premierminister bleibt Mark Rutte.

Und die Sozialdemokratie?

Die Krise der europäischen Sozialdemokratie hat auch die PvdA mit voller Härte getroffen. Vom nahezu gleich starken Regierungspartner degradiert zur sechststärksten Partei mit nur noch neun Sitzen ist sie nahezu in der Bedeutungslosigkeit versunken. In keiner einzigen Kommune ist die PvdA noch stärkste Partei – besonders dramatisch sind ihre Verluste bei den gut situierten und hoch gebildeten Bürger/innen in den großen Städten (Amsterdam, Rotterdam, Utrecht, Groningen) ausgefallen – zumeist zugunsten von D66 oder GroenLinks – und in ihren klassischen Hochburgen im Nordosten der Niederlande, den strukturschwächeren Regionen – in der Regel zugunsten der linkspopulistischen SP oder der rechtsradikalen PVV. Das Wegbrechen der klassischen PvdA-Wählerschaft nach gleich zwei Seiten zeigt das Dilemma, nicht nur der niederländischen Sozialdemokraten. Für die urbanen Schichten mit hoher Bildung und einem positiven Verhältnis zur Globalisierung ist die Sozialdemokratie politisch und intellektuell veraltet, hat keine Konzepte für die Zukunft Europas und der jeweiligen Nation im Kontext der Globalisierung. Themen wie soziale Gerechtigkeit und Umverteilung werden von dieser Wähler/innengruppe nicht als prioritär angesehen. Auf der anderen Seite fühlen sich die ökonomisch marginalisierten Bevölkerungsgruppen durch die Diskurse der Sozialdemokratie in den letzten 20 Jahren, die zur neoliberalen Wende in der Sozial- und Wirtschaftspolitik mit beigetragen haben, nicht mehr repräsentiert. Ihre Ängste vor der Globalisierung, der Europäisierung und der gestiegenen Zahl an Flüchtenden wird zunehmend durch Linkspopulisten und Rechtsradikale aufgenommen und von diesen, mit Hetze oder simplifizierenden Lösungsansätzen, in Stimmen umgemünzt.

Die Ursachen für diesen Vertrauensverlust in die europäische Sozialdemokratie sind sicherlich vielfältig. Klar erkennbar ist jedoch, dass das alte Bündnis aus traditioneller Arbeitnehmerschaft und Bildungseliten an ihr Ende gelangt ist. Die Interessen dieser beiden Wähler/innengruppen passen in einer sich globalisierenden Welt nicht mehr zusammen. Die europäische Sozialdemokratie wird daher um eine grundsätzliche inhaltliche und politische Neubestimmung ihres künftigen Kurses nicht herumkommen. Kleinere inhaltliche Korrekturen oder Änderungen an den innerparteilichen Mitbestimmungsverfahren werden nicht ausreichen. Die zentrale Frage für die Zukunft wird sein, ob die Sozialdemokratie die Globalisierung annimmt und diese – mit Blick auf die Wahrung der Menschenrechte und unter den Aspekten der Nachhaltigkeit, der Friedenssicherung und des Schutzes sozialer Mindeststandards zu gestalten versucht, oder ob sie – wie Teile der europäischen Linksparteien oder auch die Labourpartei unter Jeremy Corbyn in Großbritannien – versucht, den Wähler/innen eine Art national geprägten Sozialstaat mit EU-skeptischen und Anti-Globalisierungsvorstellungen zu verkaufen. Der zweite Weg würde die Sozialdemokratie in Europa allerdings weiter marginalisieren und zwischen den Parteien des Hassbürgertums der radikalen Rechten und der Demagogie der populistischen Linken zerreiben. Sicher geht es um Chancen für alle Menschen, um eine gerechtere Gesellschaftsordnung. Diese aber im Zeitalter der Globalisierung national zu denken und dem Internationalismus aufgrund der Wahlerfolge irrlichtender und gefährlicher Demagogen à la Wilders und AfD abzuschwören bzw. abschwören zu wollen, hilft weder den ökonomisch benachteiligen Gesellschaftsschichten in der EU, noch wird ein solcher Rückzug in die vordergründige Heimeligkeit des nationalen Wohlfahrtsstaates die Globalisierung aufhalten. Für eine glaubwürdige und mehrheitsfähige Sozialdemokratie wäre daher eine Europäisierung ihres Denkens in nahezu allen Bereichen notwendig sowie – davon ausgehend – der Versuch, die Globalisierung im Rahmen eines starken und geeinten Europas im sozialdemokratischen Sinne zu gestalten.

Dies wird kein einfacher Weg und er bedeutet den Bruch mit zahlreichen sozialdemokratischen Traditionen, allerdings ist die Alternative eine weitere Fragmentierung und Schwächung sozialdemokratischer Ideale und Ideen im nationalen, europäischen und globalen Kontext.

Dass sozialdemokratische Politik und ein die Globalisierung gestaltendes Denken hervorragend miteinander kombinierbar sind, hat übrigens nicht nur Willy Brandt in den 70er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland gezeigt, sondern am Ende desselben Jahrzehnts auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Joop den Uyl in den Niederlanden. Dieser bildete eine progressive Regierungskoalition, die neben dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates auch klare positive Positionen in Bezug auf Entwicklung, Frieden, Europa und Nachhaltigkeit beinhaltete.

Sicherlich sind die Politikansätze von Brandt und den Uyl nicht eins zu eins in die heutige Zeit übertragbar, aber sie zeigen, dass es eine Alternative zur neoliberalen und entfesselten Globalisierung einerseits und einem Rückzug in nationale Wohlfahrtsstaatsfantasien andererseits gibt.

Die europäische Sozialdemokratie wird um diese grundsätzliche Debatte einer inhaltlichen und politischen Neuausrichtung nicht herumkommen – je früher sie diese führt, desto glaubwürdiger kann sie auf nationaler und europäischer Ebene gestaltend einwirken. Die europäische Sozialdemokratie sollte in diesem Kontext, bei allen notwendigen Kritikpunkten, die Wahl Emmanuel Macrons zum französischen Präsidenten als Zeichen des Aufbruchs sehen. Sie sollte seinen europäischen Elan und seine Bereitschaft, im globalen Kontext statt in der Begrenztheit des Nationalen zu denken, aufgreifen und als Ansporn für ihre künftige politische Ausrichtung begreifen.

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